Ein Kind weint. Es ist hingefallen und
hat sich weh getan. Weinend läuft es zu seiner Mutter. Diese nimmt das
Kind liebevoll in den Arm, streicht ihm zärtlich über den Kopf, drückt
es fest an sich und spricht ihm verständnisvoll zu. Schnell beruhigt
sich das Kind. Bei der Mutter findet es Geborgenheit und Trost.
Dieses Bild, liebe Schwestern und Brüder,
ist mir beim Lesen und Meditieren der alttestamentlichen Lesung
gekommen.
Da
heißt es: „Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet,
so tröste ich euch!“
Welch ein Wort! Welch ein kühnes Bild von
Gott!
Gott tröstet so, wie eine Mutter tröstet!
Dieses Wort und dieser Abschnitt der
Lesung stammen aus dem dritten Teil des Jesajabuches, dem so genannten
Tritojesaja.
Der Prophet spricht in eine Zeit, die von
großer Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist.
Eine kleine Gruppe Gefangener durfte aus
dem babylonischen Exil heimkehren. Aber ihre Lage ist trostlos: große
wirtschaftliche Not, politische Unsicherheit, das Land weithin verödet
und von Fremden ausgebeutet, Jerusalem verwüstet. Symbol der
Enttäuschung ist der zerstörte Tempel.
Doch der Prophet teilt nicht die
Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit des Volkes. Er sieht weiter.
Er glaubt an eine Wende. Und so versucht er, aufzurichten und zu
trösten.
Natürlich ist er nicht blind. Er weiß,
wie die Gegenwart aussieht: ganz schlimm, äußerst miserabel. Das Volk
muss vieles durchleiden. Aber der Prophet sieht die Zukunft positiv,
weil sie Gottes Zukunft ist, Zukunft des Gottes der mächtig, verlässlich
und treu ist. Ihm ist das Schicksal seines Volkes nicht gleichgültig.
Gott wird wenden Not und Leid.
Ja,
der Prophet wagt sogar, ein Jubellied anzustimmen und zur Freude
aufzurufen: „Freut euch mit Jerusalem! Jubelt
in der Stadt! Seid fröhlich, die ihr traurig wart!“
Ein ganz eindringlicher Aufruf zur
Freude, obwohl – objektiv gesehen – die Lage völlig desolat ist und das
Volk nichts zu Lachen hat.
Doch der Prophet ist gewiss:
Es gibt Zukunft und Hoffnung. Gott gibt
Zukunft und Hoffnung.
Die zukünftige Wende, das neue Heil, ist
derart, dass nur Bilder es beschreiben können: Bilder der Freude und
des Überfluss. Kraftvolle Bilder, die die Verzagten und Deprimierten
aufrütteln sollen. Sie sollen bei allen Schwierigkeiten, die es
zweifellos gibt, das Gute nicht vergessen, z. B. das Wunderbare der
Heimkehr aus der Gefangenschaft. Und sie sollen an die Verheißungen
Gottes glauben.
Bilder der Freude, Bilder des Überfluss:
Jerusalem als Mutter, an deren Brust ihre
Kinder, die Judäer, trinken und überreich satt werden.
Der kommende Friede, das kommende Heil:
ein breit dahinfließender Strom.
Der Reichtum der Völker: ein rauschender
Bach, der Juda bewässert.
Und die noch in Babel Gefangenen werden
herbeigebracht; die in der Zerstreuung lebenden Judäer werden aus den
Völkern zurückgeführt – nicht unter Zwang, sondern zärtlich.
Wie Kinder, sagt der Prophet, wird man
sie auf den Armen tragen und auf den Knien schaukeln.
Überfließende Liebe, überströmende Güte
spricht aus all diesen Bildern, die Hoffnung wecken wollen.
Das alles aber ist Tat Gottes, Tat eines
Gottes, der sich – wie eine Mutter – zärtlich den Seinen zuwendet und
sich liebevoll um sie kümmert.
Was auffällt, liebe Schwestern und
Brüder:
Fast alle Bilder, die der Prophet
verwendet, haben fraulich-mütterliche Züge. Auch das Bild für Gott!
Ganz deutlich und unbefangen lässt der Prophet Gott sprechen:
„Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so tröste ich euch!“
Gott als Mutter, mit weiblichen,
mütterlichen Eigenschaften!
Welch kühnes Bild! Und dieser
mütterlich-tröstende Gott wird nicht für irgendwann angekündigt. Er ist
hier und jetzt erfahrbar.
„Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so
tröste ich euch!“
Diesem Wort ganz nahe steht ein anderes,
ebenfalls bei Jesaja:
„Zion sagt: Der Herr hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen. Kann
denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren leiblichen
Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: ich vergesse dich nicht!“ (49, 14 - 15)
Gott ist da und liebt und sorgt wie eine
gute Mutter!
Gottes Einsatz für Israel, Gottes Stehen
zu Israel, Gottes Sich-Kümmern übersteigt sogar noch die Liebe einer
Mutter.
„Gott ist Vater, und mehr noch, er ist Mutter!“
So hat es Papst Johannes I. während
seines 30-tägigen Pontifikates in einer Ansprache ausgedrückt. Ein Wort,
das aufhorchen ließ.
Auch Jesus scheut sich nicht, für sich
ein Bild mütterlicher Zuwendung zu wählen: „Wie oft wollte ich deine
(Jerusalems) Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter
ihre Flügel nimmt!“ (Mt 23, 37)
Liebe Schwestern und Brüder!
Ein Wesenszug Gottes ist seine
Mütterlichkeit.
Es ist gut und es ist an der Zeit, dass
wir Christen uns diesem Aspekt der Gottesoffenbarung wieder öffnen!
„Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so
tröste ich euch!“
Die mütterliche Zuwendung Gottes zu
seinem Volk bewirkt Freude und Jubel. Und gleichzeitig – zusammen mit
Freude und Jubel – Hoffnung, neues Leben, neue Vitalität: „Wenn ihr
das seht, wird euer Herz sich freuen, und ihr werdet aufblühen wie
frisches Gras.“ Wie verdurstende Pflanzen wieder frisch werden, wenn
sie Wasser bekommen, so wird das Volk unter dem Trost Gottes aufleben.
Liebe Mitchristen!
Wie oft gleichen wir dem Kind, das sich
weh getan hat und bei der Mutter Trost und Hilfe sucht.
Bei uns sind es nicht die kleinen
Wehwehchen, die mit einem „Heile, heile Gänschen“ schnell
vergehen und alles ist wieder gut. Wir Erwachsene kennen ja auch
anderes, was entsetzlich schmerzt und weh tut, Sorgen Nöte, Ängste,
Bedrängendes und Bedrückendes, Schlimmes, Tragisches, Schicksalhaftes,
Dinge, die ganz arg zusetzen und schwer zu schaffen machen.
Aber auch wir können und dürfen uns an
Gott wenden, der wie ein guter Vater ist und wie eine liebende Mutter.
„Wir heißen Kinder Gottes und sind es.“
Wir dürfen bei ihm Zuflucht, Schutz und
Hilfe suchen.
Und können Trost und Heil erfahren.
Das Gottesbild und die Botschaft des
Tritojesaja ermutigen uns dazu. Es ist das Bild eines zärtlichen Gottes,
es ist die Botschaft eines Gottes der Liebe, der wie eine Mutter da ist
und sich um sein Volk und jeden einzelnen sorgt.
„Wie eine Mutter ihren Sohn tröstet, so
tröste ich euch.“
Das ist Frohe Botschaft, Botschaft, die
Mut macht und Hoffnung weckt! Hoffnung aber schenkt Freude! Und Freude
ist das Glück des Lebens.
Liebe Schwestern und Brüder!
Wie jetzt im Sommer die Sonne wärmt und
ihr Licht der Seele gut tut, wie die Natur wächst, blüht und gedeiht,
wie die Farbenpracht das Auge beglückt, so können wir unsere Seele in
die Sonne der Liebe Gottes halten, uns an dieser Liebe wärmen, uns davon
durchdringen und erfüllen lassen, so sehr, dass es sogar abfärbt,
ansteckend wirkt, übergreift und überströmt auf andere.
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