In der Lesung aus der Apostelgeschichte
haben wir vorhin das Pfingstereignis gehört, wie es jedem von uns wohl bekannt
ist.
Vor ein paar Tagen bin ich auf eine
andere Pfingsterzählung gestoßen, eine Anti-Pfingstgeschichte. Ich möchte sie
Ihnen gern vorlesen. Solch eine Gegen-Geschichte kann nämlich helfen, Vertrautes
und Gewohntes einmal anders zu sehen und so das Eigentliche, das, worum es geht,
neu aufleuchten zu lassen. Die Gegen-Geschichte trägt den Titel: „Und es blieb alles beim alten.“
Als der Pfingsttag gekommen war,
befanden sich alle am gleichen Ort. Es war ein strahlender Tag. Am Himmel regte
sich kein Lüftchen. Die Jünger freuten sich über das Beisammensein. Es
störte sie keiner. Sie tauschten alte Erinnerungen aus an Jesus von Nazareth.
Die Fenster öffneten sie nur gelegentlich, um ein wenig zu lüften. In den
Straßen der Stadt tummelten sich Leute aus aller Herren Länder. Die Jünger
ließen sich dadurch nicht stören. Petrus sagte: „Liebe Freunde,
inzwischen haben wir es verkraftet, dass unser Freund Jesus nicht mehr bei uns
ist. Die Juden haben sich wieder beruhigt. Und so haben wir unsere Ruhe. Von
Zeit zu Zeit können wir uns ja noch treffen, um das Andenken an Jesus in Ehren
zu halten. Im Übrigen aber soll alles beim alten bleiben.“ Die Jünger
trafen sich noch gelegentlich. Doch allmählich kamen immer weniger zu den
Treffen. Mit den Jahren starben sie. So ging die Sache Jesu und die Erinnerung
an ihn zu Ende.
Eine traurige Geschichte, nicht wahr?
Gott sei Dank war es nicht so am ersten
Pfingstfest.
Pfingsten
war aufregend, nicht langweilig. Da herrschte Aufbruchstimmung, nicht
Resignation. Aus Stillstand wurde Bewegung. Trauer wandelte sich in Freude,
Resignation in Hoffnung, Pessimismus in Optimismus, Lethargie in Begeisterung.
Pfingsten, das ist der Umschwung von
der Sammlung zur Sendung, vom Sich-Einigeln und Abkapseln zum Sich-Öffnen und
Hinausgehen zu allen Völkern. Statt Enge Weite, statt Verzagen Wagen. Aus Angst
wird Freimut, aus Menschenfurcht erwächst Bekennermut und Glaubenskraft. Ein
auffallend starkes missionarisches Bewusstsein prägte die junge Kirche.
Pfingsten, das ist nicht nur die
Herabkunft
des Heiligen Geistes, das ist auch – und ganz besonders – das Wirken des Heiligen
Geistes.
Der Funke springt über. Menschen sind Feuer und
Flamme für Jesus Christus. Sie bekennen sich zu ihrem Glauben. Sie stehen ein
für ihren Glauben. 3000 lassen sich am Pfingsttag taufen. Sie geben ihrem Leben
eine neue Richtung. Sie finden Sinn und Ziel und Heimat in der Gemeinschaft von
Brüdern und Schwestern.
Und wie geht es uns heute, am Pfingstfest 2010?
Sind wir innerlich nicht näher an der traurigen
Anti-Pfingstgeschichte als an der Erzählung der Apostelgeschichte?
Viele sind mutlos geworden an der Kirche. Viele
leiden an der Kirche. Was in den letzten Wochen und Monaten geschehen ist,
aufgedeckt wurde und hochkam, ist erschütternd, beschämend und deprimierend. Die
Kirche ist in eine schwere Krise geraten. Die Glaubwürdigkeit hat schwer
gelitten. Ein großer Vertrauensverlust geht damit einher.
Schmerz und Enttäuschung ist über viele gekommen,
die mit der Kirche fühlen. Ratlosigkeit, Resignation, Lähmung macht sich breit.
Ist die Kirche – zumindest in unseren
Breitengraden – nicht auf dem absteigenden Ast? Geht nicht alles immer mehr den
Bach hinunter? Ist Gottes Geist ausgewandert aus der Gemeinschaft der
Glaubenden?
Und wir,
die wir der Kirche – trotz aller Übel und Vergehen, trotz auch aller klerikalen
Sünden - nicht den Rücken gekehrt haben, sondern geblieben sind und auch heute
da sind und miteinander Pfingsten feiern, Gottesdienst feiern:
Was gibt uns Mut? Was lässt uns hoffen und
vertrauen? Setzen wir noch auf die Kraft des Heiligen Geistes? Glauben wir, dass
Gottes Geist läutern, reinigen, heilen kann, dass er aus Erstarrung befreien und
aufrichten kann, dass er neu Freude am Glauben schenken und einen neuen Anfang
bewirken kann? Aus uns allein vermögen wir es nicht. Wir müssen darum beten. Für
Gott aber ist nichts unmöglich.
Ich bin überzeugt: Alles, was geschieht
hat einen Sinn. Wer weiß, was Gott mit uns vor hat? Vielleicht lässt Gott auch
diese Prüfung zu, damit wir zur Einsicht kommen, damit wir umkehren, wieder mehr
seine Gebote befolgen und ernsthaft seinen Willen tun. Eine Krise, so
schmerzhaft sie ist, kann immer auch eine Chance sein.
Im Tagesgebet der Kirche heißt es heute:
„Was deine Liebe am Anfang der Kirche bewirkt hat, das
wirke sie auch heute in den Herzen aller, die an dich glauben.“
Das Gebet schlägt einen Bogen von
damals, vom Beginn der Kirche, bis in unsere Zeit. Haben wir den Heiligen Geist heute
nicht nötiger denn je? Brauchen wir ihn nicht dringender als je zuvor?
Veni sancte spiritus!
Komm, heiliger Geist, erfülle uns, durchdringe uns, belebe uns, beseele uns!
Komm und schaff uns neu! Komm, du Kraft von oben!
Doch wo beginnen?
Erneuerung beginnt nicht irgendwo, nicht
anderswo, auch nicht bei denen da oben. Umkehr und Erneuerung, Heiligung und
Heilung beginnt bei uns, in uns selbst. Nur Ergriffene ergreifen. Nur von
Verwandelten können Verwandlungen ausgehen.
Mir gefällt das Gebet eines chinesischen
Christen. Es lautet:
„Herr, erwecke deine Kirche und fange bei mir an!
Herr. baue deine Gemeinde und fange bei mir an!“ Herr, lass Frieden überall auf
Erden kommen und fange bei mir an! Herr, bring deine Liebe und Wahrheit zu allen
Menschen und fange bei mir an!“
Es braucht unser Mittun, unsere Bereitschaft.
Über unsere Köpfe hinweg tut Gott nichts. Absolut nichts. Es braucht unser
Wollen. Es braucht unsere Offenheit: Er will unsere Zustimmung. Gott handelt
nicht ohne uns und schon gar nicht gegen uns.
Pfingsten 2010 lädt uns ein zur Besinnung.
Sind wir bereit, trotz aller
Widerwärtigkeiten und Missstände in der Kirche, trotz aller Affären und
Skandalen dem Geist Gottes Heiligung und Heilung, Wandlung und Befreiung
zuzutrauen?
Glauben wir, dass Gottes Geist in der
Kirche lebendig ist und auch in jedem von uns, dass er uns erfüllt mit seiner
Liebe?
Glauben wir, dass er in uns und seiner
Kirche das bewirken kann, was er am Anfang, am Pfingstfest, am Geburtsfest der
Kirche, bewirkt hat: Glaubensglut und Glaubensmut, Entschiedenheit und
Zeugniskraft, Hoffnung und Zuversicht, Freude und Treue, Treue zur Botschaft
Jesu Christi, Treue auch zur Gemeinschaft der Kirche?
Ja, auch zur Gemeinschaft der Kirche,
denn ohne sie hätten wir den Pfingsttag längst vergessen. Ohne sie wäre die
Kraft des Geistes nicht auf uns gekommen. Ohne sie wäre das Evangelium nicht
lebendig geblieben in der Welt. Ohne sie wäre über die „Sache Jesu“
längst Gras gewachsen.
Eine staubige Pilgerin ist sie, die
Kirche, das ist wahr. Nicht nur eine Kirche der Heiligen, sondern auch der
Sünder. Aber in ihrem Herzen trägt sie unzerstörbar die Verheißung des Himmels.
Und noch etwas:
Jesu Wort gilt auch heute:
„Die Pforten der Hölle (alles Böse der Welt, alle Übel auch im innern, alle
Verfehlungen selbst der Hirten, von denen man es am wenigsten erwarten würde)
werden sie nicht überwältigen.“ Und vor allem gilt Jesu Wort: „Ich
bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“
Das ist für mich Trost. Das ist für mich
Hoffnung!
Wer sich dem Geist öffnet, wer sich von ihm
leiten lässt, wer auf Jesus schaut, auf sein Wort hört und ihm folgt, der ist
nicht blind für die Missstände, er wird nicht wegsehen, er wird auch nicht
verharmlosen. Aber er wird nicht nur Schimpfen, Kritisieren und Lamentieren, er
wird nicht beim Jammern und Klagen stehen bleiben, sondern seine Hoffnung und
sein Vertrauen auf Gott setzen.
„Wo ist euer Glaube?“
fragt Jesus die Jünger auf dem sturmgepeitschten See. „Warum habt ihr solche Angst? Ihr Kleingläubigen!“
Der Herr ist bei uns. Der heilige Geist lebt und
betet in uns. Er führt die Kirche – auch in Not und Bedrängnis – sicher durch
die Zeiten hin zur Vollendung.
Habt keine Angst! Wir sind nicht allein.
„Gott
ist mit uns (auch mit seiner Kirche) am Abend und am Morgen und ganz gewiss an
jedem neuen Tag.“ (Dietrich Bonhoeffer).
„Wir können dem Leben trauen, weil wir es nicht allein zu leben haben, sondern
weil Gott es mit uns lebt.“
(Alfred Delp)
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