Für viele
war es eine große Überraschung und zugleich Enttäuschung, als der
Patriarch von Venedig, Kardinal Roncalli (geb. 1881) am 28. Oktober 1958
zum Papst gewählt wurde.
Allein
schon äußerlich machte der beleibte, rundliche Mann eine ganz andere
Figur als sein schlanker, hochgewachsener aristokratisch wirkender
Vorgänger Papst Pius XII.
Man
handelte ihn als Übergangspapst. Und tatsächlich, nur fünf Jahre waren
Angelo Guiseppe Roncalli in diesem höchsten Amt der Kirche gegönnt.
Was
niemand vorausgesehen hatte: gerade er stellte die Weichen für die
Kirche auf dem Weg in die Zukunft. Er gab der Kirche ein neues Gesicht.
Er läutete eine Wende ein.
Sein
Programm stand in groben Zügen schon am Anfang fest. Bei
seiner Wahl sagte er anspielend auf seinen Namen, der er sich gewählt
hatte: „Ich will nur die Stimme dessen sein,
der in der Wüste ruft: Bereitet den Weg des Herrn! Und auch ich will
mein Haupt an die Brust Jesu legen, so wie der Evangelist (Johannes)
sein Haupt an Jesu Brust gelegt hat. Und ich will so, wie er es getan
hat, die Mutter Christi zu mir nehmen und sagen, dass sie auch meine
Mutter ist.“
Einmal schrieb er über sich selbst:
„Ich habe
immer den Satz des heiligen Gregor von Nazianz wiederholt: Voluntas dei
pax nostra (unser Friede ist der Wille Gottes). Dies ist das Geheimnis
meines Lebens. Sucht keine anderen Erklärungen.“
Machtinteressen oder Starrsinn, Härte oder Strenge wie auch Resignation
oder Schwarzseherei waren ihm fremd. Er lebte in einer bewundernswerten
Ausgeglichenheit, in einer inneren Ruhe und stillen Freude. Sie flossen
ihm aus der Übereinstimmung mit dem Willen Gottes zu.
Am
11. September 1962, dreißig Tage vor Eröffnung des Konzils hält er in
seinem Tagebuch eine „Rückschau auf die großen
Gnadenerweise, die dem zuteil wurden, der sich selbst für gering achtet,
aber die guten Eingebungen aufnimmt und sie in Demut und Vertrauen
ausführt.“
An Papst
Johannes XXIII. ist abzulesen: Wer sich selbst nicht zu wichtig nimmt
und den Willen Gottes lebt, weiß sich behütet, geborgen und beheimatet.
Er lebt ohne Angst um sich, er lebt in einem tiefen Frieden.
Johannes
XXIII. strahlte Heiterkeit, Frohsinn und Herzlichkeit aus. Man muss ihn
erlebt haben, wenn er zu Müttern und ihren Kindern sprach. Man muss sich
erzählen lassen, was er bedrückten und enttäuschten Priestern oder
Bischöfen zu sagen wusste, um sein tiefes Gemüt, sein
Einfühlungsvermögen, seine Mitfühlsamkeit, seine Liebenswürdigkeit und
seinen Humor zu begreifen.
Im August
1961 schreibt er in sein geistliches Tagebuch:
„So
wie man mich überall nennt ‚Heiliger Vater‘, so muss und will ich auch
wirklich sein.“
Das
geistliche Tagebuch, das der junge Angelo als Vierzehnjähriger im
Seminar von Bergamo zu schreiben begonnen hatte, ist ein einzigartiger
Spiegel, der die innere Entwicklung und das religiöse Fundament des
späteren Papstes erkennen lässt. Fast 70 Jahre geistlichen Lebens sind
darin enthalten.
Es sind
nicht Bischofsernennungen oder Abläufe an der römischen Kurie, ja noch
nicht einmal die Vorbereitung des Konzils oder politische Ereignisse,
die in seinem Tagebuch Niederschlag finden. Das Grundthema lautet: Tag
für Tag und Stunde um Stunde ein Gott wohlgefälliges Leben zu führen.
Alles dreht sich um die persönliche Frömmigkeit und ein spirituelles
Leben, ein Leben an der Hand und aus dem Geist Gottes.
Das
geistliche Tagebuch zeigt Angelo Roncalli als jemand, der sich ständig
und mit immer neuer Bereitschaft bemühte, den Weg der Heiligung zu
gehen. Das war sein Bestreben sowohl als junger Student als auch als
alter Papst.
Eine
Ausnahme: der bedrohte Friede in der Welt.
Diese
Sorge schlägt sich auch in den Tagebucheinträgen nieder. Johannes der
XXIII. vermittelte erfolgreich in der Kuba-Krise zwischen Amerika und
Russland. In seinem letzten Lebensjahr erschien dann auch die
Friedens-Enzyklika „Pacem in terris“.
Papst
Johannes XXIII., der zu Beginn seines Pontifikats nicht den
Vorstellungen vieler entsprach, gewann rasch die Herzen aller. Selten
wurde ein Papst vor ihm so geliebt und verehrt.
Angelo
Guiseppe Roncalli war 77 Jahre alt, als er den Stuhl Petri bestieg. Rein
menschlich gesehen war nicht viel von ihm zu erwarten. Es sollte anders
kommen. Der hl. Geist wirkt, wo er will, wann er will und in wem er
will.
Als
ihm selber einmal bange war und er die Last und die Verantwortung des
Amtes spürte, soll ihn eine innere Stimme gefragt haben: „Wer regiert die Kirche, du oder Heilige Geist?“
Ein
anderes berühmtes Wort von ihm in ähnlicher Situation gesprochen,
lautet: „Giovanni nimm dich nicht so wichtig.“
Drei
Aufgaben zeichnete er für sein Pontifikat an dessen Beginn vor: die
Abhaltung einer Synode für die Stadt Rom, die Schaffung eines neuen
kirchlichen Rechtsbuches und die Einberufung des II. Vatikanischen
Konzils.
Einer
spontanen Eingebung folgend, wie er selbst sagte, überraschte er die
Welt im Januar 1959 mit letztgenanntem Plan. Im kleinen Kreis der
römischen Kardinäle schlug er eine rasche Einberufung vor. Auf den
Einwand, es sei unmöglich, den Konzilsbeginn bis zum Jahr 1963 zu
organisieren, antwortete er lakonisch: „Gut, dann machen wir es eben
1962!“
Die
Kirche stand buchstäblich Kopf. Sie müsse sich den Erfordernissen der
Zeit anpassen, war die Begründung des Papstes. Es ging ihm um eine
tiefgehende Erneuerung der Kirche und eine Verlebendigung des Glaubens.
Das Evangelium sollte mit neuem Mut und wacher Aufmerksamkeit für die „Zeichen der Zeit“ kraftvoll verkündet und ins Heute übersetzt
werden. Ziel war nicht die Verweltlichung der Kirche, sondern die
Verchristlichung der Welt.
Das in
dieser Zeit zuerst von ihm gebrauchte Wort vom „aggiornamento“
machte die Runde. Das klang für eine in sich ruhende, selbstsichere und
auf das überlieferte unvergängliche Glaubensgut ausgerichtete Kirche
geradezu revolutionär.
Seine
Vision war die Öffnung zur Welt hin, mutig, vertrauensvoll und ohne sich
selbst oder etwas vom Wesen der Kirche preiszugeben. Am 11. Oktober 1962
begann mit enthusiastischen Erwartungen das Konzil, das er selbst
allerdings nicht mehr vollenden konnte.
Auch
seine kirchenpolitischen Aktivitäten und besonders seine Enzykliken
atmeten einen großen, weiten und visionären Geist. Und doch stand er
unbeirrbar in der Tradition der Kirche. Seine tiefe, einzigartige
Frömmigkeit war ihm bei allen Entscheidungen die maßgebliche
Richtschnur.
Am
Pfingstmontag, am 3. Juni 1963 starb er und ging als „papa buono“
(„der gute Papst“) in die Geschichte ein.
Papst
Johannes Paul II. hat ihn am 3. September 2000 seliggesprochen. Um ihn
am gleichen Tag wie Johannes Paul II. heiligsprechen zu können,
verzichtete Papst Franziskus auf das sonst notwendige zweite Wunder.
Begründung: Die Heiligkeit des in weiten Teilen des Kirchenvolkes sehr
beliebten und hochverehrten „guten Papstes“ sei zur Genüge und
zweifelsfrei bekannt. Da brauche man nicht auf ein zweites Wunder zu
warten.
War nicht
die historische Kirchenreform durch das II. Vatikanische Konzil (1962 –
1965), dieses Hinausgehen aus den eigenen, engen Mauern in die weite
Welt, ein Wunder – ganz nach dem Sinn von Papst Franziskus?
Und setzt
man bei dem Ehrentitel „Papst der Güte“, den nicht die
Intellektuellen, sondern die einfachen Gläubigen dem Konzilspapst
gegeben haben, anstelle von „Güte“ das Wort „Barmherzigkeit“,
dann würde diese Kennzeichnung hundertprozentig auch zu Papst Franziskus
passen.
Wie
dieser, so war auch Johannes XXIII. ein Papst der improvisierten
Ansprachen und der humorvollen Spontanität.
Im
Apostolischen Palast kehrte mit seinem Amtsantritt nach dem strengen
Stil von Pius XII. eine gewisse Entspannung ein. Johannes XXIII.
lockerte das Protokoll, erhöhte die Gehälter, vor allem das Kindergeld.
Wie Papst Franziskus wollte er nicht mehr allein speisen, sondern die
Mahlzeiten in Gesellschaft einnehmen. Er verließ häufig den Vatikan, um
Gefangene, Kinderheime oder Krankenhäuser aufzusuchen.
Als
er einmal das Heilig-Geist-Hospital in Rom besuchte, soll sich ihm eine
Ordensschwester ganz aufgeregt als „Oberin vom Heiligen Geist“
vorgestellt haben. Da habe er spontan geantwortet: „Ach, schau, ich bin nur der Stellvertreter Christi.“
Johannes
XXIII. war ohne Zweifel weitschauend und visionär. Die Impulse, die er
der Kirche gab, wirken noch heute nach.
Als gütiger, tiefgläubiger und humorvoller Papst ist er der Welt in
Erinnerung geblieben. Sein Lächeln und seine ausgebreiteten Hände sind
bis heute unvergessen. |