Einer der schönsten Flecken unseres
Nachbarlandes jenseits des Rheins ist für mich der Odilienberg, der
„heilige Berg“ des Elsaß, der etwas südlich von Straßburg aus der
Rheinebene aufragt.
Der Odilienberg hat bis heute eine
ungeheure Anziehungskraft.
Er ist ein beliebter und viel besuchter
Wallfahrtsort. Bis zu zwei Millionen Wallfahrer und
andere Gäste suchen
jährlich diesen Berg auf. An schönen Sommertagen ist der Andrang der
Touristen und Pilger besonders groß.
Bekannt ist der Odilienberg für seinen
großartigen Rundblick.
Wenn das Wetter mitspielt hat man eine
ausgezeichnete Sicht.
Der Blick geht weit über die elsässischen
Weinberge zum Straßburger Münster und reicht bis in die
gegenüberliegenden Schwarzwaldtäler hinein. Westwärts schweift der Blick
über die vielen Höhenzüge und Bergrücken der endlos scheinenden
Vogesenwälder.
Auf dem Odilienberg kann man vieles
hinter sich lassen – auch wenn es nur für ein paar Stunden ist, den Kopf
frei bekommen und erfahren, wie hilfreich es sein kann, manches mit
Abstand anzuschauen und aus einer anderen Perspektive zu sehen.
Was im Alltag groß und wichtig erscheint,
wird oben auf dem Berg – aus der Distanz betrachtet – nichtig und klein.
Viele Pilger tragen aber auch ihr
Päckchen mit hinauf.
Unter jedem Dach gibt es ja bekanntlich
ein Ach!
Sie kommen den „heiligen Berg“
hinauf, weil sie auf die Hilfe der heiligen Odilia hoffen und auf ihre
Fürbitte bei Gott vertrauen. Sie tragen hinauf, was sie ängstigt und
quält. Sie kommen mit ihren Sorgen und Nöten, mit ihrem Mühen und
Ringen, mit ihrem Hoffen und Bangen.
Alles, was ihr Leben ausmacht, auch
alles, was das Leben schwer macht, bringen sie der heiligen Odilia und
übergeben es ihr voll Hoffnung und Vertrauen. Letztlich ist es ein
vertrauensvolles Loslassen und Abgeben all der Dinge, die wir meinen
leisten, meistern, organisieren, managen und in den Griff kriegen zu
müssen, wobei wir doch so oft an unsere Grenzen stoßen, unsere Ohnmacht
erfahren und Schwachheit, Scheitern und Enttäuschung erleben.
All dies durch die heilige Odilia in die
Hände Gottes legen, alles IHM anvertrauen, dass ER sorgt und lenkt und
zum Guten wendet.
Das erleichtert und befreit. Es macht
gelassen und zuversichtlich.
Viele haben schon auf dem Odilienberg
Hilfe und Trost gefunden. Und sie verlassen den Berg wieder neu
gestärkt, erfüllt mit neuer Kraft und frohem Mut.
Und nicht wenige gehen auch den Berg
hinauf um zu danken für Erhörung in Krankheit, Ausweglosigkeit, in Not
und Gefahr, zu danken für spürbare Hilfe in Sorgen und Schmerz, in
Unglück und Leid.
Liebe Schwestern und Brüder!
Wer auf den Odilienberg kommt, findet in
der Wallfahrtskirche zu jeder Tageszeit und zu jeder Jahreszeit betende
Menschen vor dem ausgesetzten Allerheiligsten. Die katholischen
Gemeinden des Elsaß wechseln sich bei dieser „ewigen Anbetung“ in
ihrem Nationalheiligtum ab.
Der Odilienberg ist diesbezüglich das
Vorbild für den Lindenberg bei St. Peter im Schwarzwald, wo
ununterbrochen Tag und Nacht Männer der Erzdiözese Freiburg „ewige
Anbetung“ halten und die Gegenwart Christi im allerheiligsten
Sakrament des Altares verehren.
In meinen Augen sind diese Gebetswachen
ein ganz wichtiger Dienst. Vielleicht sähe es in unserer Welt, in der
großen der Gesellschaft und Politik noch ganz anders aus, wenn es diese
Stätten des Gebetes nicht gäbe, aber auch in unserer kleinen Welt der
Gemeinden, der Familien und Betriebe.
Solche Stätten des Gebetes und der
Anbetung sind meines Erachtens ein großer Segen. Es sind Kraftorte, von
denen Licht und Frieden hinausstrahlt in die Welt.
Ich bin überzeugt: Inständiges,
vertrauensvolles Beten bewegt und verändert die Welt mehr als die
Großen, die Schaffer und Macher meinen, ahnen oder sich vorstellen
können.
Das Gebet ist eine große Macht.
„Bittet und es wird euch gegeben“, sagt Jesus, „klopft an und es
wird euch aufgetan!“
Liebe Schwestern und Brüder!
Odilia selbst war zweifelsohne eine Frau
des Gebetes.
Weil ihr Vater sie, die blindgeborene
Tochter nicht wollte, sondern sie ablehnte, ja sogar umbringen lassen
wollte, kam sie als kleines Kind in ein Kloster bei Besacon. Dort befand
sich Odilia nicht nur in Sicherheit, sondern war auch angenommen und
erfuhr eine klösterliche Erziehung.
Odilia hat von Kindesbeinen an das
Vorbild der Ordensschwestern erlebt. Sie hat täglich erlebt, wie sich
die Nonnen mehrmals am Tag – vielleicht sogar um Mitternacht – zum
Chorgebet versammelt haben. Der Tagesablauf im Kloster hat ja seinen
Rhythmus durch die gemeinsamen Gebetszeiten.
Odilia gründete selbst zwei Klöster,
Stätten der Stille und des Gebetes. Eines auf dem Odilienberg und eines
zehn Jahre später am Fuße des Berges.
Zwei Szenen aus ihrem Leben zeigen die heilige
Odilia als Betende bzw. beim Gebet.
Die
erste Szene
zeigt, wie Odilia für ihren verstorbenen Vater im Fegfeuer betet und ihm
durch ihr Gebet Rettung und Hilfe schenkt. – Odilia hat das Wort Jesu
ernst genommen, das da lautet: „Vergeltet nicht Böses mit Bösem!“
Und „Betet für die, die euch verfluchen! Tut Gutes denen die euch
hassen!“
Odilia hat sich durch das Unrecht, das
ihr der Vater angetan hat, nicht verbittern oder zu Groll und Rache
verleiten lassen, sondern war bereit zu vergeben. Sie betete für ihren
Vater, der ihr so viel Schlimmes und Böses zugefügt hatte und der so
sehr der Barmherzigkeit Gottes bedurfte.
Die
zweite Szene
des Gebetes ist uns von ihrer Sterbestunde überliefert. Als Odilia ihr
Ende nahen fühlte, schickte sie ihre Mitschwestern zum Gebet in die
Kirche. Als diese in ihre Sterbezelle zurückkamen, lag Odilia tot auf
dem Boden. Die ganze Schwesternschar begann inständig zu beten. Da
öffnete die Tote die Augen, richtete sich auf und ergriff selbst den
Kelch mit der heiligen Kommunion, den man ihr gebracht hatte. Sie nahm
daraus eine Hostie als Wegzehrung und verschied. (Darum wird die heilige
Odilia manchmal auch mit einem Kelch dargestellt.)
Liebe Schwestern und Brüder!
Als die heilige Odilia um 680 ihr Kloster auf
dem „heiligen Berg“ im Elsaß gründete, wurden gleichzeitig auf
anderen Bergen bedeutsame Klöster errichtet: Monte Casino durch den heiligen
Benedikt, das Mönchskloster auf dem Berg Athos in Griechenland. Und das Katharinenkloster am Sinai wurde aufgebaut.
Und wir dürfen hier in unserer näheren
Umgebung unter anderen das Kloster Gengenbach, Alpirsbach und
Allerheiligen dazuzählen, auch unseren eigenen Wallfahrtsort hier in
Zell „Maria zu den Ketten“. Und etwas weiter weg den Hörneleberg,
St. Peter, St. Trudpert, St. Blasien.
In meiner fränkischen Heimat sind es
Walldürn, der Engelberg (bei Miltenberg), das Käppele in Würzburg und
Vierzehnheiligen (bei Bamberg), wohin meine Vorfahren gern gepilgert
sind, um zu beten, um ihre Sorgen und Anliegen hinzutragen und neue
Kraft zu schöpfen für ihren oft mühevollen und entbehrungsreichen
Alltag.
Oder es war am Sonntagnachmittag einfach
der Gang zu „Heiligtümern“ in der heimischen Flur: zu einer
Kapelle im Wald, zu einem Kreuz oder zur Lourdesgrotte.
Ob nicht, liebe Schwestern und Brüder,
auch unsere Gemeinden und Gemeinschaften und unsere Familien „heilige
Orte“ sein könnten oder es vielleicht auch wieder mehr werden
müssten? Spirituelle Orte, geistliche Zentren, Orte, wo man miteinander
betet und wo man versucht, den Frieden zu leben?
Und ob uns nicht mehr bewusst sein
sollte, liebe Schwestern und Brüder, dass unser eigenes Herz Tempel
Gottes ist, Wohnort des Geistes, Wohnort seiner Liebe? Das vergessen wir
oft.
Und doch könnte es so heilsam sein und
stärkend zu wissen und zu spüren: „Du näher als mir als ich mir
selbst, innerer als mein Innerstes, göttliches Licht, heiliger Geist,
ewige Liebe“ (Edith Stein).
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