Ein Kind, das eben zur Welt
gekommen ist, ist immer ein Geheimnis. Niemand weiß, was ihm in die Wiege gelegt
ist, welche Anlagen, welche Intelligenz, welche Behinderungen. Die Abstammung
spielt für die spätere Entwicklung sicher eine Rolle, aber nicht die einzige.
Gerade auch aus einfachen und bescheidenen Verhältnissen kommen oft große
Geister, bedeutende Politiker oder hervorragende Wissenschaftler und umgekehrt.
Für den kleinen Thomas waren die Voraussetzungen
günstig. Er stammte aus dem mächtigen Geschlecht der Grafen von Aquino, nah
verwandt mit dem staufischen Kaiserhaus. Die adeligen Eltern des kleinen Thomas
hatten große Pläne mit ihrem Sohn. Schon mit fünf Jahren gaben sie ihn in die
Obhut der Benediktiner von Monte Cassino. Bildung war oberstes Prinzip. Dem kam
von Seiten des Kindes eine hervorragende Begabung entgegen. Thomas enttäuschte
seine Eltern nicht. Er lernte schnell und begriff leicht. Bereits mit elf Jahren
konnten seine Lehrer in Monte Cassino ihm das Reifezeugnis ausstellen.
Daraufhin bezog Thomas die Universität von Neapel
und studierte die freien Künste. Seine Eltern – Thomas war für den geistlichen
Stand bestimmt – hielten bezieht Ausschau nach einer Abtei, deren Abt ihr Sohn
werden konnte. Während dessen lernte Thomas in Neapel den damals aufblühenden
Predigerorden kennen und trug sich mit dem Gedanken, bei den Dominikanern um
Aufnahme zu bitten. Für die Eltern war das kaum fassbar, ja unvorstellbar:
Thomas, der Sohn des Grafen von Aquino Bettelmönch? Man setzte alle Hebel in
Bewegung, um das zu verhindern. Doch Thomas blieb bei seinem Vorhaben und trat
bei den Dominikanern ein. Die ganze Familie derer von Aquin war entrüstet. Mit
allen Mitteln versuchte man Thomas zur Vernunft zu bringen. Es nützte nichts. Da
wurde Thomas, als er auf dem Weg zum Weiterstudium nach Paris war, von seinen
Brüdern abgefangen, entführt (gekidnappt) und in Arrest gesteckt. Ein Jahr war
er auf einer Burg eingesperrt und gefangen gehalten. Man wollte ihn zwingen,
sein Ordenskleid abzulegen und seine Absicht aufzugeben. Doch Thomas war von
seiner Entscheidung nicht abzubringen. Sein Wille blieb ungebrochen. Schließlich
gaben sich die Eltern geschlagen und Thomas konnte Dominikaner werden.
Wieder auf freiem Fuß, zog Thomas nach Paris. Der
Schwabe Albert von Lauingen, später Albertus Magnus, Albert der Große genannt,
wurde sein Lehrmeister. Mit ihm, dem wohl berühmtesten Lehrer der damaligen
Zeit, ging er für vier weitere Jahre nach Köln.
Der durchdringende Verstand des Thomas von Aquin war gepaart mit
großer Schweigsamkeit. Seine Mitstudenten nannten ihn deshalb den „stummen
Ochsen“. Als Albert der Große von diesem Spitznamen erfuhr, rügte er die
Spötter mit der Bemerkung: „Dieser Ochse wird mit
seinem Brüllen die Welt noch erschüttern.“
Bald nach seiner Priesterweihe übernahm
Thomas die Lehrtätigkeit seines Meisters. Zusammen mit dem Franziskanertheologen
Bonaventura wurde er Professor an der Sorbonne in Paris.
König Ludwig IX. war ein großer
Förderer der Bettelorden. Mehrfach wurde Thomas zur königlichen Tafel
eingeladen. Nur einmal fiel der schweigsame Mönch auf, als er beim Nachtisch auf
den Tisch schlug und triumphierend ausrief: „Jetzt habe ich es!“ Auf die
Frage, was er denn habe, gab er zur Antwort: „Jetzt ist
mir gerade ein schlagendes Argument gegen die Irrlehre der Manichäer
eingefallen.“
Unentwegt studierte Thomas von Aquin.
Sein enormes Wissen, seine Vertrautheit mit der philosophischen Gedankenwelt
seiner Zeit, seine Kenntnis der Heiligen Schrift waren unvergleichlich.
Er schrieb viele umfangreiche Werke wie die
„Summa contra gentiles“ und die überragende und bisher unübertroffene „Summa theologica“, die wegen der universalen Schau der Dinge heute noch von
Bedeutung ist.
Mehr als 30 Folianten sind im Laufe
seines nur 49 Jahre währenden Lebens entstanden. Er hat so konzentriert
gearbeitet, dass er drei Sekretären gleichzeitig diktieren konnte. In der
Fortführung des Werkes seines Lehrers Albert suchte er die Aristotelische
Philosophie für das christliche Lehrgebäude zu nutzen. Thomas war der größte
Aristoteleskenner und –interpret des Mittelalters. Es konnte nicht ausbleiben,
dass er der Häresie bezichtigt wurde. Doch alle Verdächtigungen und Angriffe
aber konnten überzeugend widerlegt werden.
Bei aller Gelehrsamkeit blieb Thomas
immer bescheiden und freundlich – ein tieffrommer Mönch. Seine wichtigsten
Charaktereigenschaften waren seine übergroße Sorgfalt in allem, was er tat,
sowie sein immerwährendes Streben nach Wahrheit.
Mit ganzer Hingabe und in der Kraft
seines überragenden Geistes hat er das dominikanische Ordensideal verwirklicht,
nämlich: An andere weitergeben, was man durch Betrachtung und Studieren gelernt
hat (Contemplata aliis tradere). So verdanken ihm alle, die sich
mit theologischen Fragen befassen, den klärenden und zur Bescheidenheit
mahnenden Satz: „Gott bleibt uns allezeit verborgen –
er übersteigt jeden Gedanken, den wir über ihn zu denken vermögen.“
Mitten in der Arbeit der fast
vollendeten summa theologica legte er die Feder aus der Hand. Er wurde nach dem
Grund gefragt und erklärte, dass ihm alles, was er bisher geschrieben habe, im
Vergleich zu dem, was er in Augenblicken mystischer Entrückung über göttliche
Dinge erkannt habe, wie Spreu vorkomme.
Sein theologisches Denken kam ganz aus
der Tiefe echter, innerer Frömmigkeit, aus der Glut inniger Gottesliebe, aus dem
Geist Gottes, in den er sich immer mehr hineinversenkte.
Thomas wollte nicht hoch hinaus,
er wollte nicht mit seinem eigenen Denken brillieren und sich einen großen Namen
machen. Er blieb demütig und zurückgezogen.
Thomas von Aquin war ein begnadeter
Mystiker, der nach innen hörte und der Stimme Gottes lauschte. Niemals diktierte
oder schrieb er, ohne vorher lange gebetet zu haben.
Die Päpste schätzten seinen Rat.
Mehrfach wurde er gebeten, einen Bischofsstuhl zu übernehmen oder als Kardinal
den Papst bei der Leitung der Kirche zu unterstützen. Thomas freilich zog seine
stille Zelle und das Gleichmaß des Ordenslebens einer solch einflussreichen
Stellung vor.
Dass der scharfe Denker auch dichterische
Fähigkeiten besaß, offenbarte sich, als er auf Wunsch des Papstes die Texte
für das Fronleichnamsfest verfasste, das zu dieser Zeit eingeführt wurde.
Das Lauda Sion (Lobe, Sion, deinen Hirten), das Pange linqua (Preise, Zunge, das
Geheimnis) und wahrscheinlich auch das Adoro te devote (Gottheit tief verborgen)
stammen von ihm.
Wunderbare hymnische Verherrlichungen der heiligen
Eucharistie.
Sie haben die Frömmigkeit vieler Christen durch
Generationen geprägt und werden auch heute noch gern gesungen werden.
So hat dieser hochbegabte und doch so schlichte
Dominikanermönch auch in der Liturgie der Kirche unvergängliche Spuren seiner
tiefen Frömmigkeit und seines vielseitigen Schaffens hinterlassen.
Vom Papst Gregor X. als Berater 1274 zum
Unionskonzil von Lyon berufen, machte er sich – bereits kränkelnd – auf den Weg,
aber erreichte sein Ziel nicht mehr. Er erkrankte schwer. Dem Tode nahe brachte
man ihn in das Zisterzienserkloster von Fossanuova.
Ergreifend ist der Bericht, wie Thomas sich auf das Sterben
vorbereitete. Er ließ sich das Hohe Lied des Salomo
vorlesen und erbat die heilige Kommunion. Als der Priester die Zelle des Kranken
betrat, erhob er sich von seinem Lager, kniete nieder und empfing in tiefster
Ehrfurcht den Leib des Herrn. Er betete:
„Ich empfange dich für meine Pilgerfahrt. Aus
Liebe zu dir habe ich studiert, gewacht, gebetet und gelehrt. Wenn ich
unwissentlich etwas gegen dich gesagt haben sollte, dann bin ich nicht
hartnäckig in meinem Sinn; wenn ich etwas falsch gesagt habe, so überlasse ich
es der Verbesserung durch die römische Kirche.“
Seine letzte Beichte war nach Aussagen
seines Beichtvaters so aufrichtig, so demütig und so ergeben wie die eines
Kindes. Sterbend bekannte er noch einmal seinen Glauben und verschied am frühen
Morgen des 7. März 1274.
Als Thomas bereits im
Sterben lag, hat ein Mitbruder in gefragt: „Was
soll man tun, um heilig zu werden?“
Thomas soll sofort und ganz
spontan geantwortet haben:
„Immer in der Gegenwart
Gottes wandeln.“
In der Tat,
es gibt wohl kaum eine bessere Übung, um auf dem Weg mit Gott und zu Gott zu
bleiben, keine bessere Übung, um gottverbunden zu leben als den Wandel in der
Gegenwart Gottes. Üben, in der Gegenwart Gottes zu leben, ist wohl etwas vom
wichtigsten für jeden, der ein geistliches Leben führen möchte.
Ein anderes Wort des heiligen Thomas von Aquin lautet:
„Heiligkeit besteht nicht darin, viel zu wissen.
Das ganze Geheimnis der Heiligkeit ist: viel zu
lieben.“
Der Kirchenhistoriker J. Lortz sagt über Thomas
von Aquin:
„Er ist der gelehrteste unter den
Heiligen und der heiligste unter den Gelehrten... Sein Studieren und Schreiben
war Gottesdienst.“
Eine Legende drückt sehr schön sein innerstes
Wesen aus:
In einer Vision sprach Christus zu ihm:
„Du
hast gut über mich geschrieben“. Und Jesus bot ihm zum Lohn alles, was er
sich aus der Fülle der ganzen Schöpfung wünschte. Darauf gab Thomas zur Antwort:
„Nur dich begehre ich.“ Es erinnert an das „Solo dios basta“ der hl.
Theresia von Avila. „Gott nur genügt.“ – Nur dich begehre ich.
Dazu passt ganz gut folgender Rat des heiligen Thomas:
„Wenn du fragst, auf welchem Weg du gehen sollst,
so nimm Christus; denn er ist der Weg. Geh auf ihm.
Wenn du fragst, wohin du gehen sollst, so halte
dich an Christus; denn er ist die Wahrheit, nach der wir verlangen.
Wenn du fragst, wo du bleiben sollst, so halte
dich an Christus; denn er ist das Leben. Halte dich an ihn, wenn du sicher sein
willst. – Wer das tut, geht auf dem rechten Weg.“
Die Nachwelt hat Thomas von Aquin den Beinamen gegeben:
„doctor angelicus“ – „der engelgleiche Lehrer“ |