Das Bild vom Hirten und seinen Schafen ist in unseren
Breitengraden selten geworden. Ein Schäfer, der mit seinen Schafen übers
Land zieht oder seine Herde irgendwo weiden lässt, hat jedoch nach wie
vor etwas Idyllisches und Anrührendes an sich.
Idyllisch und geruhsam war der Beruf des Hirten
zurzeit Jesu in Palästina allerdings nicht. Es war ein harter Beruf,
mühevoll, anspruchsvoll, entbehrungsreich. Keine Sache für Träumer!
Der gute Hirt, der für seine Schafe sorgt, sie auf
gute Weise führt, der sie beschützt und bei Gefahr verteidigt, wurde
schon im Alten Testament ein Bild für Gott selbst. – Und so betet der
Psalmist: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen“ (Ps
23). Und Psalm 79 nennt das Volk Israel „die Herde seiner Weide“.
Das Neue Testament geht einen Schritt weiter und
überträgt das Bild vom Hirten auf Jesus. ER ist für die Menschen da. ER
widmet sich ihnen und geht auf sie ein. ER schenkt ihnen sein Wort,
seine Zuwendung, seine Liebe. ER erbarmt sich ihrer.
Einmal heißt es (vgl. Mk 6, 34): „Als Jesus die
vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen, denn sie waren wie
Schafe, die keinen Hirten haben“. Sie waren führungslos,
orientierungslos, schutzlos. „Und er lehrte sie lange.“ – ER nimmt sich
ihrer an. ER schenkt ihnen seine Zeit. ER gibt ihnen Weisung. ER zeigt
ihnen den Sinn und das Ziel des Lebens auf.
Schließlich sagt Jesus von sich selbst
unmissverständlich und klar: „Ich bin der gute Hirt.“ Und
er verdeutlicht sein Hirt-Sein durch drei Aussagen: „Meine Schafe
hören auf meine Stimme. Ich kenne sie und sie folgen mir“ (vgl. Joh
10, 14 - 16).
Sehen Sie, liebe Mitchristen, da ist eine ganz
enge Beziehung, eine große Nähe und Vertrautheit zwischen Hirt und
Schafen.
Der gute Hirt kennt jedes Tier. Er weiß um die
Eigenart jedes einzelnen und geht liebevoll und fürsorglich damit um.
Die Schafe erwidern sein Wohlwollen und seine
Zuwendung. Sie haben Vertrauen zu ihm. Sie hören auf seine Stimme und
folgen ihm bereitwillig.
Liebe Schwestern und Brüder!
Durch Jesu Leiden und Sterben erfuhr das Bild vom Guten
Hirten noch eine Ergänzung, eine zusätzliche Interpretation:
„Der gute Hirt gibt sein Leben hin für seine Schafe.“
Wie ein guter Hirt sich persönlich einsetzt und
alles tut, um seine Schafe zu schützen und zu retten, und sogar bereit
ist, für sie in den Tod zu gehen, so hat Jesus sein Leben für die
Menschen hingegeben. ER ist für uns gestorben, damit wir das Leben
haben. (vgl. Joh 10, 11 - 18)
Die frühen Christen haben das alles verstanden.
Deshalb waren die ersten Christusdarstellungen (z. B. in den Katakomben
und auf Sarkophagen) Bilder vom guten Hirten.
Das Schaf, das Jesus auf seiner Schulter trägt,
war für sie ein Bild für die verlorene Welt. ER, der Herr, bringt sie
zurück. ER macht sich Mühe um sie. ER holt sie heim. ER lässt sich seine
Liebe ganz viel kosten. ER geht ganz weit in seiner Liebe.
Von ihm heißt es: „Da er die Seinen liebte, die
in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung“ (Joh 13, 1).
Und: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn
einer sein Leben hingibt für seine Freunde“ (vgl. Joh 14, 13).
Ja, Christus hat uns geliebt und sich für uns hingegeben!
Auf einem Wegkreuz habe ich einmal die Worte
gelesen: „Das tat ich für dich. Was tust du für mich?“ Das ist
die Frage an mich, an uns persönlich: Wie weit bin ich bereit zu
gehen in meiner Liebe? Spüre ich, wie Gottes Liebe meine Liebe ruft?
In einem Gebet heißt es:
„Christus hat keine Hände, nur unsere Hände, um seine
Arbeit heute zu tun…“
Liebe Schwestern und Brüder! Wir alle sind
berufen, gute Hirten und gute Hirtinnen zu sein, füreinander und für die
Menschen, die uns begegnen und die uns anvertraut sind.
Das ist es: Die Menschen, mit denen ich, bzw. mit
denen wir zu tun haben, sollen – in unserem fürsorglichen, achtsamen
Umgang miteinander, durch unsere Solidarität mit den Armen und
Schwachen, durch unsere Güte und Hilfsbereitschaft – etwas von der
Hirtensorge Gottes erkennen und erfahren.