Liebe Schwestern und
Brüder, Wallfahrerinnen und Wallfahrer!
„Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria“.
So lautet der offizielle Titel des heutigen Festes. – Wissen Sie, wie
man es auch nennen könnte? Ganz einfach: „Mariä Erwählung“.
Bereits im ersten Augenblick ihres Daseins hat Gott Maria erwählt. Er
hat sie vor der Macht des Bösen bewahrt und mit Gnaden erfüllt. Maria
ist der Mensch „voll der Gnade“. Beim Evangelisten Lukas heißt
es: „Sie hat Gnade gefunden bei Gott“.
Liebe
Mitchristen!
Das Wort
„Gnade“ ist uns fremd geworden. Das Wort „gnadenlos“ ist
uns geläufiger. Wer möchte schon von der Gnade anderer abhängig sein?
Oder auf Gnad und Verderb jemandem ausgeliefert? Wir wollen selbständig
sein, frei und unabhängig. Wir wollen nichts geschenkt. Wir leisten
schließlich etwas und fordern dafür, was uns zusteht. Wir arbeiten und
erhalten unseren Lohn. Wir möchten nicht auf die Hilfe anderer
angewiesen sein. Der moderne Mensch ist autonom, unabhängig.
Erich
Kästner beschreibt das so:
Wir
leisten etwas, wir arbeiten, wir fordern unseren Lohn, wir werden
bezahlt und bezahlen. Wir wollen nichts geschenkt. Denn jede Form von
Hilfe macht abhängig. Leben wir also gnadenlos?
Wer
leistungsstark ist, wer fest im Sattel sitzt, wer alles im Griff hat,
der beteuert: „Ich brauche keine Hilfe!“ Er setzt auf Erfolg und
positive Bilanzen. Ist nicht jeder seines Glückes Schmied?
Liebe
Schwestern und Brüder!
Man hat
den modernen Menschen den „Homo Faber“, den „Macher“
genannt. – Wir sind mächtig geworden und können fast alles. Geht nicht,
gibt’s nicht! Dabei stellen wir uns selbst unter Leistungszwang.
Was
fürchtet der Mensch heute? – „Ja kein Leistungsabfall!“ Vom
Berufs- bis hin zum Privatleben: „Nur ja kein Leistungsabfall!“
So werden
Vitaminpräparate und Pillen geschluckt, um in Form zu bleiben, um
mithalten zu können. – Ob eine solche Rechnung aufgeht, die auf Gnade
verzichtet?
Wir
wollen allein über die Runden kommen. Der heutige Mensch emanzipiert
sich vom Mitmenschen. Er emanzipiert sich auch von Gott. „Was
brauchen wir Gott“, denken viele. „Geht es nicht auch gut ohne
ihn?“ Wir haben es weit gebracht ohne ihn. Aus dem Neandertaler, der
seine Steinaxt schwingt, ist ein hochqualifizierter Facharbeiter und
Wissenschaftler geworden, der Flugzeuge, Raketen und Computer baut. Wir
haben IT-Spezialisten und Experten auf allen Gebieten. Was brauchen wir
da noch Gott?
Diese
Einstellung beschreibt Rudolf Ott Wiemer in einem Gebet.
Das
Gebet eines Zeitgenossen:
Ich
mache, ich schaffe, ich repariere, ich sichere ab. Alles im Griff!
Glänzende Aussichten! Und Gott? Der soll ja nicht dazwischenkommen.
Liebe
Schwestern und Brüder!
Mein
Eindruck ist: Der Zweifel nagt heute an dieser selbstherrlichen
Einstellung. Die Generation der „Macher“ stößt an ihre Grenzen. Ein
Beispiel: die Corona-Pandemie! Von wegen „alles im Griff“! Über
100.000 Tote in Deutschland, Millionen weltweit. Operationen werden
verschoben. Zig Krankentransporte in andere Bundesländer. Triageteams
entscheiden über Leben und Tod. Oder ein Blick nach Afghanistan, zur
belarussisch-polnischen Grenze, zum Mittelmeer, wo Tausende jährlich
ertrinken. „Alles im Griff?“ „Alles im grünen Bereich?“ „Wir machen
das schon?“ Und im privaten Bereich, ist es da anders? Eine
unheilbare Krankheit wie aus heiterem Himmel, eine Freundschaft geht in
Brüche, Verkehrsunfall, Tod eines jungen Familienvaters.
Ja, eine
Lebensrechnung, die auf die Machbarkeit aller Dinge setzt, geht nicht
auf, denn sie ist letztlich gnadenlos.
Noch
mal Erich Kästner: „Wird man unsere Zeit eines Tages als eine
beschreiben, die nichts mehr geschenkt haben wollte? Eine Zeit, die zu
stolz ist für Geschenke, zu stolz für die Gnade?“
Liebe
Wallfahrerinnen und Wallfahrer!
Das
Gegenbeispiel zu einem gnadenlosen Lebensstil sehe ich in Maria. Weil
sie offen ist für den Anspruch Gottes, weil sie nicht nur auf die eigene
Leistung baut, weil sie mit Gott rechnet und ihm etwas zutraut, deshalb
kann sie der Mensch „voll der Gnaden“ sein. Seit Jahrhunderten
stimmen Christen in Ost und West, in Nord und Süd ein in den Gruß des
Engels: „Gegrüßet seist du, Maria, du bist voll der Gnade.“
„Eine
Lebensrechnung, die nur auf Leistung und Verdienst setzt, sie geht nicht
auf“, sagt Erich Kästner. „Erfahrene Güte aber macht gütig.“
– Dieses Wort lenkt uns auf Maria, die Mutter mit dem gütigen Herzen.
Heute schauen wir auf sie, die ganz Reine, die Makellose, die
„All-Heilige“, wie sie die Ostkirche nennt.
Für mich
ist Maria die Alternative zum Homo Faber, zum Macher und Leistungstyp. –
Da ist ein Mensch, der nicht seines eigenen Glückes Schmied ist, einer,
der nicht aus eigener Leistung sein Glück schafft, sondern da ist eine,
die offen ist, aufnahmebereit, ganz Empfänglichkeit. Da ist eine, die
sich beschenken lassen kann. – Denn so beginnt ihre Geschichte: Sie
kreist nicht um sich selbst. Ihr geht es nicht um Erfolg und tolle
Bilanzen. Ihr geht es nicht darum oben zu sein, am Drücker zu sein und
den Ton anzugeben. Sie hört auf Gott, sie ist bereit zu tun, was Gott
von ihr will – auch wenn sie vieles nicht versteht, auch wenn die
Zukunft im Dunkeln liegt. Maria glaubt und vertraut.
„Mir
geschehe nach deinem Wort“, das ist die Grundmelodie ihres Lebens.
So beginnt die Geschichte unserer Erlösung. Eine Frau kniet nieder und
in der letzten Bereitschaft ihres Herzens sagt sie „fiat“ – „mir
geschehe!“ – Sie tut nichts, sie leistet nichts. Sie lässt
geschehen, sie empfängt das Wort Gottes. Wie eine offene, leere Schale,
ganz bereit, sich füllen zu lassen mit der Geistkraft von oben, sich
füllen zu lassen von der Gnade. „O Maria, Gnadenvolle…“ singen
wir in einem Lied. Nicht gnadenlos, sondern voll der Gnade. So steht
Maria vor uns.
Liebe
Schwestern und Brüder!
Wer
glaubt und auf Gott vertraut, erfährt den überfließenden Reichtum seiner
Gnade. Denn aus Gnade sind wir gerettet, nicht aus eigener Kraft. Gott
hat es geschenkt. Wer glaubt, weiß, dass er nicht mit eigenen Leistungen
vor Gott glänzen kann und es auch nicht muss. Gott liebt die leeren
Hände und das bereite Herz.
Liebe
Wallfahrerinnen und Wallfahrer!
Ich
möchte Sie und mich ermuntern, in der restlichen Adventszeit daran zu
denken, dass wir nicht ständig „glänzen“ müssen. Wenn wir nur auf eigene
Leistung und eigenen Verdienst setzten, kann unser Streben gnadenlos
werden. Bitten wir um die Einsicht, dass das Wichtigste im Leben
Geschenk ist. Denn alles ist Gnade.
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