Ich möchte Sie
einladen, heute einmal das Augenmerk auf den älteren Sohn zu richten. Er
ist die eigentlich tragische Figur in diesem Hohelied auf die barmherzige Liebe
Gottes. Ob wir uns nicht gerade in ihm wieder finden?
Ist
seine Verärgerung, seine Empörung nicht sehr verständlich? Hätten wir an seiner
Stelle nicht genauso reagiert?
Man kann ja
vieles ertragen und geduldig hinnehmen. Man kann vieles einstecken und
hinunterschlucken. Man kann manches lange mit ansehen und gute Mine zum bösen
Spiel machen. Aber einmal reicht`s einem. Dann ist das Maß voll. Das Fass läuft
über. Dann bricht alles aus der Seele heraus.
Der ältere Sohn: Er hat nie Ärger gemacht, nie widersprochen.
Er hat sich immer angepasst und gefügt. Nie hat er sich etwas herausgenommen,
nie sich etwas zu Schulden kommen lassen, noch jemals über die Stränge
geschlagen. - Pflichtbewusst ist er, gewissenhaft, ordentlich, anständig,
arbeitsam. Wortlos und treu verrichtet er tagein tagaus seinen Dienst. Er weiß:
Es wird einem nichts geschenkt. Alles hat seinen Preis. Von nichts kommt nichts.
Und jetzt
bekommt der andere ein Fest. Alles wird ihm zurückgegeben, was er verspielt,
verprasst und vergeudet hat. Empfangen wird er wie ein Weltmeister! Wo bleibt da
die Gerechtigkeit?
Der ältere Sohn versteht die Welt nicht mehr. Er reagiert sauer,
stocksauer. Eifersucht und Zorn steigen in ihm auf. So sehr fühlt er sich
zu kurz gekommen, übergangen, benachteiligt, gekränkt,
so tief sitzt Neid und Missgunst, so sehr empfindet er das Verhalten des
Vaters als Provokation, dass er wie gelähmt ist. Er bringt es nicht fertig,
„mein Bruder“ zu sagen: „der da, dein Sohn“.
Und
nun will der Vater auch noch, dass er am Freudenfest teilnimmt. Da sträubt
sich alles in ihm dagegen. Voll Trotz ist er. Er denkt nicht dran. Alles, nur
das nicht! - Wer will’s ihm verdenken? Kann ihm das jemand verübeln?
Wenn
schon der Vater dem da, diesem Taugenichts, diesem Tagedieb, diesem elenden
Sünder nicht die Tür weist - verdient hätte er es ja! Strafe muss sein! -
aber einige Jahre wie einen Tagelöhner hätte er ihn wenigstens halten
können, eine gehörige Standpauke verabreichen, ihm ordentlich die Leviten lesen.
Erst mal beweisen hätte der müssen, dass er es
wirklich ernst meint. Alles, was recht ist! Wer nicht hören will, muss fühlen!
Statt dessen: Umarmung, Kuss, Mastkalb, Festkleid, Freudenmahl! Ohne
Vorbedingungen, einfach so! Ist das zu verstehen? Ist das nicht des Guten
zuviel? Gehört dem nicht viel mehr ein Denkzettel, und zwar ein saftiger? Sollte
der nicht erst mal auslöffeln, was er sich eingebrockt hat? Sollte der sich
nicht erst mal bewähren, bevor er so mir nichts dir nichts wieder aufgenommen
wird und die Sohnschaft zurückerhält?
Statt dessen wird er mit Samthandschuhen angefasst und ihm zu lieb
und ihm zu Ehren ein Fest veranstaltet. Er selbst, der immer da war, auf den
stets Verlass war, der total solid gelebt hat, er hat nie auch nur annähernd
etwas derartiges bekommen.
Und
nun wird der Ausreißer ihm, der immer zur Verfügung stand gleich-, ja sogar
besser gestellt, der Versager dem Leistungsträger, dieser liederliche Kerl ihm
dem Guten, dem Rechtschaffenen. Ist das gerecht? Wer wäre da nicht erbost und
empört? Wer würde nicht verbittert, hart und trotzig?
Fragen
wir an dieser Stelle, wem erzählt Jesus dieses Gleichnis? Er erzählt es den
99 Gerechten, dass sie Verständnis hätten für das 100te Schaf. Er erzählt es
denen, die erbost, empört sind darüber, dass er sich der Zöllner und Sünder
annimmt, ja sogar mit ihnen isst, also mit Leuten zusammenlebt, auf die andere
mit dem Finger zeigen, um die anständige Menschen einen Bogen machen, in deren
Nähe man ausspuckt, innerlich zumindest.
Dass
er mit diesen Wertlosen, Gemiedenen, Verachteten Gemeinschaft pflegt, dass
er die Güte Gottes verkündet ohne Schranken und Grenzen, dass er allen
voll Erbarmen begegnet ohne Wenn und Aber, dass er seine verzeihende Liebe nicht
von Voraussetzungen abhängig macht und die Vergebung des Vaters an keine
Bedingungen knüpft, das eben ist der Skandal in den Augen derer, die
keinen Sabbat auslassen, die tagein tagaus viele Gebete aufsagen, große Opfer
bringen, haargenau die Paragraphen des Gesetzes achten, große Spenden machen und
fasten, dass es staunenswert ist, ihnen, den „Richtigen“, die sich für
rechtschaffen und fromm halten, die aber doch so hart, so verbissen, so
verbittert und unbarmherzig sein können, erzählt Jesus dieses Gleichnis als
Verteidigung gegen ihre Angriffe, als Rechtfertigung für seine Zuwendung zu den
Sündern.
Sehen
Sie: im älteren Sohn malt Jesus ein Porträt dieser Selbstgerechten, die sich
keiner Schuld bewusst sind, die meinen sie wären recht, ihnen kann niemand etwas
vorwerfen und sie selbst haben sich auch nichts vorzuwerfen. Gleichzeitig
schauen sie voll Hochmut und Verachtung auf die Gescheiterten, Verlorenen und in
ihren Augen verkrachten Existenzen herab.
Für
sie hängt Gottes Liebe von Voraussetzungen ab. Sein Erbarmen ist an
Bedingungen geknüpft. Sie denken ausschließlich in Kategorien von Strafe und
Buße, Wiedergutmachung und Bewährung, Ordnung und Recht. Askese und Moral stehen
bei ihnen an oberster Stelle. Gnade und Freiheit, ja sogar Freude sind für sie
Fremdwörter. Für sie ist Gott einer, der straft und zurechtweist, bei dem
man erst was bringen muss, der erst Leistungen, Verdienste, Bußwerke sehen will,
bevor er die Tür öffnet. Grundlose, grenzenlose, bedingungslose Liebe und
Vergebung passt nicht in ihr Bild von Gott. Erst Sühne, erst Wiedergutmachung -
dann Vergebung. Das ist der pharisäische Standpunkt. Und diesen Standpunkt
vertritt auch der ältere Sohn. Jesus erzählt dieses Gleichnis Menschen, die dem
älteren Sohn gleichen.
Der Vater
hört sich die Klagen und Vorwürfe des älteren Sohnes an. Er versucht ihm sein
Handeln begreiflich und seine Freude über die Heimkehr des Jüngsten verständlich
zu machen: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist
dein.“ Warum kannst du dich nicht mitfreuen, warum weigerst du dich, wo du
doch die Sohnschaft und damit alles als Geschenk hast? Der Vater war bereit,
alles mit ihm zu teilen, nicht nur die äußeren Gaben, die Lebensgüter, sondern
auch seine Liebe. Die Liebe des Vaters war immer da. Aber der Ältere hat diese
Liebe nie angenommen.
Zum zweiten Mal geht an diesem Tag der Vater einem verlorenen Sohn
entgegen, diesmal dem Älteren, dem Angepassten, der nie aus der Reihe getanzt
ist, nie etwas Verbotenes getan hat, sich nun aber in der Opferrolle fühlt.
Und doch: Ist nicht auch er vom Vater abgefallen? Zwar nicht äußerlich. Aber
hat er sich nicht innerlich vom Vater entfernt, sich ihm entfremdet. Das Wort
„Vater“ findet sich in seinem Mund ebenfalls nicht. Statt dessen redet er
vom Knechtsein. Sieht er im Vater nur den Herrscher, in der Kindschaft eine Form
der Knechtschaft? Voll Zorn regiert er nicht nur auf den jüngeren Bruder,
sondern auch auf den Vater. Ist nicht auch er in gewissem Sinn „tot“ und muss
wieder zum Leben, zur Liebe finden?
Von Dankbarkeit
für das Leben im Haus des Vaters keine Spur, vielmehr Enge, Selbstgerechtigkeit,
heimlicher Neid auf die Freiheit des anderen. Nach außen korrekte Fassade, aber
dahinter: Eifersucht, Aggressivität, Groll, Bitterkeit, große Unzufriedenheit.
Liebe Schwestern und Brüder!
Dass der
verlorene und weggelaufene Sohn zurückfand zu seinem Vater erzählt Jesus als
Gewissheit. Ob aber dieser „richtige“ ältere Sohn der Einladung des Vaters
folgt, ins Vaterhaus zurückkehrt und teilnimmt am Fest der Freude, das erzählt
die Geschichte nicht. - Der verlorene Sohn darf beglückend erfahren, dass
er für den Vater trotz allem Kummer, den er ihm gemacht hat und trotz aller
Irrungen und Verwirrungen seines Lebens, noch Sohn ist, dass er angenommen ist.
Ob auch der Ältere das Geheimnis der Vater-Kind-Beziehung verstehen
lernt, ob es dem Vater gelingt die enge Sicht des Sohnes zu weiten, ob auch
er sich besinnt und umkehrt und von der Freude des Vaters anstecken lässt,
wissen wir nicht. Das Gleichnis hat einen offenen Schluss. Selber müssen wir uns
fragen, wo wir stehen und wo wir hingehören.
Haben wir die
Botschaft von der grenzenlosen Güte und bedingungslosen Liebe Gottes wirklich
begriffen? Ist für uns Gott wirklich der liebende Vater des Gleichnisses oder
ist er für uns noch immer der strenge Richter und Rächer, der strafende Gott?
Später
wird der Verfasser des Johannesbriefes schreiben: „Gott ist die Liebe.“ Das
ist sein Wesen. Er kann nicht anders als lieben. Und nur die Liebe, die Güte
kann ein Herz verwandeln.
In der
Bergpredigt aber sagt Jesus: „Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel
barmherzig ist.“ – Und an anderer Stelle: „Liebt einander, wie ich euch geliebt
habe.“ Petrus fragt einmal: „Wie oft muss ich meinem Bruder vergeben,
wenn er sich gegen mich versündigt hat? Sieben mal?“ Und er meint damit sehr
hoch zu greifen. Jesus antwortet: „Nicht sieben mal, sondern siebenundsiebzig
mal.“ Ohne Ausnahme, immer! „Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen, wie
ich mit dir Erbarmen hatte?“ (Mt. 18, 33) Gottes Liebe ruft unsere Liebe!
Amen