EVANGELIUM
Wer ist mein Nächster?
+Aus
dem heiligen Evangelium nach Lukas
In jener Zeit
25 stand
ein Gesetzeslehrer auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn:
Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?
26 Jesus
sagte zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?
27 Er
antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen
und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und
deinen Nächsten wie dich selbst.
28 Jesus
sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben!
29 Der
Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein
Nächster?
30 Darauf
antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jéricho hinab und wurde
von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann
gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen.
31 Zufällig
kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber.
32Ebenso
kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber.
33Ein
Samaríter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte
Mitleid,
34ging
zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob
er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und
sorgte für ihn.
35Und
am nächsten Tag holte er zwei Denáre hervor, gab sie dem Wirt und sagte:
Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir
bezahlen, wenn ich wiederkomme.
36Wer
von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den
Räubern überfallen wurde?
37Der
Gesetzeslehrer antwortete: Der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte
Jesus zu ihm: Dann geh und handle du genauso!
Drei
Frauen kommen an einen Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Sie sprechen von
ihren Söhnen.
Meinen
Sohn solltet ihr singen hören, sagt die erste, das klingt so
wunderschön, als wenn eine Nachtigall singen würde.
Die
zweite sagte: Mein Sohn ist stark und schnell. Er schleudert einen Stein
fast bis in die Wolken und fängt ihn wieder auf.
Die
dritte schweigt. Da fragten die anderen: Und dein Sohn? – Was soll ich
erzählen, sagt sie, mein Sohn ist ein junger Bursche wie andere auch.
Nun
machen sich die drei Frauen auf den Heimweg. Die Sonne brennt, der
Wassereimer wird schwer.
Da
kommen den drei Frauen drei junge Burschen entgegen. Der eine singt so
schön wie eine Nachtigall, der zweite schleudert Steine in die Luft und
fängt sie wieder. Der dritte aber läuft zu seiner Mutter und nimmt ihr
den Eimer ab.
Ein
alter Mann neben dem Brunnen hat alles mitangesehen. Eine der drei
Frauen fragt ihn: Nun, was sagst du zu unseren drei Söhnen? – Drei
Söhne, fragt der Alte, ich sehe nur einen.
(nach Leo
N. Tolstoi)
Drei
Söhne waren anwesend, aber nur einer hat sich wirklich als „Sohn“
gezeigt. In seiner helfenden Tat seiner Mutter gegenüber hat nur er sich
echt und glaubwürdig als Sohn erwiesen.
Was diese
Erzählung von Leo Tolstoi sagen will und zum Ausdruck bringt, lässt sich
auch auf andere Bereiche übertragen.
Zum
Beispiel auf die Frage, die im heutigen Evangelium ein Mann an Jesus
richtet: Wer ist eigentlich mein „Nächster“? Auf diese Frage antwortet
Jesu in der berühmten Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter.
Jesus
meint, dass jeder Mensch, der in Not ist und mich braucht, mein
„Nächster“ ist. Ebenso bin ich sein „Nächster“, wenn ich bereit bin, ihm
zu helfen.
Wir
nennen uns Christen. Doch sind wir es auch?
Gut, wir
sind getauft. Wir tragen christliche Namen. Wir wurden christlich
erzogen. Wir sind jetzt zum Gottesdienst in einer christlichen Kirche
versammelt. Wir sprechen christliche Gebete und singen christliche
Lieder. Aber sind wir deshalb schon „Christen“?
Ein
Christ ist nicht der, der das von sich behauptet.
Ein
Christ ist der, der versucht als Christ zu leben.
Ein
Christ ist der, der sich in seinem Leben am Wort und Beispiel Jesu
ausrichtet. Ein Christ ist der, der bestrebt ist, gerade auch das, was
wir heute im Evangelium gehört haben, in seinem Leben umzusetzen,
nämlich helfende Fürsorge und dienende Liebe überall, wo jemand darauf
angewiesen ist.
„Handle genauso!“
– Angesichts unmittelbarer Not gilt es aktiv zu werden, zu helfen und
barmherzig zu sein. Da, wo ich auf Not stoße, da, wo jemand
hilfsbedürftig ist, da, wo jemand mich braucht, da bin ich gefragt und
herausgefordert. Da soll ich selbst zum Nächsten werden, ganz gleich wie
fern oder wie nah mir jemand steht.
Doch oft
ist das leichter gesagt als getan. Die Schwierigkeiten sind im
Gleichnis, das Jesus erzählt, gut herauszuhören. Sind es nicht auch oft
unsere Bedenken, Ausflüchte und Ausreden?
Wir
treffen z. B. völlig unvorbereitet, ganz und gar unverhofft und
überraschend auf Not. Oder wir haben es ganz arg eilig. Wir haben selber
drängende Verpflichtungen, die keinen Aufschub dulden und Aufgaben,
denen wir unbedingt nachkommen müssen.
Es gibt
noch andere Bedenken und Einwände, die wir auch kennen: Was macht’s
schon, wenn ich vorübergehe und mich nicht kümmere, da kommen bestimmt
noch andere des Weges, die auch helfen können. Warum ich? Oder: Wenn ich
mich dem Notleidenden widme, handle ich mir dann nicht unnötig
Scherereien ein? Binde ich mir vielleicht etwas ans Bein, von dem ich
nicht mehr loskomme? Außerdem: Sind andere nicht viel kompetenter als
ich? Haben wir nicht für alle Probleme, Nöte und Anliegen
Zuständigkeiten, Anlaufstellen, Hilfswerke, Einrichtungen, Ämter? Können
die nicht viel besser helfen?
Das
Gleichnis hat noch eine Spitze: Der Priester und der Levit – zwei ganz
Fromme, zwei, die im Dienste Gottes stehen, zwei Gesetzestreue,
sozusagen zwei Gottes-Experten, sie lassen das Opfer des Raubüberfalls
halbtot am Wegrand liegen. Sie nehmen den schwerverletzten, halbtoten
Mann wahr, heißt es ausdrücklich, sie sehen ihn und gehen trotzdem
weiter. Hartherzig, mitleidlos und erbarmungslos unterlassen sie die
erste Hilfe. Als hilfreicher Nächster erweist sich dem unter die Räuber
Gefallenen ausgerechnet ein Ausländer, ein Samariter, ein
Andersgläubiger, einer aus dem Volk, auf das die Juden mit Verachtung
schauen. Dieser lässt – im Gegensatz zu den frommen Tempeldienern – die
Not an sich heran. Er ist nicht abgestumpft und kaltblütig, sondern
empfindet Mitleid und hat Erbarmen. Er sieht, dass er gebraucht wird.
Und er hilft, so gut er kann. Er übernimmt an Ort und Stelle eigenhändig
die Erstversorgung des überfallenen, ausgeraubten und halbtot am Wegrand
liegenden Mannes. Und setzt sich auch für seine weitere Versorgung ein.
Er investiert – offenbar ohne zu Zögern – Kraft, Zeit und Geld. Erst
dann setzt er seine Reise fort.
Ob uns
das auch etwas zu sagen hat, uns Christgläubigen, uns regelmäßigen
Kirchgängern? Beschämen uns nicht zuweilen Menschen mit ihrer
Solidarität, mit ihrem Einsatz und mit ihrer praktizierten
Barmherzigkeit, die von der Kirche weit entfernt sind und mit Glaube
nichts oder nicht viel am Hut haben?
Einen für
mich ganz interessanten Aspekt zu diesem Gleichnis bringt in einem
seiner Jesus-Bücher Papst Benedikt XVI.
Für ihn
ist der Weg, auf dem sich das alles ereignet, ein Bild für die
Weltgeschichte und der Halbtote am Wegrand ist ein Bild für die
Menschheit. Er zitiert Karl Marx und dessen Begriff der „Entfremdung des
Menschen“ und schreibt: „Wenn der Überfallene das Bild des Menschen
schlechthin ist, dann kann der Samariter nur das Bild Jesu Christi sein“,
und spricht davon, „dass der Mensch entfremdet und hilflos an der
Straße der Geschichte liegt und dass Gott selbst in Jesus Christus sein
Nächster geworden ist“.
Schon die
Kirchenväter haben im barmherzig handelnden Samariter Jesus Christus
selbst gesehen. Er kommt der geschundenen, am Wegrand liegenden
Menschheit zu Hilfe. Er kommt hinein in unsere Not. Er nimmt sich unser
an.
Jesus
sagt von sich und seiner Sendung: „Ich bin gekommen, um zu suchen,
was verloren war und zu heilen, was verwundet ist.“
Christus
ist uns zum Nächsten geworden. Er ist ganz weit gegangen in einer
Solidarität und Liebe. Er hat sich für uns hingegeben. Wie weit bin ich
bereit zugehen in meiner Liebe?
„Geh
und handle genauso!“
Dieser
Imperativ Jesu sagt mir: Halte die Augen offen, schau auf das, was um
dich herum geschieht! Lass dich von deinen Verpflichtungen nicht so
vereinnahmen, dass du darüber hinaus nichts mehr wahrnimmst und blind
wirst für Lazarus vor Deiner Tür.
Wo ich
dem Notleidenden nicht aus dem Weg gehe, wo ich nicht wegschaue und
vorübergehe, wenn ich gebraucht werde, wo ich helfe, wo Hilfe nötig ist,
da mache ich mich zum Nächsten, zum Mitmenschen. Da heiße ich nicht nur
Christ, sondern bin es. |