Barmherzigkeit: Ist das nicht
eine seltsame, altmodische Vokabel?
Barmherzigkeit: Klingt das
nicht irgendwie muffig, lammfromm, realitätsfern?
Barmherzigkeit: Passt das in unsere Welt, in eine Welt, in
der mit harten Bandagen gekämpft wird? In eine Welt voller Brutalität,
der Korruption, des Mobbing am Arbeitsplatz, der erbitterten
Machtkämpfe? In eine Welt der Rücksichtslosigkeit und unverhohlenen
Selbstsucht?
Barmherzigkeit:
Ist das erstrebenswert?
Gelten in unserer Gesellschaft nicht ganz andere Werte?
Sind nicht ganz andere Haltungen gefragt, wenn man’s zu
was bringen will, wenn man nicht unter die Räder kommen, hoffnungslos
abgehängt, untergebuttert und ausgenutzt werden will?
Lernen nicht schon unsere Kinder, sich durchzusetzen,
stark zu sein, schlagfertig, sich zu behaupten und zu wehren?
„Selig die
Barmherzigen!“
sagt Jesus in der Bergpredigt. (Mt 5, 7)
Weltfremder, so möchte
man meinen, geht’s nicht.
„Selig die
Barmherzigen!“ – Ist
das ein Witz? Klingt das nicht wie Hohn? Im Alltag, im Beruf, in
Wirtschaft und Politik, ja in allen Lebensbereichen zählen doch ganz
andere Dinge! – Da gilt das Gesetz des Stärkeren. Da geht’s nach dem
Motto „Wie du mir so ich dir!“ Da weiß man, wo man dran ist. Kann
die Welt anders überhaupt in Ordnung gehalten werden?
Doch heißt barmherzig
sein, dass ich alles mit mir machen lasse, mir alles gefallen lasse,
immer nachgebe, alle Gehässigkeiten hinnehme, alle Demütigungen
hinunterschlucke, alle Schläge (und seien es nur Nadelstiche), verbale
und andere, ertrage? Ist man da nicht immer die Dumme? Und wird solche
Gutmütigkeit nicht gnadenlos ausgenützt?
Schauen wir auf Jesus!
Die Seligpreisungen sind
ein Portrait von ihm selbst. Sie sind nur verständlich von ihm her. Auch
die Barmherzigkeit bekommt Sinn von seinem Leben und Wirken, von ihm
her, der die Willkür und Bosheit der Menschen wie kaum ein anderer zu
spüren bekommen hat.
Jesus sagt einmal:
„Lernt von mir, denn
ich bin sanftmütig und demütig von Herzen!“
Sanftmütig reitet er auf
einem Esel, nicht hochmütig, nicht machtbesessen.
Er bückt sich und tut
Sklavendienst, wenn er seinen Jüngern die Füße wäscht.
Zu Petrus sagt er: „Steck dein Schwert in die Scheide!“
Jesus verzichtet im
entscheidenden Moment auf Gewalt.
Er schlägt nicht mit
gleichen Waffen zurück, obwohl er es könnte.
Er verzeiht seinen
Henkern. Er durchbricht den Teufelskreis des Bösen.
Hass und Wut laufen sich
buchstäblich tot an ihm.
Andererseits bedeutet für
Jesus, barmherzig zu sein nicht, zu allem Ja und Amen zu sagen.
Jesus war ohne Zweifel
ein konfliktfreudiger Mensch. Er bekannte Farbe.
Er sagte offen seine
Meinung. Er scheute nicht die Auseinandersetzung.
Als ihn einer beim Verhör
vor Pilatus schlägt, fragt er zurück: „Warum schlägst du mich?“
Jesus nennt Bosheit,
Selbstsucht, Heuchelei beim Namen.
An Jesus sehen wir:
Barmherzigkeit hat nichts
damit zu tun, Konflikten aus dem Weg zu gehen oder sich Ärger zu
ersparen.
Barmherzigkeit hat nichts
mit Duckmäusertum oder Feigheit zu tun.
Es ist auch keine
Passivität oder Resignation. Barmherzigkeit ist sogar höchste Aktivität.
Es ist befreiendes Handeln.
Wer barmherzig ist,
ist mutig.
Barmherzigkeit meint den
Mut, in einer von Gewalt geprägten Gesellschaft nicht Böses mit Bösem zu
vergelten, sondern Not zu sehen und zu lindern. Der Barmherzige hat Mut,
den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen, den
Mechanismus von Schlag und Gegenschlag zu beenden und an die Stelle des
Bösen das Gute zu setzen.
Barmherzig sind nicht
diejenigen, die alles dulden und hinnehmen.
Wer barmherzig ist geht
weiter. Er geht darüber hinaus.
Wer barmherzig ist, hat
den Mut, statt zu hassen zu lieben; statt zu verfluchen zu segnen; statt
Wunden zu schlagen, Wunden zu heilen; statt eisig zu schweigen, zu
grüßen. Ja es gehört Mut dazu, barmherzig zu sein, in einer
Gesellschaft, wo jeder nur die Ellbogen gebraucht.
Die Barmherzigen sind
keine Schwächlinge. Sie sind stark.
Diejenigen, die
zuschlagen und Gewalt anwenden, überspielen allzu oft nur ihre eigenen
Schwächen. Und sie suchen sich noch Schwächere und Wehrlose, um sie zu
drangsalieren und auf ihnen herumzuhacken.
Gewalt gegen Frauen,
Kinder, alte Menschen, gegen Ausländer und Andersdenkende. Gewalt in der
Schule, am Arbeitsplatz, in der U-Bahn, auf der Straße, Gewalt im
Fernsehen.
Der Barmherzige dagegen
braucht nicht die Argumente der Faust.
Er verzichtet auf die
Gewalt der Zunge und des Herzens. Er übt Liebe.
Musst du wirklich immer
stark, mächtig und erfolgreich sein.
Musst du wirklich immer
alles besser wissen, Recht haben, der Gewinner sein?
Wäre es nicht besser,
andere Menschen zu verstehen, sich in sie einzufühlen, achtsam mit ihnen
umzugehen, weil sie wie du Ebenbild Gottes und Sohn und Tochter Gottes
sind?
Musst du wirklich dauernd
konkurrieren, rivalisieren, dich mit anderen vergleichen. Missgunst,
Neid und Eifersucht sind die Folgen.
Wäre es nicht besser,
echte Gemeinschaft zu erleben, menschliche Nähe und Wärme, Freude und
Vertrauen zu spüren?
Musst du wirklich immer
oben sein, der Beste, mehr haben? Mit hängender Zunge? Ein Getriebener
und Gehetzter?
Wäre es nicht schöner und
verheißungsvoller, menschliche Beziehungen aufzubauen, sich um jemanden
zu kümmern, der einen braucht, Zeit haben, zuhören, wo wir doch wissen,
dass alles im Leben geliehen ist und wir doch nichts mitnehmen können?
Musst du dem anderen
wirklich immer alles heimzahlen? Warum kennst du kein Pardon? Muss der
Teufelskreis von Hass und Unrecht immer weitergehen, Gewalt immer noch
mehr eskalieren?
„Spreng die Fesseln
der Gewalt!“
heißt es beim Propheten Jesaja. „Zertrümmere
jedes Joch! Gib frei die Misshandelten!“
Das heißt doch: Sag nein zur Gewalt. Schlag einen Keil in
den Kreislauf von Hass und Rache. Sag ja zum Frieden!
Das ist nicht Passivität. Das ist eine neue Initiative.
Das ist eine neue Gangart des Lebens.
Nicht das Böse diktiert mehr das Gesetz des Handelns,
sondern das Gute, nicht der Hass sondern die Liebe, nicht Vergeltung,
sondern Vergebung.
„Selig die
Barmherzigen!“
Wer barmherzig ist, geht
nicht mit dem Kopf durch die Wand.
Wer sich bemüht,
barmherzig zu sein, braucht einen langen Atem und viel Kraft. Wer
barmherzig ist, tut immer weniger mit Gewalt und mehr mit Geduld.
Barmherzigkeit macht mich Jesus ähnlich, lässt mich evangeliumsgemäß
leben. Barmherzigkeit macht mein Christsein überzeugend und glaubwürdig.
Nicht nur das: Ich selbst
werde ein Ort, wo Menschen aufatmen können, Beheimatung fühlen, Licht
und Wärme spüren, Freiheit und Weite erleben, Hoffnung und Zukunft
erfahren.
Und vielleicht könnte
mancher Verbitterte und Verschlossene, mancher Hartgesottene und
Gewalttätige wieder an Gottes Güte und Erbarmen glauben, und manches
Misstrauen und mancher Egoismus würde aufgebrochen, wenn ihm gegen alle
Erwartung menschliche Güte, menschliche Anteilnahme, Wertschätzung und
herzliche Liebe begegnen.
Denn wirklich heilen und
versöhnen und zum Leben befreien können nur Geduld und Güte, Liebe und
Erbarmen.