Zwei Brüder wohnten
einst auf dem Berg Morija. Der jüngere war verheiratet und hatte Kinder,
der ältere war unverheiratet und allein. Die beiden Brüder arbeiteten
zusammen, sie pflügten das Feld zusammen und streuten zusammen den Samen
aus. Zur Zeit der Ernte brachten sie das Getreide ein und teilten die
Garben in zwei gleich große Stöße, für jeden einen Stoß Garben.
Als es Nacht geworden
war, legte sich jeder der beiden Brüder bei seinen Garben nieder, um zu
schlafen. Der ältere aber konnte keine Ruhe finden und sprach in seinem
Herzen: Mein Bruder hat eine Familie, ich dagegen bin allein und ohne
Kinder und doch habe ich gleich viele Garben genommen wie er. Das ist
nicht recht. Er stand auf und nahm von seinen Garben und schichtete sie
heimlich und leise zu den Garben seines Bruders. Dann legte er sich
wieder hin und schlief ein.
In der gleichen Nacht
nun, geraume Zeit später, erwachte der jüngere. Auch er musste an seinen
Bruder denken und sprach in seinem Herzen: Mein Bruder ist allein und
hat keine Kinder. Wer wird in seinen alten Tagen für ihn sorgen? Und er
stand auf, nahm von seinen Garben und trug sie heimlich und leise
hinüber zum Stoß des älteren.
Als es Tag wurde,
erhoben sich die beiden Brüder, und wie war jeder erstaunt, dass ihre
Garbenstöße die gleichen waren wie am Abend zuvor. Aber keiner sagte zum
anderen darüber ein Wort.
In der zweiten Nacht
wartete jeder ein Weilchen, bis er den anderen schlafend wähnte. Dann
erhoben sie sich und jeder nahm von seinen Garben, um sie zum Stoß des
anderen zu tragen. Auf halbem Weg trafen sie plötzlich aufeinander und
jeder erkennte, wie gut es der andere mit ihm meinte. Da ließen sie ihre
Garben fallen und umarmten einander in herzlicher, brüderlicher Liebe.
Gott im Himmel aber
schaute auf sie hernieder und sprach: „Heilig, heilig sei mir dieser
Ort. Hier will ich bei den Menschen wohnen.“
Ich bewundere die beiden
Brüder.
Wie viel
Einfühlungsvermögen besitzen beide!
Wie einer sich in die
Situation des anderen hineinversetzt, das finde ich beeindruckend.
Keiner denkt nur an sich.
Jeder will, dass es dem anderen gut geht.
Wie ganz anders ist oft
unser Verhalten!
Wie ganz anders denken
wir oft vom anderen!
Wenn er seine Arbeit
nicht zu Ende führt, ist er faul.
Wenn ich meine Arbeit
nicht abschließe, bin ich beschäftigt und überarbeitet.
Spricht er über
andere, ist er ein Klatschmaul.
Tue ich das gleiche,
übe ich konstruktive Kritik.
Verteidigt er seine
Sache, ist er dickköpfig.
Beharre ich auf meinem
Standpunkt, bin ich ein Mann von Charakter.
Redet er nicht mit
mir, ist er hochnäsig.
Rede ich nicht mit
ihm, war ich halt mit den Gedanken nicht dabei.
Ist er freundlich,
führt er was im Schilde.
Bin ich freundlich,
ist das so meine nette Art.
Der Umgang miteinander,
das Zusammenleben überhaupt, erfordert viel Sensibilität und
Einfühlungsvermögen.
Wie schnell hat man einem
anderen Unrecht getan!
Wie schnell ihn verletzt,
gekränkt!
Es fordert aber auch viel
Geduld, Verständnis und Rücksichtnahme!
Auf der Suche nach dem
richtigen Weg, wenn wir fragen, wie Begegnungen gelingen und wie
Zusammenleben glückt, sollten wir nicht vergessen, dass der
biblisch-christliche Weg LIEBE heißt.
Jesus Christus hat uns in
seinem Leben gezeigt, was Liebe ist.
Er hat uns geliebt und
sich für uns hingegeben. Er trägt uns auf:
„Liebt einander, wie
ich euch geliebt habe.“
Wie man die Menschen
lieben soll,
so erzählt ein jüdischer Rabbi, das habe ich
von einem Bauern gelernt.
Der saß mit anderen
Bauern in einer Schenke und trank.
Lange schwieg er wie
die anderen alle. Als aber sein Herz von Wein bewegt war, sprach er
seinen Nachbarn an:
„Sag, liebst du mich
oder liebst du mich nicht?“ Jener antwortete: „Ich liebe dich sehr!“ Er
aber sprach wieder: „Du sagst, ich liebe dich, und weißt doch nicht, was
mir fehlt. Liebtest du mich in Wahrheit, du würdest es wissen.“ Der
andere vermochte kein Wort zu erwidern und auch der Bauer, der gefragt
hatte, schwieg wieder wie zuvor.
Ich aber verstand, dass es Liebe zum Menschen ist, sein Bedürfen
zu spüren und sein Leid zu tragen.
Das ist Liebe zu den
Menschen, ihr Bedürfen spüren und ihr Leid tragen!
Jeder Mensch sehnt sich
danach zu lieben und geliebt zu werden.
Jeder Mensch sehnt sich
nach dem „Ja des Seindürfens“.
Der Mensch lebt davon,
dass es da jemanden gibt, der ihm sagt und zeigt, wie viel er ihm wert
ist.
Der tiefste Sinn unseres
Lebens ist die Liebe, die Liebe, die man gibt und die man empfängt. Am
Ende unseres Lebens wird das einzige, was Bedeutung hatte, die Liebe
sein.