EVANGELIUM
Der Menschensohn wird den Menschen ausgeliefert
Wer der Erste sein will, soll der Diener aller sein
+Aus
dem heiligen Evangelium nach Markus
In jener Zeit
30zogen
Jesus und seine Jünger durch Galiläa. Jesus wollte aber nicht, dass jemand davon
erfuhr;
31denn
er wollte seine Jünger über etwas belehren. Er sagte zu ihnen: Der Menschensohn
wird den Menschen ausgeliefert, und sie werden ihn töten; doch drei Tage nach
seinem Tod wird er auferstehen.
32 Aber
sie verstanden den Sinn seiner Worte nicht, scheuten sich jedoch, ihn zu fragen.
33Sie
kamen nach Kafarnaum. Als er dann im Haus war, fragte er sie: Worüber habt ihr
unterwegs gesprochen?
34Sie
schwiegen, denn sie hatten unterwegs miteinander darüber gesprochen, wer von
ihnen der Größte sei.
35Da
setzte er sich, rief die Zwölf und sagte zu ihnen: Wer der Erste sein will, soll
der Letzte von allen und der Diener aller sein.
36Und
er stellte ein Kind in ihre Mitte, nahm es in seine Arme und sagte zu
ihnen:
37Wer
ein solches Kind um meinetwillen aufnimmt, der nimmt mich auf; wer aber
mich aufnimmt, der nimmt nicht nur mich auf, sondern den, der mich
gesandt hat.
Zum zweiten Mal spricht Jesus auf
dem Weg durch Galiläa von seinem Tod und seiner Auferstehung. Doch die Jünger
verstehen nicht. Sie haben anderes im Kopf. Sie träumen von Macht und Größe. Sie
denken an gute Posten im Reich Gottes und streiten um die ersten Plätze.
Vielleicht schütteln wir über die
Jünger den Kopf.
Doch sind wir so viel anders als
die Jünger? Verstehen wir Jesus?
Der Größte sein zu wollen, oben
sein zu wollen, den Ton anzugeben und die erste Geige spielen zu wollen, so
fremd ist uns dieses Bestreben gar nicht, oder? Schon Kinder wollen groß sein.
Und ehrlich gesagt: Ist es nicht
angenehmer „oben“ zu sein anstatt „unten“, das Sagen zu haben anstatt zu tun,
was andere wollen?
Als Jesus merkt, womit sich die
Jünger beschäftigen, rügt er sie nicht. Er verurteilt nicht das Bestreben, Erste
sein zu wollen.
Nur der Weg dorthin ist
ungewöhnlich, nämlich: als der Letzte Diener aller zu sein.
Es ist der Weg Jesu. Er selbst
ist ihn gegangen. Er hat selber so gelebt. In seinem Leiden und Sterben ist er
Diener aller geworden. Da hat er unsere Sünden auf sich geladen und hat unsere
Angst und Gottverlassenheit auf sich genommen.
Seine Auferstehung ist der
„Platzwechsel“. Er, der sich in Krippe und Kreuz auf den letzten Platz begab, er
ist erhöht und „sitzt zur Rechten des Vaters“.
Kein Zweifel: Er ist der „Menschensohn“, in dem sich Gott den Menschen ausgeliefert hat, und den sie
nicht ertragen, weil er Liebe verkörpert, statt Macht.
Wie wir zu der Haltung finden,
nicht um jeden Preis „groß“ sein zu müssen, verdeutlicht Jesus durch eine
Zeichenhandlung. Er stellt ein Kind in die Mitte.
Wenn Jesus ein Kind in die Mitte
stellt, dann nicht wegen seiner Unschuld. Kinder können schrecklich zänkisch
sein, neidisch, stur, schadenfroh, egoistisch und aggressiv.
Auch Jesus erzählt einmal von
launischen Kindern, die auf der Flöte spielen und zum Tanz einladen, aber die
anderen wollen einfach nicht mitspielen. Und schon gibt es Streit.
Wenn Jesus ein Kind in die Mitte
stellt, dann nicht, weil Kinder so anrührend sind oder unschuldig. Der
Vergleichspunkt ist vielmehr das Vertrauen des Kindes. Das Kind vertraut, dass
es das Lebensnotwendige ohne Gegenleistung geschenkt bekommt.
Noch etwas: Wenn Jesus ein Kind
in die Mitte stellt, dann macht er deutlich, dass er uns in den Kleinen, den
Geringen, den Schwachen, den Machtlosen und Armen begegnet, in denen, die sonst
wenig ernst genommen werden und auf die sonst keiner hört.
Theoretisch ist das vielleicht
alles klar und einleuchtend. Doch praktisch tun wir uns immer wieder so schwer
mit dem Kleinsein, dem Dienen, mit dem letzten Platz.
Der französische Philosoph
Maurice Blondel schreibt in einem Brief: „Ich ging
mitten in Paris über eine der belebtesten Straßen. Es war Nachmittag. Plötzlich
stand ein kleines Mädchen vor mir, mit einem etwas abgetragenen Kleid, einer
laufenden Nase und einem rührend unbeholfenen Blick. Ohne Scheu das Kind zu mir
auf und sagte: ‚Bitte, mach mir meine Schuhe zu!‘
Wie auf Befehl kniete ich mich
hin und knotete die Schnürsenkel.
Als ich aufschaute, war das
Kind schon wieder verschwunden. Ich kniete noch immer auf der Straße. Die Leute
schauten mich an. Ein erwachsener Mann am helllichten Nachmittag kniend auf der
Straße. Langsam erhob ich mich. Und unwillkürlich musste ich an die Bibelstelle
denken: ‚Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten IHN.‘“
Das Evangelium ist und bleibt
eine Provokation, eine dauernde Anfrage an jede und jeden von uns, wie ernst wir
die Worte und Zeichenhandlungen Jesu nehmen und wie weit sie unseren Alltag und
unser Leben prägen, als Einzelne, als Glaubensgemeinschaft, als Gemeinde und als
Kirche.
Nur wenn wir unseren Selbstwert
nicht in Konkurrenz zu anderen erleisten müssen, können wir darauf verzichten,
uns mit aller Kraft nach oben zu kämpfen. Wir müssen dann nicht ständig unsere
Stärke und unsere Überlegenheit demonstrieren. Wir müssen dann nicht in immer
neuen Rankings zeigen, wer der Mächtigste, der Schlagkräftigste, der Erste und
Größte ist.
Nur wenn wir wie ein Kind werden
– also offen, unbefangen, vertrauensselig – wird uns das Reich Gottes zuteil,
sagt Jesus. Es ist ein Geschenk, um das wir bitten sollten.
Wir schaffen es nicht aus eigener
Kraft, wie ein Kind zu werden. Wir müssen Gott bitten, dass er uns hilft und
dass er – so wie Jesus damals – uns in seine Arme nimmt und uns segnet.
Gottes Arme sind immer für uns
offen, für einen jeden und jede.
Öffnen auch wir unsere Arme und
Hände und vor allem unser Herz für die Schwachen, die Geringen und Armen, für
all diejenigen, die keine Lobby haben, keine Fürsprecher und all diejenigen, die
unseres Trostes, unseres Schutzes und unserer Hilfe besonders brauchen. Was wir
einem der Geringsten getan haben, IHM haben wir es getan!
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