„Bin ich denn der
Hüter meines Bruders?“
Ganz am Anfang der
Heiligen Schrift findet sich dieses Wort.
Kain antwortet so, als
Gott ihn nach seinem Bruder fragt.
„Bin ich denn der
Hüter meines Bruders?“
Die Frage wird auch heute noch gestellt.
Was gehen mich die
Jugendlichen an, die orientierungslos verwahrlosen? – Was scheren mich
die Alleinerziehenden, die an der Armutsgrenze leben? – Ist es mein
Problem, wenn es irgendwo soziale Unruhen und Krawalle gibt oder
Hungerrevolten? – Was kümmern mich die Harz IV-Empfänger, Kranke, Alte,
Einsame? Lass mich doch in Ruh! Hauptsache mir geht’s gut!
Kain ist keine Gestalt
von anno dazumal.
Kain ist eine Art zu
denken und über Leichen zu gehen.
Er lebt im gierigen
Manager, der das Maximum für sich herausholt; als gut verdienender
Abtreibungsarzt; als Politiker, der die Grenzen für afrikanische
Produkte dicht macht; als Schlepper, der sich an menschlicher Not
skrupellos bereichert.
Kain lebt in jedem, der
sagt: „Was geht mich das an? Bin ich denn der
Hüter meines Bruders?“
Egal ob man den Satz ausspricht oder ihn nur denkt, man
weist damit Verantwortung von sich weg.
Im Hebräischen, der Sprache des Alten Testaments, ist das Wort für
Hüter und Hirt dasselbe: „Bin ich denn der
Hirte meines Bruders?“
Wenn Jesus auch so gesprochen und gedacht hätte, dann
gäbe es für uns freilich keine Erlösung und Rettung!
„Bin ich denn der Hüter, der Hirte meines Bruders?“
Wenn in einer Gemeinschaft alle so denken würden,
könnten wir einpacken und den Laden dicht machen! – Wenn in der Kirche alle so denken würden, dann wäre die Kirche bald am Ende! –
Wenn in der bürgerlichen Gesellschaft jeder nach diesem Motto
leben würde, dann wäre unsere Gesellschaft schnell ein Scherbenhaufen,
auf dem keiner mehr leben könnte.
Wir leben von den „guten Hirten“ und „guten
Hirtinnen“.
Wir leben von Menschen, die nicht nur nach sich selber
schauen, sondern auch ein umsichtiges Auge und eine helfende Hand für
andere haben. – Wir leben von Menschen, die da sind, wo sie Not sehen
und helfen, wo Hilfe nötig ist. – Wir leben von Menschen, die sich nicht
aus allem heraushalten, sondern sich einsetzen, ihre Zeit und ihre Kraft
zur Verfügung stellen, Verantwortung übernehmen, fürsorgend da sind,
ohne gleich nach dem Lohn zu fragen oder auf Gegenleistung zu
spekulieren.
Das Bild vom „guten Hirten“,
das uns heute im Evangelium entgegentritt, ist noch immer nicht
veraltet.
Wir alle sind auf den Hirtendienst Jesu angewiesen. Und
wir sind darauf angewiesen, dass dieser Hirtendienst auch heute durch
Menschen weitergeführt wird. Es ist schön und wertvoll, wenn er an uns
geschieht. Es ist aber auch wichtig, dass er durch uns geschieht.
Und da denke ich – auch wenn heute der Welttag der
geistlichen Berufe ist – nicht nur an den Papst, die Bischöfe, die
Priester und die anderen Hauptamtlichen in der Pastoral, so wichtig
diese Dienste sind und so sehr wir um gute und genügend Priester, um
Ordensnachwuchs, um Frauen und Männer in der Seelsorge und für
Geistliche Berufen beten sollen. – Nein, wir alle sind dazu berufen,
Hirt und Hirtin zu sein im Blick auf Menschen in unserer Umgebung, für
Menschen, die uns anvertraut sind, für Menschen, die uns brauchen, unser
Dasein, unser Zuhören, unser Zeithaben, vielleicht auch unsere Fürsorge
und Unterstützung.
Auch Eltern haben z. B. Teil am Hirtendienst. Stellen Sie
sich vor, Eltern sagen: „Sind wir denn die
Hüter unserer Kinder?“
Das gleiche gilt für die Erzieherin, den Altenpfleger,
eine Krankenschwester, Lehrer und viele andere Berufe.
Oder stellen Sie sich vor, wir Kapuziner wählen einen
Oberen, einen Provinzial, einen Guardian (Hausoberen) und der sagt oder
denkt, wenn er im Amt ist: Rutscht mir doch alle den Buckel runter,
Dienst nach Vorschrift, pure Pflichterfüllung! Genauso ein
Bürgermeister, ein Vereinsvorsitzender usw.
„Bin ich denn der Hüter, der Hirte meines Bruders?“
Wo kommen wir hin, wenn jeder so denkt, wenn jeder nur
sich selbst der Nächste ist, seine eigenen Schäfchen ins Trockene
bringt, nur an seinen Vorteil bedacht ist und gleichgültig, ja zynisch
fragt: „Bin ich denn der Hüter, der Hirte
meines Bruders?“
Natürlich ist mit Hirt oder Hirtin sein nicht überbehüten
und überbemuttern gemeint. Ein guter Hirt und eine gute Hirtin gibt auch
den nötigen Freiraum, macht nicht abhängig und vereinnahmt den anderen
nicht.
Aber da, wo Not ist, da wo wir gebraucht werden, da wo
wir helfen können, da geht es darum, dass wir mit Jesus und wie Jesus
den Dienst des guten Hirten tun.
Ich habe einmal gelesen: „Der
gute Hirt ist der Mensch mit guten Händen, mit Händen, die Geborgenheit
schenken.“
Sie wissen:
Eine Hand kann sagen: „Ich bin da! Hab keine Angst!“
Sie kann aber auch sagen: „Hau ab! Du bist mir zu
viel!“ Oder: „Verschwinde! Du störst! Du
bist lästig!"
In Jesus Christus hat Gott
seine guten Hände in diese Welt ausgestreckt. Sie sollen nicht die
Einzigen bleiben. Er erwählt auch uns. Er will unsere Hände, damit sie
gute, helfende, stärkende, bergende, heilende Hände seien. Er braucht
unsere Hände, damit wir Gottes Hände heute sind.
Wie gut tun Hände, die sich einem in Trauer und Angst
entgegenstrecken! – Wie heilsam sind Hände, die sich um hilflose
Schultern legen und von weinenden Augen die Tränen trocknen! – Wie
wohltuend sind Hände, die am Krankenbett einfach die Hand des Kranken
oder Sterbenden halten!
Gute Hände, Hirtenhände, Hände, die trösten, aufrichten,
Halt geben, wie dringend braucht es sie heute! Der Bedarf nach Zuwendung
ist riesig!
Jesus sagt: „Ich bin der gute
Hirt.“ Ich nehme dich an der Hand. Ich bin da für dich! Ich berge dich!
Ich schütze dich! Ich sorge für dich! Ich nehme dich an. Du bist mir
wertvoll. Du bist mir wichtig! Ich sage Ja zu dir! Ich liebe dich!“
So gesehen ist Jesus das Gegenstück zu Kain.
Er ist der gute Hirt, der Hüter jedes Einzelnen. Wir sind
ihm nicht gleichgültig. Ihm liegt an uns. So sehr liegt ihm an uns und
so sehr liebt er uns, dass er sein Leben für uns hingibt.
„Ich gebe mein Leben hin für meine Schafe.“
„Guter Hirt“ und „gute
Hirtin“ sein, d. h., dem Leben dienen, Leben hüten.
„Guter Hirt“ und „gute
Hirtin“ sein, d. h.: Geborgenheit schenken, ohne einzuschnüren;
helfend da sein, ohne abhängig zu machen; füreinander sorgen, ohne zu
klammern; Zuwendung schenken, ohne etwas überzustülpen.
„Guter Hirt“ und „gute
Hirtin“ sein, d. h.: wissen, was dem anderen fehlt; spüren, wessen
er bedarf; Anteil nehmen und Anteil geben.
Einander Hirtendienste tun,
sich nicht aus der Verantwortung stehlen und doch Freiheit gewähren,
darauf kommt es an im engen Kreis der Familie, einer Gemeinschaft, unter
Freunden, in der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in der Kirche und in
der Gesellschaft!
Nicht: „Bin ich denn der Hüter meines Bruders“,
sondern einem Wort von Elisabeth von Thüringen entsprechend: „Füreinander da sein, weil Gott uns gezeigt hat, dass er
für uns da ist.“
Sagen Sie es selbst: Wie
anders sollen Menschen heute Jesu Hirtensorge und seinen Hirtendienst
erfahren, wenn nicht durch Menschen, wenn nicht an uns und durch uns,
die wir Christi Namen tragen und im bleibenden Auftrag des guten Hirten
stehen?