EVANGELIUM
Wenn dein Bruder
auf dich hört, so hast du ihn zurückgewonnen
+ Aus
dem heiligen Evangelium nach Matthäus
In jener Zeit sprach Jesus zu
seinen Jüngern:
15Wenn
dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht.
Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen.
16Hört
er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache
muss durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werden.
17Hört
er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die
Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.
18Amen,
ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel
gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im
Himmel gelöst sein.
19Weiter
sage ich euch: Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie
von meinem himmlischen Vater erhalten.
20Denn
wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter
ihnen.
Wahrscheinlich
kennen Sie das: Sie haben sich über jemanden geärgert: über einen Bekannten,
einen Kollegen, den Nachbarn oder den Ehepartner. – Irgendetwas hat dieser
Mensch gesagt oder getan, was Ihnen nicht gefallen hat, oder was sie sogar
gekränkt und verletzt hat. Nun möchten Sie Ihren Ärger und Unmut loswerden.
Aber irgendetwas
hindert Sie daran, dem Betreffenden eine Rückmeldung zu geben, zu sagen, was sie
gestört hat.
Vielleicht haben
Sie in solchen Momenten Angst, sich den Mund zu verbrennen. Vielleicht
befürchten Sie, der Kritisierte könnte sich beleidigt fühlen, sich zurückziehen
oder aggressiv werden. Oder er dreht den Spieß um und fängt an, Ihnen Ihre
Fehler aufzuzählen. Es gibt ja Menschen, die keine Kritik vertragen. Die können
zwar oft ganz gut austeilen, jedoch schlecht einstecken.
So kommt es dass
mancher Ärger und manche Kritik hinuntergeschluckt werden. Manchmal mag das
richtig sein. Man wird schließlich nicht dick davon. Aber ob es unbedingt gesund
ist, immer zu schlucken und allen Unmut in sich hineinzufressen?
Und ob das
wirklich etwas mit Nächstenliebe zu tun hat? Oder doch eher mit Angst vor
Auseinandersetzung und Scheu vor Konflikten?
Ärger offen
zeigen, Unmut herauslassen, Kritik anbringen…
Wir denken oft,
das ist nicht christlich, das widerspricht der Nächstenliebe.
Doch handelt es
sich wirklich um Liebe, wenn ein Stück Wahrheit verschwiegen wird, wenn ich
schweigend zusehe, wie der andere immer mehr abgleitet, sich immer mehr in
Schuld verstrickt?
Kann es nicht
sogar lieblos sein, den anderen so zu lassen wie er ist?
Gut, wenn das
Böse des anderen sich gegen mich selbst richtet, kann ich es als Kreuz annehmen,
kann versuchen, es zu ertragen. „Ertragt einander in Liebe“, sagt
schließlich der Apostel Paulus. Wenn aber ein Dritter, eine Familie, eine
Gemeinschaft darunter leidet, was dann? Ist es dann unter Umständen nicht sogar
meine Pflicht, den Finger auf die Wunde zu legen, zu ermahnen oder
zurechtzuweisen?
Im
heutigen Evangelium
ist von brüderlicher Zurechtweisung die Rede. Der Text rechnet damit, dass es
auch zwischen Christen Unstimmigkeiten, Zwist, Versagen und Schuld gibt:
„Wenn dein
Bruder sündigt, dann geh hin und weise ihn unter vier Augen zurecht.“
Zwei Dinge
sind für mich wichtig:
Erstens: „dein Bruder“
Der andere ist
und bleibt mein Bruder, auch wenn er sich vergangen und gesündigt hat. Ich soll
und darf ihn deshalb nicht zur Schnecke machen, demütigen oder gar abschreiben,
sondern soll ihm weiterhin geschwisterlich und auf Augenhöhe begegnen und ihm
die Chance zur Umkehr und zum Neuanfang gewähren.
Zweitens: „unter vier Augen“
Es geht um die
Tugend der Diskretion. Oft ist es einfacher, sein Herz bei Dritten
auszuschütten. Wie oft geschieht das! Wie oft geschieht es, dass über jemanden
hinter dessen Rücken geredet, ja hergezogen wird! Oder noch schlimmer, dass
jemand „vor versammelter Mannschaft“ bloßgestellt, herunter- und fertiggemacht
wird.
„Sprich mit
ihm unter vier Augen!“
Das ist eine
Aufforderung, Konflikte direkt auszutragen, Kritik persönlich anzubringen,
allerdings nicht mit dem Holzhammer, sondern möglichst taktvoll, sensibel und
behutsam. Die richtigen Worte finden, die günstige Gelegenheit. Den anderen
nicht verletzen, an den Pranger stellen, ihn nicht blamieren, seine Fehler nicht
breittreten.
Im frühen
Mönchtum wurde die „Kunst der brüderlichen Zurechtweisung“ (correctio
fraterna) gepflegt.
Ein
lehrreiches und amüsantes Beispiel ist die Erzählung über Abt Ammonas:
Diesem Abt wurde
von aufgebrachten Mönchen zugetragen, dass sich in der Zelle eines Mitbruders
eine Frau aufhalte. Als der Abt samt Gefolge in der Zelle des besagten Mönchs
auftauchte, konnte dieser die Frau gerade noch in einem Fass verstecken. – Abt
Ammonas überblickte sofort die Lage. Er setzte sich aufs Fass und ordnete eine
Durchsuchung der Zelle an. Man fand natürlich nichts. Darauf sagte der Abt zu
den Mönchen: „Was ist das? Gott soll euch vergeben!“
Er ließ ein Gebet
verrichten und bat alle hinauszugehen. Dann nahm er den Bruder bei der Hand und
sprach: „Gib auf dich acht, Bruder!“ Nach diesen Worten ging er weg.
Ich kann mir
vorstellen, dass der Mönch sich die Ermahnung des Abtes zu Herzen nehmen konnte,
denn er wurde nicht beschämt, sondern höflich, intim und zuvorkommend behandelt.
Der Mönch hat
wohl gespürt, dass der Abt ihm seine Verfehlung nicht ankreidet oder nachträgt,
sondern es trotz allem gut mit ihm meint.
Ob ein Mitmensch
unsere Ermahnung annehmen kann, hängt großenteils auch davon ab, wie
wir sie anbringen.
Ich kann Kritik
pharisäerhaft anbringen, von oben herab, so als würde ich immer alles richtig
machen und der andere alles falsch.
Ich kann dem
anderen die Wahrheit wie einen nassen Lappen um die Ohren hauen, womöglich noch
vor anderen, dann wird sich der andere gedemütigt und beschämt fühlen,
vielleicht sogar aggressiv reagieren oder auf Rache sinnen.
Wichtig
ist, das ich
Kritik, wo ich meine sie üben zu müssen, so anbringe, dass der andere sie
annehmen kann, sie dem anderen wie einen Mantel hinhalten, in den er oder sie
gut hineinschlüpfen kann.
Ich finde es
interessant, dass das griechische Wort „paraklein“ zugleich ermahnen bzw.
zurechtweisen, aber auch aufrichten und trösten heißt.
Jesus ermuntert
uns zu einer Kritik, die nicht klein- und fertigmacht, sondern aufrichtet, eine
Kritik, die liebevoll ist und im andern immer den Bruder, die Schwester sieht.
Vom heiligen
Franziskus ist das Wort an einen Provinzial überliefert:
„Es darf
keinen Bruder auf der Welt geben, mag er auch gesündigt haben, soviel er
sündigen konnte, der deine Augen gesehen hat und dann von dir fortgehen müsste,
ohne dein Erbarmen, wenn er Erbarmen sucht. Und sollte er nicht Erbarmen suchen,
dann frage du ihn, ob er Erbarmen will. Und würde er danach auch tausendmal vor
deinen Augen sündigen, liebe ihn mehr als mich, damit du ihn zum Herrn ziehst.
Und mit solchen habe immer Erbarmen.“
(aus: Brief an einen Minister)
Es gilt also,
unnötige und liebleere Kritik sein zu lassen. Vor jeder Kritik, vor jeder
Zurechtweisung des anderen sollten wir auf Gott schauen, „der seine Sonne
scheinen lässt über Guten und Bösen“ (Mt 5, 45) und der sich in Jesus
Christus als unbegreiflich gütig und barmherzig erwiesen hat. Seine Strategie
war es, das geknickte Rohr nicht zu zerbrechen und den glimmenden Docht nicht
auszulöschen.
Dort aber, wo es
um Verantwortung füreinander geht, dort, wo Kritik angebracht und nötig ist,
gilt es, sie so kundzutun, dass der andere möglichst nicht beschämt und
bloßgestellt wird, sondern sie annehmen und beherzigen kann.
Brüderliche Zurechtweisung
soll eine Brücke sein und nicht den Graben noch mehr vertiefen. Es geht um
Hilfe, nicht um Gericht.
Ziel ist nicht
eine Demonstration der Macht, sondern Versöhnung und einen neuen Anfang zu
ermöglichen.
Nicht von
ungefähr geht unserem Evangelium das Gleichnis vom verirrten Schaf voraus, das
es zu suchen gilt. Und nicht von ungefähr geht unser Evangeliumsabschnitt
nahtlos weiter mit der Frage des Petrus, wie oft dem sündigen Bruder zu vergeben
ist, worauf Jesus antwortet: „Siebenundsiebzigmal“, also immer.
Allerdings,
brüderliche Zurechtweisung, Zurückgewinnung eines sündigen Bruders oder auch
Schwester, verzeihen und einen neuen Anfang schenken, ist das gar nicht so
einfach! Es ist eine Kunst.
Papst
Johannes XXIII. hat diese Kunst anscheinend beherrscht.
Aus der
Zeit als er noch Patriarch von Venedig war, berichtet sein Sekretär: Johannes
habe eines Tages erfahren, einer seiner Priester schaue zu oft und zu tief ins
Glas. „Da müssen wir hin“, habe ihm Johannes gesagt. Am Pfarrhaus verwies
man die beiden ins Gasthaus. Johannes schickte den Sekretär hinein, den Pfarrer
zu holen. Der Sekretär kam mit der Auskunft zurück: „Sein Hut hängt da, aber
er ist nirgendwo zu sehen.“ Mit der Bemerkung „wenn der Hut da ist, ist
auch der Mann da“, schickte Johannes ihn noch einmal fort. Schließlich kamen
beide. Johannes ging mit dem Priester wortlos in sein Palais. Dort bot er ihm
einen Stuhl an und sagte: „Setz dich, ich möchte
nämlich bei dir beichten!“
Kein Wort des
Vorwurfes, keine Aufzählung der Schandtaten, keine Bloßstellung vor anderen
Gästen. Statt dessen Wohlwollen, liebende Zuwendung und Bekenntnis der eigenen
Sünden.
Von dem Pfarrer
sagt man, er habe nie mehr zu viel getrunken.
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