Samstag, 5. Juli 1902: Maria Goretti ist allein zu Hause.
Alessandro Serenelli, ein
16 jähriger hitziger Nachbarsbursche, hat sie schon mehrmals belästigt.
Jedesmal
konnte sich Maria mit äußerster Kraft losreißen.
Diesmal
versucht er es wieder mit Gewalt. Er packt die 12 Jährige und zerrt sie
in den Schlafraum. Sie kämpft mit ihm und ruft immer wieder: „Nein,
nein, das ist Sünde. Alessandro, du kommst in die Hölle.“ – Maria
widersetzt sich standhaft. Da zieht er wütend ein spitzes Messer und
stößt wie wild auf sie ein. Vierzehn Stiche, vierzehn tiefe Wunden.
Später
operieren die Ärzte zwei Stunden lang an dem barbarisch
niedergestochenen Mädchen. Maria ist bei vollem Bewusstsein. Sie ruft
immer wieder Jesus und Maria an.
Als man sie fragt,
ob sie ihrem Mörder verzeihe, antwortet sie ohne Zögern: „Gewiss
verzeihe ich ihm. Vom Himmel aus werde ich für seine Bekehrung beten.“
Und weiter sagt sie: „Um Jesu willen, der dem reumütigen Sünder
verziehen hat, will ich ihn auch nahe bei mir im Paradiese haben!“ –
Am Samstag war die Untat geschehen. Am Tag darauf, Sonntag, 6. Juli
starb Maria Goretti.
Dieses Ende
war die Vollendung, die Krönung ihres jungen Lebens gewesen. Dieser
Heldenmut, in dem sie sagen konnte, sie wolle lieber sterben als eine
schwere Sünde begehen, war nicht unvermittelt gekommen. Auch die Größe,
sterbend ihrem Mörder zu verzeihen, war der Abschluss eines zutiefst im
Glauben verankerten, früh gereiften jungen Lebens. Alle, die Maria
kannten, sagten schon am Tag ihres Begräbnisses: „Eine Heilige ist
gestorben.“
Maria Goretti
hatte eine harte Jugend. Ihr Vater war ein einfacher italienischer
Landarbeiter. Bereits mit 10 Jahren verlor sie ihn durch Malaria. Die
Mutter stand mit 6 Kindern allein da. Die Familie war sehr arm.
Maria
musste die Mutter in der Küche und im Haushalt vertreten und ihre
jüngeren Geschwister versorgen, während die Mutter zur Arbeit auf dem
Feld war, um die Kinder ernähren zu können.
Maria
musste auch für den Pächtersohn Alessandro Serenelli, die im selben Haus
wohnten, mitkochen und für dessen alkoholsüchtigen Vater, der Witwer
war.
Maria
war kein kleines Kind mehr. Früh war sie in Verantwortung genommen
worden. Sie war auch nicht unwissend in der Einschätzung der Charaktere
der Menschen in ihrer Umgebung.
Sie erkannte die
triebhafte, unbeherrschte Veranlagung des Burschen aus der
Nachbarschaft. Sie fürchtete ihn und mied ihn, wo sie konnte. Sie
vertraute ihre Angst vor ihm auch der Mutter an, konnte ihm jedoch nicht
ganz aus dem Weg gehen.
Alessandro Serenelli
wurde zu 30 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Die ersten Jahre verbrachte
er in sturer Reuelosigkeit. Da erschien ihm eines Nachts Maria Goretti.
Er sah wie sie Blumen pflückte und sie ihm anbot. Von da an war er wie
verwandelt und ein vorbildlicher Häftling. Eine echte Bekehrung, zu der
Maria Goretti vom Himmel aus kräftig mitgeholfen hat.
Alessandro
bekannte sich zu seiner Schuld. Er bat die Familie der Goretti um
Vergebung und büßte mit Überzeugung sein Verbrechen.
Zu Weihnachten 1928
wurde Alessandro wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Sein erster
Weg führte ihn zu Maria Gorettis Mutter. Er wollte sie um Verzeihung
bitten.
Am Weihnachtsabend
klopfte er an die Tür des Pfarrhauses von Corinaldo an, wo sie
Haushälterin geworden war. Sie antwortete: „Wenn Gott dir vergeben
hat, wie sollte ich dir nicht vergeben?“
Beide
gingen in der Weihnachtsmesse zusammen zum Tisch des Herrn, der allen
alles vergibt, wo immer jemand sich reumütig und demütig zu ihm wendet.
Sehen Sie:
Bei Gott gibt es immer einen Weg zurück, mag jemand sich auch noch
soweit von ihm entfernt haben, mag jemand auch noch so große Schuld auf
sich geladen und schwere Verbrechen begangen haben. Bei Gott ist die Tür
immer offen. Wo Reue ist, da ist Vergebung. Es gibt keine Sünde, die
Gott nicht vergeben könnte. Gottes Liebe ist größer als alle Schuld.
Mit der Absicht,
Sühne zu leisten lebte Alessandro dann bis zu seinem Lebensende als
Hausangestellter in einem italienischen Kapuzinerkloster.
Am 24. Juli 1950
wurde Maria Goretti von Papst Pius XII. heiliggesprochen. Maria Goretti
war seine Lieblingsheilige. Er sah in ihr und so nannte er sie auch: eine heilige Agnes des 20. Jahrhunderts.
Zum ersten Mal in der Geschichte der Heiligsprechungen war die Feier auf den
Petersplatz unter den freien Himmel verlegt worden. Über eine halbe
Million Menschen nahmen daran teil. Und zum ersten Mal konnte auch die
Mutter einer Heiligen an der Heiligsprechung eines ihrer Kinder
teilnehmen. Auch Alessandro Serenelli war dabei und erlebte die
Heiligsprechung.
Warum aber wurde Maria
Goretti heiliggesprochen?
Dass sich Maria Goretti
eines Vergewaltigungsversuchs erwehrte, ihre Unschuld verteidigte und
dann doch ihren schlimmen Verletzungen erlag, das allein – so
schrecklich es auch ist – macht sie noch nicht zu einer Heiligen. Das
wäre ein Fall für den Staatsanwalt. Täglich erleiden Kinder Gewalt und
werden Opfer von brutalen Gewalttaten. Kaum erschrecken uns diese
Meldungen noch.
Es ist auch nichts
Außergewöhnliches, dass Maria als Älteste der Geschwister schon früh in
der Familie mithelfen musste.
Nicht so sehr in ihrem
Leben, sondern besonders in ihrem Sterben, ist sie ein leuchtendes
Beispiel. Inwiefern?
Weil sie noch im Sterben
ihrem Mörder verzieh und für ihn betete. Das macht in meinen Augen ihre
einmalige Größe und Heiligkeit aus, die bewusste Tat des Verzeihens, der
Vergebung, diese Kraft der Liebe.
Darin
ist dieses 12jährige Mädchen für mich Vorbild. Und sie kann es für uns
alle sein, für alle, die den Weg des Glaubens gehen wollen.
Darin
gleicht Maria Goretti dem ersten Märtyrer Stephanus, der im Tod noch
Gott bat, er möge denen verzeihen, die ihn steinigten. – Ja, in ihr
begegnet uns Christus selbst, der am Kreuz für seine Henker betete.
Verzeihen
ist eine Tat der Liebe. Verzeihen ist die Höchstform der Liebe.
Verzeihen ist eine göttliche Tat. „In der Verzeihung des
Unverzeihlichen“, so Gertrud von Le Fort, „ist der Mensch der göttlichen Liebe am nächsten.“
Wer nicht verzeihen
kann,
hat vom Geheimnis Gottes wenig oder gar nichts verstanden. Wer immer
nachträgt, aufs Butterbrot schmiert, unter die Weste jubelt, heimzahlt,
es den anderen spüren und büßen lässt, wird selbst schuldig, ohne dass
er es will.
Ein weises Wort
lautet: „Wer urteilt, kann irren; wer verzeiht, irrt nie.“ – Wir alle
leben von der Vergebung.
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