Martinsfeuer, Martinsgänse,
Martinsumzüge, Martinslieder, Martinimärkte usw. Die Bräuche, die sich um den
heiligen Bischof Martin und seinen heutigen Gedenktag ranken, sind schier unzählig.
Sie zeigen auf je eigene Weise und natürlich auch in unterschiedlicher
Intensität und Qualität die große Popularität dieses Heiligen. Kein
Kindergarten, der nicht eine Martinsfeier veranstaltet. Kaum ein Kind
hierzulande, das nicht den heiligen Martin kennt und um seine spontane Liebesstat am
frierenden Bettler weiß. Selbst in einer oftmals unreligiösen und entchristlichten
Umgebung rührt dieses Werk der Barmherzigkeit noch die Herzen
an.
„Im Schnee da
saß ein armer Mann, hat Kleider nicht, hat Lumpen an“, singen die Kinder, wenn sie
mit ihren Laternen durch die abendlichen Straßen ziehen. Und dann wird mit Pferd
und Reiter und Bettler die Szene der Mantelteilung im Spiel lebendig, jenes
Beispiel christlichen Liebe, die den heiligen Martin zu einem der bekanntesten
und volkstümlichsten abendländischen Heiligen werden ließ.
„St. Martin war ein guter Mann.“
Martin lebt in den Herzen der Menschen fort.
Viele tragen seinen Namen, Martin und Martina. Dome, Kirchen und Kapellen sind
ihm geweiht. Unsere Nachbardiözesen Rottenburg und Mainz verehren ihn als ihren
Diözesanpatron. Auf vielen Kirchenfenstern und Bildern ist er dargestellt,
meistens jene Szene wie er mit seinem Schwert seinen Soldatenmantel teilt und
die Hälfte einem frierenden Bettler reicht.
Weniges in der
Geschichte der abendländischen Heiligenverehrung hat sich so ins Gedächtnis der
Menschen eingeprägt und eine so dauerhafte Spur hinterlassen wie diese Begegnung
an einem Winterabend am Stadttor von Amiens.
Ein Beispiel echter Solidarität.
Praktische Liebe. Barmherzigkeit konkret.
Entscheidend
aber – und heute oft vergessen – ist die religiöse Deutung dieses Geschehens.
Die Lebensbeschreibung des heiligen Martin berichtet nämlich, dass Martin in der
folgenden Nacht eine Vision hatte. Im Traum sieht er Jesus Christus, bekleidet
mit der Mantelhälfte des Bettlers. Und er hört, wie Jesus zu den Engeln, die ihn
umgeben, sagt: „Martin, noch Katechumene (Taufanwärter) hat mich mit diesem
Mantel bekleidet.“
Da erkennt Martin: der Bedürftige am Wegrand war
Jesus selbst. Ihm ist er in der Winterkälte begegnet. Er selbst, Christus,
identifiziert sich mit den Geringsten seiner Brüder und Schwestern.
Was wissen wir
sonst noch vom heiligen Martin? Und worin kann er uns außerdem Vorbild und Leitbild
sein?
Mit 15 Jahren
war Martin auf Wunsch seines Vaters, eines Offiziers der römischen Armee, zum
Militär gegangen. 18jährig quittiert er den Militärdienst. Er wird Schüler des
berühmten Bischofs und Theologen Hilarius. Von ihm empfängt er die Taufe. Dann
zieht es ihn als Missionar in seine ungarische Heimat. Als erste bekehrt sich
seine noch heidnische Mutter. Martin spendet ihr die Taufe. Vehement wendet er
sich gegen die Häresie der Arianer. Schließlich wird er ausgewiesen und macht
sich - von manchen Wundern und Abenteuern begleitet - auf den Weg nach Westen.
Nach einem Aufenthalt in Mailand zieht er sich auf eine Insel bei Genua zurück.
Dieses Eremitenleben gibt er auf Bitten von Bischof Hilarius wieder auf und
kommt nach Poitiers in Südfrankreich.
Hilarius hätte Martin gern zum Diakon und
Priester geweiht. Doch Martin strebte nicht nach Amt und Würden. Er wollte Mönch
bleiben.
Südlich von Poitiers bezog er eine Einsiedelei.
Viele Schüler gesellten sich zu ihm. Martins Vorbild und das seiner Gefährten
waren die orientalischen Wüstenväter. Ihnen entsprechend lebte man nicht in
einem Kloster zusammen, sondern einzeln. Als sogenannte Anachoreten suchte man
nach dem Vorbild der Wüstenväter die ungestörte Einsamkeit.
Als Martin
eines Tages zu einer kranken Frau nach Tours gerufen wird, machen ihn die Leute
spontan und im Grunde gegen seinen Willen durch Akklamation zum Bischof. Das war
im Jahr 371. Auch als Bischof behält er das Mönchsideal und einen asketischen
Lebensstil bei.
Zunächst
glaubt er, dies in einer Zelle neben der Kirche verwirklichen zu können. Doch
der großer Zustrom von Ratsuchenden und Verzweifelten veranlasst ihn, die
völlige Einsamkeit in einer verlassenen Waldgegend zu suchen. Aber auch hier
sammeln sich wieder Gleichgesinnte und Suchende um ihn. Wiederum bildet sich
eine Mönchsgemeinschaft. Eine ungeheure Ausstrahlung geht von Martin aus und
fasziniert immer neu und immer mehr die Menschen seiner Umgebung.
Als Bischof
ist Martin aber auch viel unterwegs. Die Bekehrung der heidnischen
Landbevölkerung ist ihm ein großes Anliegen. Dafür scheut er keine Mühen und
nimmt viele Strapazen auf sich. 386 begibt er sich zum römischen Kaiser
nach Trier. Mehrfach legt er Fürsprache für den Häretiker Priszillian und dessen
Anhänger ein, die eine gefährliche Irrlehre vertreten und unter anderem die
Dreifaltigkeit Gottes leugnen. Priszillian sollte deshalb zum Tod verurteilt
werden. Für Martin jedoch war die Todesstrafe mit dem Gebot der Nächstenliebe
unvereinbar.
Als Martin einmal zu Gast am Tisch des Kaisers
war, reichte ihm dieser den Trinkpokal. Martin aber gab ihn nicht, wie es sich
gehörte, dem Kaiser zurück, sondern reichte ihn zuvor seinem ihn begleitenden
Priester. Im geweihten Priester ehrte er den Hohenpriester Christus.
Als Martin ins hohe Alter kam sehnte er sich, ermüdet durch
rastlosen Einsatz, bei Gott zu sein. Aber seine Brüder baten ihn, bei ihnen
auszuhalten. Da betete Martin: „Herr, bin ich für dein
Volk noch nötig, verweigere ich nicht Arbeit und Mühe. Dein Wille geschehe.“
Martin starb 80jährig auf einer Pastoralreise,
die er unternommen hatte, um einen Streit zwischen Klerikern zu stiften.
Das Beispiel
und Leben des heiligen Martin ist heute meines Erachtens aktueller denn je.
Drei
Hinweise:
Erstens:
Martin, der Taufanwärter, der seinen Mantel teilt und die Hälfte her schenkt:
Wäre das nicht
übertragen und umgesetzt ins Heute die Antwort und die Lösung vieler Probleme
auch in unserer Zeit? Wobei die Hungernden nicht nur jene sind, die ihre Hand
nach einem Stück Brot ausstrecken, sondern auch jene, die hungern nach Liebe und
Angenommensein.
Und die Nackten sind nicht nur jene, die nichts
zum Anziehen haben, sondern auch diejenigen, die aller menschlichen Würde
entkleidet sind. Einsam und obdachlos sind nicht nur jene, die kein Dach über
dem Kopf haben, sondern auch all jene, denen die Obhut menschlicher Wärme und
Zuneigung fehlt.
Zweitens:
Martin hat sich nie um Macht, Ämter, Einfluss und Karriere gekümmert. Als
Bischof Hilarius ihn zum Diakon und Priester weihen will, zieht er sich als
Eremitenmönch in die Einsamkeit mit Gott zurück.
Als die Leute
von Tours ihn zum Bischof machen wollen, flieht er die Versammlung und verbirgt
sich der Legende nach in einem Gänsestall, wobei jedoch die Gänse durch ihr
Schnattern sein Versteckt verraten.
Es kommt gar
nicht darauf an, dass ich oben bin, viel Einfluss habe, die erste Geige spiele,
den Ton angebe. Auf eines kommt es an, dass ich ein Liebender bin und es
versuche zu sein und immer mehr zu werden.
Jesus nachfolgen, mit meinem Leben der Spur des
Evangeliums folgen, das heißt immer wieder neu den Weg des menschgewordenen
Gottes einschlagen, den Weg des Dienens und der Demut, den Weg des gekreuzigten
Heilands und Erlösers.
Drittens:
Der heilige Martin war als Taufanwärter, als Einsiedler und als Bischof ein zutiefst
spiritueller Mensch, ein Mann des Gebetes. Er liebte die Stille, das Alleinsein
mit Gott, die Gebetseinsamkeit.
Welchen
Stellenwert hat in meinem Leben das Gebet, die Schriftlesung, die Meditation?
Suche ich gern und oft die Nähe Gottes im Gebet? Kommt das nicht am ehesten zu
kurz? Wird da nicht am schnellsten gestrichen? Und ist aufgeschoben dann nicht
doch oft aufgehoben?
Heute das Fest
des heiligen Martin feiern, das heißt: sich berühren und durchdringen lassen vom
Geist, der diesen Mann beseelte. Es ist der Geist der Liebe und Barmherzigkeit,
der Geist der Demut und Hingabe. Und es ist der Geist der Gottsuche und des
Gebetes.
Und so rufen
wir zu Martin: Komm wieder! Komm wieder in Menschen, die handeln wie du, die gut
sind wie du, die leben wie du. Komm wieder! Und wir fügen zögernd an: in uns! –
Sporne uns an, ganz wach, ganz bewusst und ebenso entschieden christlich zu
leben – wie du!