Für mich gehört diese Erzählung zu den
ungewöhnlichsten, ungeheuerlichsten, aber auch schönsten und lehrreichsten im
Neuen Testament.
Drei Personen spielen eine Rolle.
Da ist die namenlose, aber stadtbekannte Frau.
Als „Sünderin“ wird sie bezeichnet, eine
„Nobeldirne“ würden wir heute sagen. Eine, die´s mit vielen hat. Eine, mit der
sich anständige Menschen nicht abgeben. Eine von der unteren Sorte.
Als die Frau erfährt, dass Jesus im Haus des
Simon ist, da hat sie nur einen Wunsch. Sie will, sie muss zu ihm hin.
Wahrscheinlich ist sie Jesus schon einmal
begegnet oder hat ihn predigen hören. Und seine Botschaft hat sie ins Herz
getroffen: Gott ist gut. Er verzeiht. Seine Liebe ist größer als alle Schuld. Jetzt gibt es für sie nur eins, ihm danken, der ihr den Weg der Vergebung
gewiesen hat. Ihm ihre Verehrung zeigen und ihre Liebe. Nichts und niemand kann
sie zurückhalten.
Dann geschieht es. Unangemeldet dringt die Frau
in die Männerrunde ein, stört den Verlauf des Mahles und verschafft sich Zugang
zu Jesus. Ein Eklat!
Stellen wir uns die Szene einmal heute vor: Vielleicht ein
Kardinalskollegium oder ein Kreis von Professoren, vornehme Herren, alle in
Frack, mit Krawatte und Bügelfalten, schönste Gehälter, bestes Auskommen.
Anstand und Würde, danach richtet man sich in diesen Kreisen.
Dahinein platzt die Frau. Ein Skandal. Das gehört
sich einfach nicht, allein schon weil sie Frau ist. Und dann noch was für eine!
Eine Sünderin!
Wie sie bei Jesus ist, fehlen ihr die Worte. Sie
tut, was ihr Herz sagt. Sie lässt ihren Gefühlen freien Lauf. Die Frau weint
sich hemmungslos über den Füßen Jesu aus, trocknet sie mit ihren Haaren, küsst
und salbt sie. Was die anderen denken, kümmert sie nicht. Das Raunen im Saal,
die hohnvollen Grimassen, die Nase rümpfenden Gesichter, die verurteilenden
Blicke beachtet sie gar nicht. Sie ist ganz ergriffen, ganz bei sich, ganz bei
Jesus, ganz bei dem, was sie tut.
Und Jesus?
Er kommt offenbar nicht in Verlegenheit. Er lässt
die Frau gewähren. Er weist sie nicht ab. Er hält auch den Blicken und Gedanken
der „Frommen“ stand. Er sieht, wie sie sich nach einem sehnt, der sie versteht,
ihr eine Chance gibt, sie aus ihrer Verlorenheit befreit. Jesus
rechnet ihr ihre Sünden nicht vor. Er bricht über ihr nicht den Stab. Seine Nähe
macht alles gut.
Bei Jesus
erfährt sie etwas Neues, wonach sie sich im Tiefsten immer schon gesehnt hat:
ein Ja, ein ganzes Ja, ein großes Ja, ohne Wenn und Aber. - Endlich
einer, der den Menschen nicht danach beurteilt, was er leistet, wie perfekt, wie
korrekt, wie untadelig er ist! Die Frau erlebt sich bedingungslos angenommen.
Ihr verwundetes Herz erfährt Heilung. Und so kann
sie umkehren: aus der Selbstverachtung in die Selbstachtung, aus der
Verlorenheit in das Gefundensein und Geborgensein Gottes.
Und Simon, der Gastgeber, der sittenstrenge
Pharisäer?
Er ist entsetzt. Zunächst über
dieses Weibsbild, ihre Unverfrorenheit. Eine Zumutung ist sie. Und das Ganze in
seinem Haus!
Noch mehr aber ist er entrüstet über Jesus. Er ist
enttäuscht von ihm. Wie der sich verhält! Dass der sich das alles gefallen
lässt! Total unbegreiflich! Hat man nicht teil an der Unreinheit, wenn man sich
auch nur berühren lässt von einer, die sozusagen „berufsmäßig“ in Sünde lebt?
Er, Simon, schenkt der Frau jedenfalls keine Beachtung.
Für ihn gibt es nur eins: klare Abgrenzung. Schließlich hat man ja
„Ordnung“ in seinem Leben und einen guten Ruf. Schließlich hat man ja
saubere Hände und eine weiße Weste. Schließlich verhält man sich immer
anständig. Niemand kann einem etwas vorwerfen. Und sich selbst hat man auch
nichts vorzuwerfen. – Sich distanzieren von der Frau. Das müsste eigentlich auch
Jesus, wenn er ein Prophet wäre. Also ist er keiner, kann es gar nicht sein.
Jesus
spürt das Misstrauen des Simon. Er spürt wie festgefahren er ist. Auch ihm
gilt die Heilszusage Gottes. Auch er, der so sehr im Recht, im Guten, in
der Frömmigkeit zu Hause ist, ihm will er eine Tür öffnen. Es geht ihm auch um
ihn. Auch er ist ihm wichtig.
Und so wendet sich Jesus ganz persönlich ihm zu.
Er
möchte ihm heraushelfen aus seiner starren Haltung. Er möchte ihn
befreien aus seinen Gefangenschaften. Er möchte ihn herauslösen aus
seiner kalten, berechnenden Lebensweise. Er möchte ihn gewinnen für seine
Gesinnung der Liebe und des Erbarmens.
Er stellt ihn aber nicht bloß. Er hält ihm keine
Moralpredigt.
Mit einer Geschichte wirbt er um Simon und will
ihn zum Nachdenken bringen. – Ob Simon sich erkennt in dem Spiegel, den
Jesus ihm hinhält? Ob er merkt, dass auch er angewiesen ist auf Gottes
Barmherzigkeit?
Dann wird Jesus direkt. Er vergleicht sein
Verhalten mit dem der Sünderin. Was sie getan hat aus Liebe und was er, der
Gastgeber, versäumt und unterlassen hat. Sie, sie hat ihn gesalbt, geküsst, die
Füße gewaschen und auf diese Weise ihre Liebe gezeigt. Allein darum kann und
darf sie in Frieden gehen.
Simon
steht vor einer Entscheidung. Die Frau, die er mit Verachtung bestraft, wird ihm
zum Zeichen. Sie ließ sich in der abgründigen Tiefe ihrer Schuld vom
unendlich größeren Erbarmen Gottes ergreifen und verändern. Sie ließ sich
finden und heimholen vom „guten Hirten“. Ob aber der Pharisäer es fertig
bringt, die Mauern des Ein- und Ausgrenzens, die er um sich errichtet hat, zu
durchbrechen? Ob er aufhören kann, die Menschen in Schubladen zu stecken,
einzuteilen in gut und bös, die andern nach seinen Maßstäben festzulegen?
Der Pharisäer ist ein korrekter Mensch.
Korrektheit ist gut. Aber sie ist nicht alles. Die Frau hat die größere Liebe.
Was nützt die weiße Weste, wenn sie ein kaltes, liebeleeres Herz verdeckt?
Der Pharisäer sieht nur die Sünderin und ihre Schuld. Jesus sieht
mehr. Er sieht die Liebe der Frau. „Ihr sind ihre
vielen Sünden vergeben, weil sie mir so viel Liebe gezeigt hat.“
Allein die Liebe verwandelt. Allein die Liebe
führt in die Gemeinschaft mit Jesus. Das ist Evangelium, heilende, tröstende,
befreiende Botschaft. Allein die Liebe zählt. Nicht das Gesetz, die Norm, nicht
irgendeine Moralität oder Vollkommenheit, die Liebe, allein sie. „Ihr sind
ihre vielen Sünden vergeben, weil sie mir so viel Liebe gezeigt hat.“ Wie
gern würde Jesus das auch dem Pharisäer zusprechen! Wenn der nur offen wäre
und nicht so verschlossen. Wenn der nur verstehen und umsinnen würde. Wenn der
nur bei sich selber gucken würde, statt voll Verachtung auf andere zu schauen.
Wenn der sich nur hineinnehmen ließe in einen Umdenkungs- und Umkehrprozess wie
die Frau. „Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie mir so viel Liebe
gezeigt hat.“ Wie gern würde das Jesus auch uns sagen, einem jeden
hier. – Wo stehe ich? Wo finde ich mich wieder? In der Sünderin voll Reue, voll
Demut, voll Dankbarkeit und Liebe zu Jesus?
Oder im Pharisäer? Kenne ich den nicht auch? Bin
ich der nicht auch oft?
Amen
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