Lieber N. N.,
liebe Schwestern und Brüder!
Es gibt Fragen, die verfolgen uns manchmal bis in
die Nacht,
ja bis in den Schlaf hinein. Zum Beispiel:
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Wie kann ich
noch mehr aus meinem Leben machen?
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Wie kann ich meinem Leben noch mehr Sinn u. Inhalt geben?
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Welches sind die wichtigsten Werte unseres Lebens? Oder:
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Was muss ich tun, damit dieses, mein Leben, nicht nur im Detail, sondern als
Ganzes gelingt?
Nicht wahr: Das sind doch die Fragen, die Wünsche, die Hoffnungen, die uns bewegen,
die uns ständig auf Trapp halten. Das ist doch die Richtung, in die wir
uns jeden Tag hineindenken und hineinträumen. Das Mehr, das Größere, das Alles!
Das ganz und gar Andere! Und das am liebsten jetzt und hier.
Nun hat die Wissenschaft vom Menschen von altersher sich
mit den unverzichtbaren und zugleich unausrottbaren Bedürfnissen und Hoffnungen
beschäftigt und dabei herausgefunden, dass es drei Wichtigkeiten, drei
Lebensheiligtümer gibt. Oder nennen wir es einfach „Urwünsche“,
die dem Menschen unantastbar und heilig sind.
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Da ist zum ersten
der Wunsch, in meiner Einmaligkeit, in meiner Individualität und Personalität
mit unvertauschbarem Namen und Gesicht erkannt und anerkannt zu werden.
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Da ist zweitens
der Wunsch, aus meinem Leben schöpferisch etwas machen zu können. (Macht im
Sinne von Selbstmächtigkeit, aber auch Beweglichkeit und Freiheit.) Wir wollen
an der Geschichte unseres Lebens selber mitschreiben und uns nicht ständig von
anderen das Leben vorschreiben lassen.
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Und da ist drittens
der Wunsch, irgendwo hinzugehören, beheimatet, irgendwo zu Hause zu sein.
NAME, MACHT, HEIMAT: drei Grundwünsche des
Menschen. Wie wichtig uns diese „Urwünsche“ sind, das merken wir
dann, wenn sie in unserem Leben keinen Platz finden, wenn sie also nicht
vorkommen.
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NAME: Wir wehren uns dagegen unpersönlich nur als Fall, als Nummer verwaltet,
als medizinisches Objekt behandelt, als Arbeits- und Kaufkraft ausgebeutet zu
werden.
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MACHT: Wir wehren uns dagegen, wenn wir bei Entscheidungen, die uns betreffen,
nicht mitsprechen und mitwirken können, uns also ohnmächtig und fremdbestimmt
erleben.
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HEIMAT: Wir wehren uns, wenn wir stets „wie in der Fremde“ leben, wenn
wir das Gefühl haben, keinen Ort, keine Gemeinschaft zu haben, wo wir
hingehören, wo wir Wurzeln schlagen können und Geborgenheit erfahren.
Ein Letztes
darf nicht vergessen und unterschlagen werden:
Diese drei Urwünsche
des Menschen haben eine folgenreiche Eigenschaft: Sie sind unstillbar. Sie sind
maßlos. Und sie sind grenzenlos. Das heißt: die Sehnsucht und das
Verlangen des Menschen ist immer größer als das, was er erreichen und
verwirklichen kann.
Ernesto Cardenal schreibt in seinem Buch von der
Liebe:
„In den Augen aller Menschen wohnt
eine unstillbare Sehnsucht. In den Pupillen der Menschen aller Rassen, in den
Blicken der Kinder und Greise, der Mütter und liebenden Frauen, in den Augen des
Polizisten und des Angestellten, des Abenteurers und des Mörders, des
Revolutionärs und des Diktators und in denen der Heiligen. – In allen wohnt der
gleiche Funke unstillbaren Verlangens, das gleiche heimliche Feuer, der gleiche
tiefe Abgrund, der gleiche unendliche Durst nach Glück und Freude und Besitz
ohne Ende."
Vielleicht denken und fragen manche von ihnen:
Was hat das alles mit dem Ordensjubiläum von N. N. zu tun?
Wir sind doch zusammengekommen, um mit ihm zu danken, Gott
zu danken, für die an ihn ergangene Berufung, Gott zu danken, dass N. N. diesen
Ruf vernommen, ihm Gehör geschenkt und konkret Antwort gegeben hat, als er vor
25 Jahren dem Ruf Gottes gefolgt ist und in die Gemeinschaft der Kapuziner
eintrat. Wir sind doch zusammen, um Gott nicht nur für die Gnade der Berufung, sondern auch für die Gnade der
Treue zu danken.
Dass dies nicht leicht und nicht selbstverständlich ist,
25 Jahre in Treue zu einem Jawort zu stehen, dass es sowohl am Anfang als
auch im Verlauf eines solchen Weges andere Möglichkeiten gibt, Möglichkeiten des
Nichthörens und Folgens, des Ausweichens und des Davonlaufens, das wissen Sie
alle so gut wie ich.
Aber eben: dass es anders ging, dass N. N. diesen Weg ging, das ist das
nie ganz aufzuhellende Geheimnis mit ihm und sein ureigenstes Geheimnis mit
Gott. Und das ist es wert, so meine ich, herausgestellt, bedacht und
gefeiert zu werden.
Und doch: Was haben denn die drei genannten „Urwünsche“ mit dem zu tun, was wir
heute feiern? Was haben diese drei Lebensheiligtümer, diese ganz tiefen
und unausrottbaren Sehnsüchte mit der Berufung von N. N. zu tun, mit seiner
Entscheidung vor 25 Jahren und mit seinem Dazustehen und Dabeibleiben bis heute?
Es gibt eine kleine Erzählung von Maurice Sendac:
Es ist die Geschichte eines kleinen Hundes namens
Jennie. Er besaß alles, was sich ein Hund wünschen kann. Und doch: Eines
Nachts nach einem kurzen Gespräch mit der Topfpflanze, die ihn beneidet, packt
er seine Tasche und macht sich davon mit der Bemerkung: „Ich suche etwas, was ich nicht habe. Es muss im Leben mehr als
alles geben.“
Wie ein Refrain zieht sich
dieser Satz durch das ganze Abenteuer der kleinen Jennie, ob sie nun
Versuchungen erliegt oder Gefahren trotzt, Wagnisse auf sich nimmt oder Aufgaben
löst. Für die Heldin der Geschichte ist dieses „Mehr als alles“
der Antrieb zum Aufbruch und die Kraft zum Durchhalten.
Lieber N. N.!
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War
das nicht das Dich Bewegende, ob so formuliert oder nicht, als du vor gut 30
Jahren alles hinter Dir gelassen hast, als Du Deinen Beruf als Dreher aufgegeben
hast, als du dein Elternhaus verließt und nach Sasbach ins Studienheim St.
Pirmin gingst, um noch einmal die Schulbank zu drücken?
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War
dieses „Mehr als alles“ nicht der innere Impuls und der starke Antrieb,
die engere Nachfolge Christi zu wagen und bei den Kapuzinern um Aufnahme ins
Postulat und Noviziat zu bitten.
-
War
dieses „Mehr als alles“ nicht auch die Kraft, den langen und mühseligen
Weg des Philosophie- und Theologiestudiums zu beschreiten?
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War
dieses „Mehr als alles“ nicht auch die Motivation, als Du vor gut neun
Jahren nach Gera gingst, um mit großer Bereitschaft und innerer Hingabe ein
Leben bei und mit den Armen unserer Gesellschaft zu führen und zudem mit viel
Engagement Deinen Dienst als Seelsorger im Krankenhaus zu tun: Dieses „Mehr
als alles“?
Lieber N. N.,
liebe Schwestern und Brüder!
Wie können wir diesem Ziel, diesem „Mehr als alles“
näher kommen? Wie können wir die drei Urwünsche auch nur einigermaßen
erfüllen? Gibt es da einen Zusammenhang zu dem, was Christus in den drei
evangelischen Räten empfohlen hat?
Wenn wir ehrlich sind, werden wir spontan „nein“ sagen.
Auf den ersten Blick scheinen unsere Lebensheiligtümer „Ansehen, Macht und
Heimat“ mit den evangelischen Räten überhaupt nichts zu tun zu haben. Ja,
diese Dinge scheinen sich zu widersprechen und einander im Weg zu stehen.
Ist das nicht für viele von uns überhaupt die Frage: Wie
kann man eigentlich bei solch unbändigem Verlangen nach Ansehen, Macht und
Heimat einen Weg wählen in Gehorsam, ohne Eigentum und in keuscher Ehelosigkeit?
Über das Ziel, das wir alle erreichen wollen, da sind wir
uns im klaren. Nur der Weg dorthin, da gehen die Meinungen auseinander. Da
gibt es solche, die glauben, allein auf sich gestellt, alles erreichen zu
können, Ansehen, Macht, Reichtum. Und sie glauben, das wär’s dann und das wäre
alles.
Und es gibt solche, die beim Erreichen dieses Zieles an
Gott denken, ihm den ersten Platz einräumen, seinem Willen Vorfahrt geben, sich
ihm ganz und gar verschreiben in dem Wissen, dass sie nichts aus sich selber
sind und haben, sondern dass sie alles Gott, verdanken.
In der Tat: Wer kann mir mehr Ansehen und Macht und
Sicherheit und Heimat geben als ER?
Inmitten einer Welt,
in der viele wie besessen auf Geld aus sind und nach Besitz und Reichtum jagen,
wo Wohlstand und sich Viel-Leisten-Können alles bedeutet, inmitten einer Welt
der Raffgier, des Immer-mehr-haben-Wollens und doch Nie-genug-kriegen-Könnens,
da bist Du, lieber N. N., den anderen Weg gegangen, den Weg Jesu, den Weg seiner
ersten Jünger, den Weg des Hl. Franziskus, den Weg der evangelischen Armut.
Nichts gegen Besitz und Geld.
Wir gebrauchen es zum Leben.
Aber ist das alles? Macht das allein glücklich und zufrieden? Ist nicht in all
dem etwas zu wenig? Ist die Sehnsucht des Menschen nicht viel größer?
Viele denken: „Man kann doch nicht leben, ohne etwas
persönlich zu besitzen. Das gibt’s doch gar nicht!“ Doch es gab und gibt
Menschen, die für sich nichts besitzen.
Der Hl. Franziskus konnte stundenlang beten:
„Mein Gott
und mein Alles.“ Sein Alles war Gott. Um Gottes willen hatte er alles
losgelassen und seine Armut hat ihn froh und frei gemacht.
Sehen Sie: Wo einer sich ganz auf Gott einlässt und sein
Leben IHM überlässt, da kann er getrost viele Dinge lassen. Ja, er wird froh und
frei wie kaum jemand sonst.
Inmitten einer Welt,
in der viele nach oben streben, Karriere machen wollen und nur eines im Sinn
haben: Macht. Inmitten einer Welt, wo so vielen jedes Mittel recht ist,
Korruption und Mobbing, um Einfluss zu haben, um eine Position zu haben, um am
Drücker zu sein, da hast Du, lieber N. N., wiederum den anderen Weg gewählt, den
Weg Jesu, den Weg des Dienens, der Verfügbarkeit, des Gehorsams.
Wer dazu bereit ist, verzichtet auf eigene Machtausübung
um jeden Preis. Er verzichtet auf eigenen Durchsetzungswillen auf Teufel komm
raus. Er wird frei, frei von aller Ichverkrampfung, frei für den Ruf Gottes,
frei für den Dienst am Nächsten, frei für die Notsignale und Hilferufe der Zeit.
Viele denken: „Man kann doch nicht leben ohne Einfluss,
ohne Position, ohne Macht.“ Doch es gibt Menschen, die sagen: „Für mich
gibt’s nur eins: das Hören auf den Herrn.“ Das ist Gehorsam. Und nun lass
ich Macht und Position um Gottes Willen. „Was der Mensch vor Gott ist, das ist
er und nicht mehr.“ (Franz v. Assisi)
Inmitten einer Welt,
in der das Ausleben der Sexualität das Glück schlechthin zu sein scheint,
hast Du, lieber N. N., wieder den anderen Weg gewählt, den Weg Jesu, den Weg des
Hl. Franziskus, den Weg der Ganzhingabe an Gott.
Wir verteufeln die Sexualität nicht. Sie ist eine
Gabe Gottes. Sie hat ihren Wert. Aber alles ist sie nicht.
Und die Ehelosigkeit, die Du bei der Profess versprochen
hast, ist auch keine Abwertung der Ehe. Die Ehe ist gut! Wir alle verdanken uns
unseren Eltern. Ohne sie wären wir nicht.
Viele denken: „Man kann doch nicht ohne Partnerschaft
leben. Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.“ Doch es gibt Menschen,
die sagen: „Nichts gegen die Ehe. Aber alles ist sie auch nicht." Sehen
Sie: Wo jemand zum anderen sagt: „Du bist mein ein und alles“, da
wird es gefährlich, da überschätzt er sich und erwartet vom anderen Menschen
Unmögliches. „Mein ein und alles“, das kann kein Mensch auf Dauer halten
und einlösen. Der Frust und die Enttäuschung sind vorprogrammiert. Alles
ist der andere nicht. Gott, nicht ein Mensch ist mein ein und alles. „Gott
nur genügt! – Solo dios basta!“ (Theresia von Avila)
Merken Sie,
liebe Schwestern und Brüder, dass die drei Gelübde gar nicht so sehr
Verzicht sind, sondern Bevorzugung? Gott den Vorzug geben, der Beziehung zu IHM
Vorrang einräumen, der Verbindung zu IHM und letztlich der Freundschaft mit
Jesus Christus absolute Priorität geben. So gesehen ist die
Ordensberufung gar nicht in erster Linie Askese, kein säuerlicher Verzicht,
sondern Leidenschaft für Gott und eine große Liebe.
Bei Exerzitien hat mir eine über 90 jährige Ordensfrau einmal
gesagt: „Herr Pater, viel ist passiert in meinem Leben.
Und viel hat sich geändert seit meinem Ordenseintritt. Geblieben ist die Liebe.“
Merken Sie,
liebe Schwestern und Brüder,
wie diese Lebensform, für die sich N. N. vor 25 Jahren entschieden hat –
und es ist ja die Lebensform Jesu selbst – wie diese Lebensform und
dieser Weg, der alternativ ist zu vielem, wie darin durchaus und
vielleicht sogar eher und mehr als sonst wo unsere „Urwünsche“ zum Zug
kommen und Erfüllung finden können?
Wer anders als Gott kann mir Einmaligkeit, Ansehen und
Originalität geben, die ich mir wünsche? Wer anders als Gott kann mir
Selbstmächtigkeit und Freiheit geben? Wer anders als Gott kann mir letzte
Sicherheit, Geborgenheit und Halt verleihen? Jeder Mensch – und sei es der
Liebste – ist damit hoffnungslos überfordert.
Lieber N. N.!
Liebe Schwestern und Brüder!
Wir alle sind auf einem Weg. Und wir suchen, was
wir noch nicht haben. Wenn es aber stimmt, dass wir für das „Magis“, das
„Mehr“ geschaffen sind, und wenn es stimmt, dass unser Herz nur Ruhe
findet, wenn es ruht in Gott, dann gibt es gute Gründe, alles auf Gott zu
setzen, sich IHM ohne Vorbehalt zu übereignen, mit Leib und Seele Ihm zu gehören
und mit Haut und Haaren ganz sein Eigen zu sein. Totus tuus.
Lieber N. N.!
Ich wünsche Dir und uns allen, dass wir in dem Verlangen, unsere Urwünsche und
Sehnsüchte zu stillen, immer mehr und immer tiefer erfahren, dass Gott unser ein
und alles ist, „Reichtum zur Genüge“, wie der Hl. Franziskus sagt, „unsere große Glückseligkeit“.
Danke, lieber N. N., für Dein Zeugnis des Glaubens!
Danke für Dein Zeugnis der Treue! Danke für das Zeugnis eines Lebens
in der Freundschaft mit Jesus Christus.
Möge Gott selbst Dein Lohn sein und dir alles
reichlich vergelten!
Und er wird es tun mehr als wir Menschen es vermögen und uns ausdenken können.
Amen
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