Erste Lesung
Ihr,
meine Herde, ich sorge für Recht zwischen Schaf und Schaf
Lesung
aus dem Buch Ezéchiel
11So
spricht Gott,
der Herr: Siehe, ich
selbst bin es, ich will
nach meinen Schafen fragen und
mich um sie kümmern.
12Wie
ein Hirt sich um seine Herde kümmert an dem Tag, an
dem er inmitten seiner Schafe ist, die sich verirrt haben, so
werde ich mich um meine Schafe kümmern und ich werde sie retten aus all den Orten, wohin sie sich am
Tag des Gewölks und des
Wolkendunkels zerstreut haben.
15Ich,
ich selber werde meine Schafe weiden und ich, ich selber werde sie ruhen lassen – Spruch Gottes,
des Herrn.
16Die
verloren gegangenen Tiere will ich suchen, die
vertriebenen zurückbringen, die
verletzten verbinden, die
schwachen kräftigen, die
fetten und starken behüten. Ich
will ihr Hirt sein und
für sie sorgen, wie es recht ist.
17aIhr
aber, meine Herde – so spricht Gott,
der Herr —, siehe, ich sorge
für Recht zwischen Schaf und Schaf.
Geht es
Ihnen auch so,
liebe Schwestern und Brüder, dass Sie sich freuen, wenn Sie einer
Schafherde mit einem Hirten begegnen?
Für mich
jedenfalls hat der Anblick immer etwas Schönes, etwas Erfreuliches und
Wohltuendes.
Wie
kommt’s? –
Vielleicht ist es das Friedvolle und Beruhigende, das das Bild einer Schafherde
ausstrahlt. Vielleicht schwingt aber auch ganz viel Sehnsucht mit, Sehnsucht
nach Geborgenheit, Sehnsucht nach Behütet- und Umsorgt-Sein.
Am 27.
April 2008 ist
zwischen Fulda und Würzburg ein Schnellzug mit 200 km/h in einem Tunnel in eine
Schafherde gerast. Wie durch ein Wunder kam keiner der Fahrgäste zu Tode. Es gab
mehrere Schwerverletzte und eine ganze Reihe Personen mit leichten Blessuren.
Viele kamen mit dem Schreck davon.
Doch wie
konnte das passieren?
Angesichts der dezimierten Schafherde und vieler verstümmelter Tierkadaver
stellte sich die Frage nach den Verantwortlichen. Wo war der für die Schafe
Zuständige? Wo war der Hirt, der Hüter der Tiere, dem die Schafe zur Obhut
anvertraut waren?
Das
Verwunderliche und Widersprüchliche
war, dass in diesem Unglücksfall der zuständige Hirte seiner Verantwortung und
Fürsorgepflicht offensichtlich nicht nachgekommen ist, jedenfalls nicht so, wie
wir das mit dem Bild eines Hirten verbinden und auch von einem Hirten eigentlich
erwarten.
Bei
einem Hirten,
der seine Aufgabe ernst nimmt und auf den man sich verlassen kann, bei einem
Hirten, der wirklich Hirte ist, darf man davon ausgehen, dass er für die ihm
anvertraute Herde sorgt, dass er die Tiere auf gute und sichere Weide führt,
dass er sie vor Gefahren schützt und sich zu jeder Zeit um sie kümmert.
Liebe
Mitchristen!
Hirte-Sein ist
seit Tausenden von Jahren der Inbegriff von Fürsorge. Eine alte Darstellung aus
Mesopotamien zeigt einen Hirten, wie er mit einem Spieß gegen einen Löwen
vorgeht. Der nämlich will die Kuh angreifen, die gerade kalbt. Hirte-Sein
heißt kämpfen gegen eindringende Feinde, gegen zerstörerische Mächte. Hirte-Sein heißt beschützen, hegen und pflegen, hüten und fördern, zärtlich
und kraftvoll zugleich.
Im
ganzen Orient –
so auch in Palästina – wurde das Bild vom Hirten, der die ihm Anvertrauten führt
und leitet, der für sie sorgt und sich um sie kümmert, nicht nur auf Gott,
sondern auch auf die Herrscher des Volkes übertragen, auf Fürsten, Könige und
Priester. Und so durchzieht das Bild und die Rede vom Hirten das ganze Alte
Testament. Aber auch im Neuen Testament klingt das Hirten-Motiv an vielen
Stellen an.
Heute, liebe
Mitchristen, haben wir in der ersten Lesung einen kleinen Abschnitt bzw.
Ausschnitt aus der großen Hirtenrede des Propheten Ezechiel gehört. – Allerdings
handelt es sich nicht um eine Dank- und Lobrede, sondern um eine Schelt- und
Drohrede. Der Prophet als Sprachrohr Gottes übt scharfe Kritik. Denn die
„Hirten des Volkes“, gemeint sind die politischen Führer Israels, haben
auf der ganzen Linie versagt. Sie haben Führung und Fürsorge vergessen und nur
Augen für das eigene Wohl gehabt.
Sie
„weiden nur sich selbst“,
spricht Gott durch den Propheten. Sie kennen nur sich, haben nur ihre Karriere,
ihre Selbstdarstellung, ihre Macht und ihr eigenes Wohlergehen im Sinn.
Diejenigen, für die sie da sein und für die sie sorgen sollten, sind ihnen,
völlig egal. Es sind schlechte Hirten. Sie kümmern sich nicht um ihre Schafe. Im
Gegenteil: Sie beuten die Herde, die auf ihre Umsicht und Vorsicht, auf ihren
Schutz und ihre Fürsorge angewiesen ist, rücksichtslos aus und sehen in ihr nur
ein Mittel zum eigenen Zweck.
Und so
lässt der Prophet Gott sprechen: „Die schwachen Tiere stärkt ihr nicht, die Kranken heilt ihr nicht, die
Verletzten verbindet ihr nicht und die Starken misshandelt ihr.“ (Ez 34, 4)
Doch
Gott ist das Volk nicht gleichgültig.
Er macht der Herrschaft der schlechten Hirten ein Ende. „Ich rette meine
Schafe aus ihrem Rachen, sie sollen nicht länger ihr Fraß sein.“ (34, 10)
ER, Gott
selbst, macht
sich auf den Weg, um seine verlorenen Schafe zu suchen, sie auf gute Weide zu
führen und sich um sie zu kümmern. „ICH, ICH SELBST…“ ER kümmert sich so,
wie man es von einem wahrhaft guten Hirten erwarten darf. Und ER tut es mit
Hingabe und Leidenschaft. Ja, ER ist der wahre und gute Hirt.
(Hier setzen die
Verse der heutigen Lesung ein!)
Anders
als die Machthaber in Jerusalem, die die Herde im Stich gelassen haben, so dass
sie sich in alle Richtungen zerstreut hat und zu einer leichten Beute für die
wilden Tiere geworden ist, will Gott sein Volk neu sammeln und immer in seiner
Mitte bleiben.
(Im
Hintergrund steht die Hoffnung auf die Rückkehr aus der babylonischen
Gefangenschaft. Diese Rückkehr aus der Verbannung in das eigene Land wird in den
beiden – in der Lesung leider weggelassenen Versen 14 und 15 – ausdrücklich
versprochen: Die Berge und Täler Israels sollen von neuem zum guten Weideland
für die Vertriebenen werden.)
Gott
selbst also
nimmt das Heft in die Hand. Gott selbst wird für all das sorgen, was die
pflichtvergessenen und selbstsüchtigen Machthaber in Jerusalem versäumt haben.
Er
wird „die verloren gegangenen Schafe suchen, die vertriebenen zurückbringen,
die schwachen kräftigen, die fetten und starken behüten.“ (V.16) Er
sorgt dafür, dass sich alle wirklich sicher fühlen können und schaut danach,
dass jedem das Seine zukommt.
Welch
ein großartiges Gottesbild!
Welche Achtsamkeit und Aufmerksamkeit!
Welche Fürsorge und Liebe für die Schafe!
Ein Bild voller Herzenswärme,
das anspricht und berührt.
Der
Evangelist Johannes
hat es bewusst aufgegriffen und in der großen Rede vom guten Hirten (Joh 10) auf
Jesus übertragen.
ER hat in seinem
Leben gezeigt, was Liebe ist. ER hatte ein Herz für die Schwachen, die Armen,
die Kranken, die Ausgestoßenen und die Sünder. Ein weites Herz, ein treues Herz,
ein gütiges Herz.
Frühchristliche Darstellungen
zeigen Jesus als Hirten, der behutsam ein Lamm auf seinen Schultern trägt. Als
guter Hirt gibt er sein Leben hin für seine Schafe. Jesus selbst, „das
Lamm Gottes“ und der „gute Hirt“ in einem, zeigt bewegend die Erlöserliebe
Gottes.
Liebe
Schwestern und Brüder!
Ob wir für andere
Hirten und Hirtinnen waren, ob wir die Schwachen (im Evangelium die Hungernden,
Kranken, Obdachlosen, Gefangenen und Unbekleideten) wahrgenommen, uns ihrer
angenommen, uns fürsorglich ihnen zugewandt, uns um sie gekümmert und ihnen Herz
und Hände geöffnet haben, ob wir uns auch für die Rechtlosen stark gemacht haben
und für sie eingetreten sind, das wird am Ende unseres Lebens die große
und alles entscheidende Frage sein.
So
gesehen, ist
jede und jeder – egal ob hauptamtlich, ehrenamtlich oder sonst was – gefragt,
wenn es um „Pastoral“ geht, um Hirtenkunst und Hirtensorge. Sie zu erlernen,
sie zu üben und auszuüben, kraftvoll und zärtlich zugleich, darauf kommt es an.
Jedenfalls, am
Abend unseres Lebens wird es die Liebe sein, nach der wir gefragt werden, die
praktische, konkrete Nächstenliebe.
Nicht von
ungefähr sind die leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit (siehe Gl.
29,3) das Kennzeichen, aber auch der Maßstab und der
Prüfstein, sozusagen die Checkliste unseres Lebens als Christen mitten in
der Welt.
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