Evangelium
Mädchen, ich sage dir, steh auf!
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Aus dem heiligen Evangelium nach
Markus
In jener Zeit
21fuhr
Jesus im Boot an das andere Ufer des Sees von Galiläa hinüber und eine große
Menschenmenge versammelte sich um ihn. Während er noch am See war,
22kam
einer der Synagogenvorsteher namens Jaírus zu ihm. Als er Jesus sah, fiel er ihm
zu Füßen
23und
flehte ihn um Hilfe an; er sagte: Meine Tochter liegt im Sterben. Komm und leg
ihr die Hände auf, damit sie geheilt wird und am Leben bleibt!
24Da
ging Jesus mit ihm. Viele Menschen folgten ihm und drängten sich um ihn.
25Darunter
war eine Frau, die schon zwölf Jahre an Blutfluss litt.
26Sie
war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr
ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern
ihr Zustand war immer schlimmer geworden.
27Sie
hatte von Jesus gehört. Nun drängte sie sich in der Menge von hinten heran – und
berührte sein Gewand.
28Denn
sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt.
29Und
sofort versiegte die Quelle des Blutes und sie spürte in ihrem Leib, dass sie
von ihrem Leiden geheilt war.
30Im
selben Augenblick fühlte Jesus, dass eine Kraft von ihm ausströmte, und er
wandte sich in dem Gedränge um und fragte: Wer hat mein Gewand berührt?
31Seine
Jünger sagten zu ihm: Du siehst doch, wie sich die Leute um dich drängen, und da
fragst du: Wer hat mich berührt?
32Er
blickte umher, um zu sehen, wer es getan hatte.
33Da
kam die Frau, zitternd vor Furcht, weil sie wusste, was mit ihr geschehen war;
sie fiel vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit.
34Er
aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden!
Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.
35Während
Jesus noch redete, kamen Leute, die zum Haus des Synagogenvorstehers gehörten,
und sagten zu Jaírus: Deine Tochter ist gestorben. Warum bemühst du den Meister
noch länger?
36Jesus,
der diese Worte gehört hatte, sagte zu dem Synagogenvorsteher: Fürchte dich
nicht! Glaube nur!
37Und
er ließ keinen mitkommen außer Petrus, Jakobus und Johannes, den Bruder des
Jakobus.
38Sie
gingen zum Haus des Synagogenvorstehers. Als Jesus den Tumult sah und wie sie
heftig weinten und klagten,
39trat
er ein und sagte zu ihnen: Warum schreit und weint ihr? Das Kind ist nicht
gestorben, es schläft nur.
40Da
lachten sie ihn aus. Er aber warf alle hinaus und nahm den Vater des Kindes und
die Mutter und die, die mit ihm waren, und ging in den Raum, in dem das Kind
lag.
41Er
fasste das Kind an der Hand und sagte zu ihm: Talíta kum!, das heißt übersetzt:
Mädchen, ich sage dir, steh auf!
42Sofort
stand das Mädchen auf und ging umher. Es war zwölf Jahre alt. Die Leute waren
ganz fassungslos vor Entsetzen.
43Doch
er schärfte ihnen ein, niemand dürfe etwas davon erfahren; dann sagte er, man
solle dem Mädchen etwas zu essen geben.
Ein langes Evangelium – aber
spannend! Gleich zwei Wunder werden erzählt: Eine Krankenheilung und eine
Totenerweckung.
Und was auffällt: Beide sind
ineinander verwoben.
Eigentlich ist Jesus
unterwegs zur todkranken Tochter des Jairus. Aber da kommt die blutflüssige Frau
dazwischen. Jesus wird aufgehalten. – Das führt dazu, dass er später nicht zu
einer Todkranken kommt, sondern zu einer bereits Verstorbenen.
Und was noch auffällt: Bei
beiden Wundern handelt es sich um Frauen. Die eine ist 12 Jahre alt und
steht an der Schwelle zum Erwachsen-Werden und Frausein. Mit 12 Jahren ist sie
nach damaligem Recht auch heiratsfähig bzw. kann – wie damals üblich –
verheiratet zu werden. Die andere Frau leidet seit 12 Jahren an
Blutungen, die nicht aufhören, sie kultisch unrein machen, ausgrenzen, isolieren
und wie aus dem Leben nehmen.
Was noch auffällt: Beide
Frauen haben keinen Namen.
Die eine Frau ist „nur“ „die
Frau mit den Dauer-Blutungen“.
Und das Mädchen wird einzig vom
Vater her definiert: „die Tochter des Jairus“. – Und dieser Jairus,
das ist der Chef der örtlichen Synagoge, das ist eine Autoritätsperson, der hat
Rang und Namen.
Bleiben wir einmal bei dem
Mädchen, das keinen Namen hat. Vielleicht steckt darin schon das ganze
Elend:
Es ist und bleibt „das
Töchterchen des Jairus“.
Das gibt es auch heute noch.
Da wird jemand immer nur als das Anhängsel seiner Eltern, meistens des Vaters,
bezeichnet.
Ein Beispiel: Die Söhne
Walter und Peter des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl. Sie litten darunter,
dass sie vom Kindergarten an nur „die vom Kohl“ waren. Walter Kohl
beschreibt das in einem Buch.
Ein anderes Beispiel:
Kinder von einem Volksschullehrer in den 50er/60er Jahren. – Der Lehrer war
damals neben dem Pfarrer und dem Bürgermeister die Autorität im Dorf,
eine Respektperson. Lehrerkinder hatten es oft schwer. Immer mussten sie
besonders brav, sittsam und tugendhaft sein. Immer ein gutes Beispiel geben. Von
wegen mal über die Stränge schlagen oder mal was anstellen!
Wenn jemand immer nur hört:
„Benimm dich!“ „Sei anständig!“ „So gehst du nicht auf die Straße!“ Was
sollen die Leute da denken?“ – Wie soll da – bei solchen
fortwährenden Parolen und unter solchen dauernden An-sprüchen – ein Menschenkind
hineinreifen in sein eigenes Wesen, in seine eigene, gott-geschenkte und
gott-gewollte Individualität und Vitalität?
Sorgen der Eltern sind ja gut,
solange sie den Kindern nicht die Luft zum Atmen nehmen und die eigenen
Erfahrungen verhindern.
So mag es auch bei der Tochter des
Synagogenvorstehers Jairus gewesen sein. Immer spuren, sich anpassen, fügen und
funktionieren. Mehr gelebt werden als selbst leben. Ein solcher Mensch erstickt,
noch er die Möglichkeit hat, frei und selbständig zu einem eigenen Leben
aufzublühen. So jemand ist aus dem Leben, bevor das eigene erwachsene Leben
überhaupt beginnt.
Und Jesus? Mehrmals stößt
er auf seinem Weg zu dem todkranken Mädchen auf Hindernisse. Es kommt zu
Verzögerungen.
Erst durch die Frau mit dem
Blutfluss. Dann kommen Boten, die Jairus die Nachricht vom Tod seiner
Tochter bringen und ihn auffordern, Jesus nicht weiter zu belästigen. Tot ist
tot. Da ist nichts mehr zu machen. Und schließlich sind da die
Klagefrauen mit ihren schrillen Gesängen und vorgeschriebenem Geheule, das
allerdings umschlägt in höhnischen Spott, in bitterböses Lachen, als Jesus sagt:
„Das Mädchen ist nicht tot. Es schläft nur.“
Doch wie – rein schon
akustisch – ankommen gegen den Lärm? Was machen? Jesus schickt erst einmal die
ganze Bagage, die sich da versammelt hat, fort: die Nachbarn, Verwandten, die
Klageweiber. Wörtlich: Er schmeißt sie raus! All die fremden Stimmen, all
das laute Gequatsche und schrille Gejammere. Raus! Weg damit!
Jesus schafft Ruhe. Er
sorgt für Stille, für einen Schutzraum, den es braucht, um innerlich zu reifen
und zu sich selbst zu finden.
Nur die Eltern und drei seiner
Jünger nimmt er mit: Dann spricht Jesus in die Stille hinein auf aramäisch,
seiner Muttersprache, zwei Worte: „Talita kum!“ - „Mädchen, ich sage dir –
steh auf!“
Da geschieht etwas, was das
Töchterchen des Jairus bisher vielleicht nie oder nur selten erlebt hat: Es
rückt in den Mittelpunkt. Jesus spricht sie persönlich an. Er sieht sie an. Er
erkennt den ganzen Menschen. Und in seinen Worten liegt ganz viel
Wärme, da liegt so viel Verständnis: „Ich weiß um dich. Ich seh die Angst, die
dich ständig umfängt, den Druck, immer perfekt sein zu müssen, immer nett, immer
gehorsam. Aber jetzt: Steh auf! Geh deinen Weg! Lebe dein Leben!
Lebe!“
Und Jesus tut noch etwas:
Er nimmt das Mädchen bei der Hand. Er hilft ihm auf die Beine. Er hilft ihm, auf
eigenen Füßen zu stehen. Nun ist sie nicht mehr nur die „Tochter von“.
Sie ist zurück im Leben. Sie hat ihr Leben, ihr eigenes! Ihre Zukunft kann
beginnen.
Was auffällt, liebe Schwestern
und Brüder, am Schluss zeigt sich die Trauergesellschaft nicht froh und
glücklich. Die erste Reaktion ist Entsetzen. Alle sind außer sich und
fassungslos. Ein Mensch, der Macht hat über den Tod, das ist erschreckender als
der Tod selbst.
Ob die Leute zum Glauben kommen,
erfahren wir nicht.
Den Vater hat Jesus jedoch zum
Glauben aufgefordert.
Liebe Schwestern und Brüder!
Worum geht es bei den
Wundererzählungen im Neuen Testament?
Es geht nicht um Zauberei, Magie
oder Hokuspokus. Es geht um viel Größeres. Es geht – ich will es mal so sagen –
um die Sichtbarmachung des unsichtbaren Gottes. Es geht darum, zu zeigen, dass
Jesus der Christus ist, der Gesalbte, dass er der Messias ist und dass in ihm
die ganze Fülle der Gottheit wohnt.
Die Wundererzählungen im Neuen
Testament sind somit Epiphanie-Geschehen. Es soll offenbar werden, wer
dieser Jesus ist. Nach der Stillung des Seesturms (Evangelium vom letzten
Sonntag) fragen die Jünger: „Wer ist dieser, dass ihm sogar der Wind und das
Meer gehorchen?“ Und am Ende des Weinwunders bei der Hochzeit zu Kana heißt
es: „Er offenbarte seine Herrlichkeit und seine Jünger glaubten an ihn.“
Auch die Heilung der blutflüssigen
Frau und die Totenerweckung der Tochter des Jairus wollen nichts anderes als
Jesus in seiner göttlichen Vollmacht zeigen. Voll göttlicher Macht spricht er,
voll göttlicher Macht wirkt er.
Am Schluss des
Markusevangeliums bekennt der römische Hauptmann unter dem Kreuz:
„Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn!“
Und noch etwas wollen die
Wundererzählungen: zum Glauben führen! – „Wo ist euer Glaube?“ fragt
Jesus die Jünger nach der Stillung des Seesturms.
Sehen Sie, liebe Mitchristen!
Um den Glauben geht es auch in den beiden Wundererzählungen im heutigen
Evangelium.
Jesus sagt zu der vom Blutfluss
geheilten Frau: „Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen.“ Und zu
Jairus sagt er, als die Boten ihm den Tod seiner Tochter melden und ihm der
letzte Funke Hoffnung entschwindet: „Sei ohne Furcht! Glaube nur!“
Was Glaube und Vertrauen
bewirken, das hat Jairus gerade selbst bei der Heilung der blutflüssigen
Frau erlebt. Von Jesus war eine Kraft ausgegangen und hat sie gesund gemacht.
Die Frau war total am Ende, am Nullpunkt der Hoffnung – wie er selbst. Ihr
Glauben, d. h. ihr Vertrauen hat ihr geholfen.
Dass es in beiden
Wundererzählungen um den Glauben geht, zeigt auch die Erzählung, die am
kommenden Sonntag als Evangelium verkündet wird. Ausdrücklich heißt es dort,
dass Jesus in seiner Vaterstadt keine Wunder wirken konnte, weil ihm da
Misstrauen und Unglauben entgegengebracht wird.
„Sei ohne Furcht! Glaube
nur!“
Liebe Schwestern und Brüder,
dieses Wort dürfen wir auch auf uns hin hören. Hab Mut! Glaube! Vertraue!
Auch das Wort: „Ich sage
dir, steh auf!“ gilt uns. – Das sagt Jesus auch zu mir und zu jedem von uns,
nicht nur einmal, immer wieder, heute und jeden Tag: „Steh auf! Steh auf
gegen den Tod! Suche das Leben!“
Liebe Schwestern und Brüder!
Täglich können wir kleine Siege
über den Tod erringen, wo wir dem Leben Raum geben, wo wir Resignation und
Misstrauen überwinden, wenn wir einander aufrichten und trösten, wenn wir Leid
und Not miteinander teilen, wenn wir einander verzeihen, wenn wir das Gemeinsame
suchen, statt das Trennende, wenn wir vereinen, statt spalten.
Natürlich ist auch die
blutflüssige Frau irgendwann gestorben. Ebenso Jairus und auch seine Tochter. Am
Tod führt bekanntlich kein Weg vorbei. – Aber einer darüber hinaus. Wo
wir am Ende sind, ist Gott noch lange nicht am Ende. In seiner Auferstehung hat
Jesus dem Tod endgültig die Macht genommen. „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo
ist dein Stachel?“ (1 Kor 15, 55)
Jesus lebt und auch wir werden
leben.
Und so dürfen wir darauf
vertrauen, auch in der Stunde unseres Todes die Stimme Jesu zu hören, die Stimme
dessen, der Herr ist über Leben und Tod: „Talita kum! – Ich sage dir, steh
auf!“ – „Komm, nimm teil an der Freude deines Herrn!“ |