Erinnern Sie sich noch an
die erste Lesung, die alttestamentliche aus dem Propheten Nehemia? Eine
wunderbare Erzählung!
Was da geschildert wird,
ereignet sich in der Zeit nach der babylonischen Gefangenschaft, Mitte
des 5. Jahrhundert vor Christus.
Jahrzehnte waren die
Juden im Exil, in der Verbannung. Dann hat Kyros, der König von Persien,
ihnen die Rückkehr in ihre Heimat erlaubt.
Nicht alle machten davon
Gebrauch. Viele hatten in Babylon eine neue Existenz aufgebaut. Die
Schar, die sich auf den Heimweg machte, fand das Land verwüstet und
Jerusalem war zerstört.
Die Felder, Weinberge und
Häuser hatten andere in Besitz genommen und unter sich aufgeteilt.
Und so kommt es, dass den
Heimgekehrten nicht nach Freude und Jubel zumute war. Die Stimmung war
eher traurig, resigniert, depressiv. Vor allem im religiösen Bereich
griffen Müdigkeit und Lähmung um sich.
In dieser bedrückenden
Zeit spielt die Szene, die wir in der Lesung gehört haben.
Es ist Herbst, Erntefest.
In Jerusalem findet ein Open Air-Gottesdienst statt, eine
Wort-Gottes-Feier im Freien.
Auf einem Platz hat man
eine hölzerne Kanzel errichtet. Und der Priester Esra liest aus dem Buch
des Gesetzes vor. Das Volk lauscht tief betroffen. Eine ganz dichte
Atmosphäre ist spürbar. Esra liest den ganzen Vormittag. Die Menschen
werden dabei derart ergriffen, dass ihnen die Tränen in die Augen
steigen. So sehr geht ihnen das Wort Gottes nahe, so sehr sind sie
betroffen und berührt, dass sie weinen.
Zwei Dinge fallen
mir auf und darüber wundere ich mich:
Erstens:
die Ausdauer der Leute. Das war kein Gottesdienst von einer dreiviertel
Stunde oder Stunde. Den ganzen Vormittag las Esra aus dem Buch des
Gesetzes vor. Bei uns darf der Pfarrer über alles predigen, nur nicht
über zehn Minuten! Und dauert der Gottesdienst schon mal annähernd eine
Stunde, dann wird auf die Uhr geschaut und Unwille regt sich.
Gut, Esra, der Priester
damals, hat nicht nur aus dem Buch des Gesetzes gelesen. Er und die
Leviten gaben auch Erklärungen, Kommentare, so dass die zum Gottesdienst
versammelten Gläubigen das Gehörte auch verstehen konnten. Vielleicht
fehlt das manchmal heute, dass das Gehörte rüber kommt, ankommt, dass s
nicht nur den Kopf, sondern auch das Herz erreicht.
Zweitens fällt mir
auf:
Die Leute brechen beim Hören des Gesetzes in Tränen aus. Sie weinen.
Sonderbar, nicht wahr?
Sind Ihnen, liebe
Mitchristen, beim Hören des Wortes Gottes oder bei einer Besinnung
darüber schon mal die Tränen gekommen? Waren Sie schon mal vom Wort
Gottes so ergriffen, fühlten sich schon mal so persönlich angesprochen
und berührt, dass Sie geweint haben?
Nun, liebe Schwestern
und Brüder,
für Israel ist das Gesetz nicht eine Menge trockener Paragraphen und
Vorschriften. Es ist Gottes Weisung. Sie will zu einem gelingenden und
geglücktem Leben verhelfen. Das versammelte Volk spürt tief betroffen:
Dieses Wort meint uns. Das geht uns an.
Vor allem aber:
Wenn Esra aus dem „Gesetz“ vorliest, dann sind das nicht nur die zehn
Gebote vom Sinai und andere Vorschriften und Gesetze. Das „Gesetz“, die
Tora, das sind die ersten fünf Bücher der Bibel. Das sind auch die
alten, spannenden Geschichten von der Treue und Rettung Gottes: die
Erzählung von Jakob und Esau zum Beispiel, die Erzählung von Josef und
seinen Brüdern, die Geschichte von Mose am Dornbusch, wo Gott sich
offenbart als der „Ich-Bin-Da“ und sich solidarisiert mit den Menschen,
die in Ägypten unterdrückt sind Es ist die Erzählung von der Rettung
Israels am Schilfmeer, wo sich das Volk in auswegloser Lage befand, die
Übermacht der Ägypter hinter sich, den sicheren Tod vor Augen, und wo
sich ganz unerwartet ein Ausweg auftut. Wunderbare Rettung. Es sind
unglaublich tröstliche Erzählungen, Hoffnungsgeschichten.
Immer wieder rettendes
Eingreifen Gottes auch in der Zeit der Wüstenwanderung. Hunger und
Durst, Entbehrung und Mutlosigkeit. Oft wusste Israel nicht, wie es
weiter gehen sollte, und es ging dann doch weiter.
Den Bundesschluss am
Sinai, die Landnahme, all das und vieles mehr ruft der Priester Esra
seinen mutlosen Landsleuten in Erinnerung. Er tut es sehr lebendig,
mitreißend, nicht wie ein Nachrichtensprecher, sondern engagiert,
leidenschaftlich, überzeugend.
Und die Leute stehen da,
hören, lauschen. Es ist ein Hören mit Leib und Seele. Es ist ein Hören
mit dem Herzen. Und es geht ihnen zu Herzen. Sie sind ganz betroffen und
weinen vor Ergriffenheit. Warum? Ganz einfach, weil ihnen diese
Erzählungen von Gottes Mit-Sein, von seinem befreienden Handeln, von
seiner Fürsorge und seinen rettenden Taten, weil ihnen das in ihrer
Situation unheimlich gut tut. Sie empfinden das Wort Gottes regelrecht
als eine Wohltat. Es ist für sie Trost, es gibt ihnen Halt. Es richtet
auf und stärkt. Es macht Mut und schenkt Hoffnung.
Die Menschen erkennen:
Gott hat uns nicht vergessen. Auch wenn der Anfang in der alten Heimat
schwer ist, auch wenn wir arm dran sind und es uns nicht gut geht: Gott
ist da. Er ist mit uns. Er lässt uns nicht im Stich. Er hat uns nicht
verlassen.
Sehen Sie, liebe
Schwestern und Brüder!
Die lebendige
Verkündigung des Wortes Gottes durch den Priester Esra weckt in den
verunsicherten Menschen neue Hoffnung. Und immer wieder gab es auch
Lobpreis zwischen der Verkündigung, Dank, Antwort und leibhaftiges
Beten. Das war kein total verkopfter und langweiliger Gottesdienst.
„Esra“,
so heißt es, „pries den Herrn, den großen Gott. Darauf antworteten
alle mit erhoben Händen: Amen, Amen! Sie verneigten sich, warfen sich
vor dem Herrn nieder mit dem Gesicht zur Erde.“ Wer von uns hat
schon mal so gebetet, so inständig, so emotional, so leibhaftig? Nicht
nur mit Worten, ganzheitlich, auch mit dem Leib. Der Leib betet. Der
ganze Mensch wird zum Gebet.
Am Schluss – das finde
ich sehr schön – da gibt der Priester Esra einen Rat, so praktisch, wie
man es einem Priester kaum zutrauen möchte. Er sagt: „Nun geht, haltet ein festliches Mahl und trinkt süßen
Wein! Schickt denen etwas, die nichts haben, denn heute ist ein heiliger
Tag zur Ehre des Herrn.“
Der Open Air-Gottesdienst
endet mit einer fröhlichen Agape. Mitten in notvollen Zeiten eine
Mahlfeier. Aller Trostlosigkeit zum Trotz ein Fest des
Miteinander-Teilens.! Die Freude braucht einen sichtbaren Ausdruck. Sie
will verkostet werden.
Bevor die Leute nach
Hause gehen, ruft ihnen Esra noch zu: „Macht
euch keine Sorgen, denn die Freude am Herrn ist unsere Stärke.“
Nicht Trauer und Tränen
haben das letzte Wort, sondern die Freude, die Freude an Gott, aus der
Kraft kommt, Zuversicht und neue Hoffnung.
Liebe Schwestern und
Brüder!
„Die Freude am Herrn
ist eure Kraft“ Dieses Wort, das der Priester Esra damals in schwerer
Zeit den Gläubigen als Aufmunterung zurief, das ist heute so aktuell wie
damals. Es ist auch uns gesagt. Und es gilt auch den Gemeinden und der
Kirche insgesamt.
Nicht Klagen und Jammern
hilft weiter, nicht Selbstmitleid, nicht ständige negative Kritik an
„denen da oben“, auch nicht endlose Diskussionen über die immer gleichen
kirchlichen Themen, auch nicht immer neue Debatten über
Strukturveränderungen in der Seelsorge, sondern Zuversicht und Freude
aus dem Wort Gottes, Leben nach der Weisung des Herrn und die Gewissheit
seiner Gegenwart.
Vielleicht sollten wir
einfach auf Gott vertrauen, der seine Kirche durch die Jahrhunderte
schon in manchen Stürmen bewahrt hat, der immer wieder Neuaufbrüche
gelingen ließ, gerade auch in dunklen Zeiten der Kirchengeschichte.
Diesem Gott dürfen wir zutrauen, dass er auch heute an unserer Seite ist
und unerwartet Neues wachsen lassen kann.
Liebe Schwestern und
Brüder!
Wer sich – wie die
Israeliten damals – auf das Wort Gottes einlässt, wer es an sich heran
und unter die Haut gehen lässt, der kann auch heute noch angerührt
werden und die Freude an Gott als befreiende Kraft erfahren.
„Die Freude des Herrn
ist meine Stärke.“
Nehmen wir dieses Wort in uns auf! Nehmen wir es mit in den Tag und in
die kommende Woche! Machen wir es zu einer Art Stoßgebet, zu einem immer
wieder kehrenden Refrain! Machen wir es zu unserem Herzensgebet! Ja,
„die Freude am Herrn ist meine Stärke.“