„Es war an einem Sommertag“, so erzählt
der Dichter Johannes Jörgensen, „da ließ sich eine Spinne an einem
langen Faden vom Ast eines großen Baumes herab, um in der Ecke drunten
ihr Nest zu bauen.
Sorgfältig fügte sie Faden an Faden, bis
das Wunderwerk vollendet war. – Nun hatte die Spinne keine Sorgen mehr.
Die Sonne schien so herrlich; und so konnte sie sich den ganzen langen
Sommer damit vergnügen, Fliegen zu fangen und das Leben zu genießen.
Aber dann kam ein grauer Septembertag.
Die Sonne blieb hinter den Wolken. An den Zweigen und Blättern und
selbst an den Fäden des Netzes hingen die Tauperlen. Und darum ließ
sich auch keine Fliege mehr sehen. So trübe wie das Wetter draußen, so
elend war es der Spinne zumute.
Und in dieser missmutigen Stimmung ging
sie noch einmal durch ihr Netz und kam dabei an den langen Faden, an dem
sie sich im Frühjahr herabgelassen hatte und an dem das ganze wunderbare
Spinnennetz hing. - Aber um diesen Faden hatte sich die Spinne in all
den sorglosen Tagen nicht mehr gekümmert. Sie hatte ja, was sie zum
Leben brauchte, und das genügte ihr. Wozu sich noch Gedanken machen?
So konnte sich die Spinne jetzt nicht
mehr erinnern, was dieser Faden eigentlich zu bedeuten hatte. Der Faden
schien ihr auf einmal sinnlos zu sein, und so biss sie in ihrer
missmutigen Stimmung den Faden kurzerhand durch.
Da fiel das wunderbare Netz in sich
zusammen, und die Spinne lag wie betäubt drunten am Boden."
Ein wunderbares Gebilde ist unser Leben.
Noch schöner als das Wunderwerk des Spinnennetzes. Und all seine
Schönheit und all seine Herrlichkeit erhält es über den geheimnisvollen
Faden, der von unserem Leben nach oben führt und letztlich in der Hand
Gottes verankert ist. Solange dieser Faden hält, bleibt unser Leben ein
Wunderwerk. Solange wir uns bewusst bleiben, dass wir im letzten mit
unserem ganzen Lebensraum in Gott verankert sind, bleibt unser Leben
geordnet und sinnvoll - auch dann, wenn trübe Tage kommen. Dazu bedarf
es aber immer wieder der Besinnung auf den geheimnisvollen Faden, der
nach oben führt.
Wenn die Arbeitszeit äußerste
Konzentration verlangt, wenn so vieles uns in Anspruch nimmt und wir
fast pausenlos gefordert sind, wenn die Freizeit auch noch ausgefüllt
ist mit allerhand Frust und Kram, wenn das Interesse am Fernsehprogramm
das Hauptinteresse wird, dann bleibt kein Raum mehr für einen Gedanken
nach oben, an den Urgrund unseres Lebens, an Gott.
Und dann wird es nicht mehr lange dauern,
bis dieser gehetzte und oberflächlich gewordene Mensch auch religiös
erschlafft, lustlos wird, geistlich träge. Alles wird Gewöhnung und
Trott und pure Pflichterfüllung: Zeichen für den Verlust des Fadens nach
oben.
Ja, es passiert leicht, dass der Faden
nach oben immer dünner wird, immer spärlicher. Vielleicht ist er schon
ganz durchgescheuert. Und eines Tages reißt er. Und ein Leben gleitet in
die Sinnlosigkeit ab.
Eine Chance der Exerzitien sehe ich
darin, dass uns wieder einmal Raum und Zeit gegeben wird, um uns
intensiver als sonst, gründlicher und ernsthafter als sonst, um den
Faden zu kümmern, der unser Leben mit seinem Urgrund verbindet.
Wie sieht mein Faden zum lieben Gott aus?
Gegebenenfalls gilt es, den zerrissenen
Faden neu zu knüpfen oder den sehr dünn gewordenen Faden auszubessern
und zu stärken.
Ein starker Faden jeder und jedes
Einzelnen nach oben, das ist die Grundlage für unser gemeinschaftliches
Leben und unser Dasein und unser Engagement mitten in der Welt.
Am Faden nach oben weben, den Faden neu
knüpfen und festigen, das mag das besondere Geschenk dieser
Exerzitientage sein. – Ich wünsche Ihnen, dass es wirklich Tage des
Heils, Tage der Gnade werden, uns selbst und anderen zum Segen. |