Heute möchte ich ein Gebet aus dem
Gotteslob mit Ihnen betrachten. Es stammt von Pierre Olivaint. Der Text
ist schlicht, beinahe wortkarg und doch sehr gehaltvoll und voll innerer
Glut.
Es scheint mir allerdings gut und
sinnvoll, erst den Menschen kennenzulernen, der so gebetet hat.
Pierre Olivaint wurde 1816 in Paris
geboren.
Zwei Jahrzehnte hindurch war er religiös
gleichgültig. Die Predigten des berühmten Dominikaners Lacondaire rüttelten
ihn wach und gewannen ihn für den katholischen Glauben. Später wurde er
selbst auch Jesuit.
Als Prediger und Exerzitienmeister
entfaltete er eine solch erfolgreiche Tätigkeit, dass er bald für die
atheistische Pariser Stadtverwaltung („Kommune“), ein Dorn im Auge
wurde.
Es kam zu einer Kirchenverfolgung durch
die „Kommune“. Ab April 1871 wurden zahlreiche Welt- und Ordenspriester
in Haft gesetzt. Mehrere dieser Gefangenen wurden erschossen. Unter
ihnen war am 26. Mai 1871 auch Pierre Olivaint.
WACHSE JESUS, WACHSE IN MIR
So beginnt das Gebet. Das ist eine Bitte.
In ihr schwingt ein Sehnen, ein Verlangen
nach Jesus. Pierre bittet also nicht ausdrücklich um Gottes Gnade oder
um den Hl. Geist oder um die Kraft für sein Apostolat. Er bittet darum,
dass Jesus in ihm stark und mächtig werde, dass Jesus in ihm zunehme und
wachse.
Pierre Olivaint ist ganz klar, dass es im
Christsein in erster Linie um eine Person geht: um Jesus Christus. Es
geht ganz wesentlich um die Beziehung zu ihm.
Das, was das Christentum von den anderen
Religionen unterscheidet, ist ja nicht der Glaube an die Existenz Gottes
oder an das ewige Leben, auch nicht Gebet und Gottesdienst, auch nicht
Askese oder die Verpflichtung zu einem sittlich guten Leben.
All das ist nicht spezifisch christlich.
All das hat das Christentum z.B. mit dem Judentum oder dem Islam
gemeinsam.
Das Christentum unterscheidet sich von
den anderen Religionen durch die Person Jesu Christi.
Das Verhältnis zu Jesus Christus
entscheidet letztlich, ob einer Christ ist oder nicht.
In ihm, so glauben wir, ist der
unsichtbare Gott sichtbar geworden, geschichtlich greifbar.
In ihm ist die Güte und
Menschenfreundlichkeit Gottes erschienen.
In ihm hat Gott uns gezeigt, dass sein
eigenes Innere uns gegenüber Liebe und Erbarmen ist.
Liebe und Erbarmen prägten das gesamte
Leben Jesu. Durch seine Auferweckung von den Toten schenkt uns der Vater
die Möglichkeit, an Christus, und das heißt, an seinem göttlichen Leben,
Anteil zu erhalten, wenn wir glauben.
Pierre Olivaint will tieferen
Anteil an Christus bekommen. Deshalb bittet er:
„Wachse, Jesus, wachse in mir!“
Der hl. Paulus hat am Schluss seines
Lebens bekannt: „Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir“ (Gal
2, 2O).
Das muss die tiefste Sehnsucht des
Christen werden, dass der Herr ganz von ihm Besitz ergreifen kann.
Deshalb bittet Pierre, Jesus möge
eindringen in seinen Geist, in sein Herz, in seine Vorstellung, in seine
Sinne. – „Wachse Jesus, wachse in mir. In
meinem Geist, in meinem Herzen, in meiner Vorstellung, in meinen
Sinnen.“
Das also, was jeden von uns zu diesem
konkreten Menschen macht: Vorstellung Geist, Herz, Sinne, darin möge
Jesus wachsen, das möge gleichsam mit Christus verwachsen, so bittet
Pierre Olivaint.
Er will das werden, was der Christ
letztlich sein kann: Jesus immer ähnlicher, immer mehr wie er, immer
mehr seine Konturen annehmen, immer mehr eins werden mit ihm. Man kann
fast sagen: ein zweiter Christus.
Pierre Olivaint erbittet eine totale
Umwandlung seiner Person in Jesus Christus hinein. Aber nicht nur für
sich selbst, sozusagen als Besitz und Eigentum, sondern zum Weitergeben,
als Ausstrahlung in seine Umgebung.
Dorthin, wo er lebt und arbeitet, dorthin
möchte Pierre Jesus hinbringen, und zwar in seiner ganzen Person.
Eine solche ganzheitliche Umwandlung in
Jesus Christus hinein, eine solche ganzheitliche Übergabe an den Herrn
hat nämlich sichtbare Auswirkungen.
Und so bittet Pierre Olivaint weiter:
„Wachse in mir in deiner
Milde, deiner Reinheit, deiner Demut, deinem Eifer, deiner Liebe.“
Jesus war tatsächlich von einem
ungeheuren Eifer für die Anliegen des Vaters erfüllt. Aber dabei war er
alles andere als ein unerleuchteter Draufgänger.
Die Evangelien schildern Jesus vielmehr
als den guten Hirten, als wahrhaftigen Zeugen und lauteren Menschen, als
den, der gekommen ist zu suchen, was verloren war und zu heilen, was
verwundet ist.
Von diesem Jesus las Pierre nach seiner
Bekehrung in den Evangelien. Und er begriff: Ich darf nicht nur ein
Lippenchrist sein, ich muss Jesus nachfolgen, wörtlich, konsequent, ja,
ihn in wichtigen menschlichen Verhaltensweisen sogar nachahmen, eben in
der Reinheit, Demut, Milde, Liebe.
Olivaint gibt in seinem Gebet aber
auch zu erkennen, dass die totale Hingabe an Christus nicht arm, sondern
reich macht. Denn sie schenkt Licht und Frieden:
„Wachse in mir in deiner Gnade, deinem Licht und deinem
Frieden.“
Es ist eine immer wiederkehrende
Erfahrung, dass derjenige, der „Christus angezogen hat“, den Menschen
Licht bringt und Wärme und Frieden ausstrahlt.
Beispiel: Abbe Stock.
Ein von Deutschen gefolterter
Franzose schrieb über Abbe Stock: „Seinetwegen
habe ich allen verziehen, die mich quälten“.
Und eine Jugendliche sagte von
ihrer früh verstorbenen Freundin: „In ihrer
Nähe fiel es mir leichter, gut zu sein.“
Uns Christen geht es nicht in erster
Linie um die Rettung der eigenen Seele, da hätten wir unsere Berufung
missverstanden.
Das Ziel der Jesusnachfolge ist ein
anderes. Jesus hat es selber einmal in die Worte gefasst:
„So soll euer Licht vor den Menschen
leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel
preisen.“ (Mt. 5, 16)
Jesus hat sich selbst nach diesen Worten
gerichtet. Ihm kam es in seiner Verkündigung und in seinem Tun darauf
an, dass das Reich des Vaters ankommt und sich unter uns verwirklicht.
„Der Vater muss wachsen, ich
aber muss abnehmen“, könnte man das Wort
Johannes des Täufers abwandeln.
Dieses Anliegen bewegt auch Pierre in den
Schlussworten seines Gebetes. Da heißt es:
„zur Verherrlichung des
Vaters, zur größeren Ehre Gottes“.
Die Verherrlichung des Vaters, die
größere Ehre Gottes sind Leitworte seines Ordensvaters, des hl.
Ignatius. Und sie sind das spirituelle Grundmotto des Jesuitenordens,
dem Pierre Olivaint angehörte.
Aber ihm, Pierre Olivaint, geht es darum,
sie sich ganz persönlich zu eigen zu machen, sich danach auszurichten
und sich davon prägen und bestimmen zu lassen.
„Alles zur größeren Ehre Gottes!“
Auch wir beten im Vaterunser:
„Geheiligt werde dein Name!“ Und wie oft sprechen wir das „Ehre
sei dem Vater…“!
Liebe Schwestern und Brüder!
Wir haben in diesem Gebet gleichsam eine
Kurzfassung der Jesusnachfolge vor uns:
Jesus:
die Mitte des Christseins.
In ihn hineinwachsen.
Immer mehr eins werden mit ihm.
Sich seine Gesinnung zu eigen machen.
Sich umgestalten lassen von seiner Liebe
in seine Liebe.
Aus seinem Geist leben. Und so den Vater
ehren.
Mögen die Exerzitien, liebe Schwestern
und Brüder dazu beitragen, dass Jesus in uns wachse, immer mehr Gestalt
annehme und dass wir hineinwachsen in ihn, in die Gesinnung, die in ihm
war, um aus dieser Gesinnung und Haltung zu leben.
Eine wesentliche Bitte am Herz-Jesu-Fest
lautet:
„Bilde mein Herz nach deinem Herzen!“
In einem
anderen Gebet, das auch an Jesus Christus gerichtet ist, wird das
gleiche Anliegen folgendermaßen zum Ausdruck gebracht. Da heißt es:
„Durchdring mein ganzes Wesen, erfüll
mein ganzes Sein, bis man aus mir kann lesen, die Art und Haltung“,
gemeint ist, „die große Liebe,
die große Güte dein.“ |