Liebe Schwestern und Brüder!
Sie werden sich wundern. Aber es ist tatsächlich
so: Die ersten christlichen Jahrhunderte kennen keine Kreuzesdarstellung.
Das erste Kreuz ist ein Spottkreuz. Es zeigt den
Gekreuzigten mit Eselskopf. Darunter steht: „Alexamenos betet seinen Gott
an.“
Das Kreuz, das hat schon der Apostel
Paulus so erfahren, war für die Heiden eine Torheit, absoluter Schwachsinn, für
die Juden ein Ärgernis, Skandal. „Verflucht, wer am Kreuz stirbt“,
lautete eine jüdische Redewendung.
Die Hinrichtung am Kreuz war nicht nur
eine sehr grausame Foltermethode, sie galt auch als besonders erniedrigend,
entwürdigend, beschämend. Kein Wunder, dass sich die Christen lange
gescheut haben Jesus am Schandpfahl des Kreuzes darzustellen.
Als sie es dann doch versuchten,
umkleideten sie den Gekreuzigten mit langen priesterlichen Gewändern und einer
kostbaren Krone. Die nackte Wahrheit der Erniedrigung verschwand unter
königlichen Insignien der Erhöhung und Auferstehung.
Auch als man in der Spätgotik zur
realistischen Darstellung (wie z.B. Grünewald bei seinem Isenheimer Altar)
überging, ließ man dem Gekreuzigten das Leinentuch. Hätte man ihn ganz entblößt,
es wäre ein Skandal.
In einem bekannten Weihnachtslied heißt eine
Strophe:
"Er liegt dort elend, nackt und bloß in einem
Krippelein.“
„Elend, nackt und bloß“,
bei einem Säugling können wir das gut singen und sagen. Niemand denkt sich was
dabei.
„Elend, nackt und bloß“,
so ist im vorletzten Konradsblatt, der Bistumszeitung der Erzdiözese Freiburg,
auch eine Bildmeditation überschrieben. Dargestellt ist der Corpus des
Gekreuzigten ohne Gesicht, ohne Arme, ohne Beine. Damit können wir ja uns noch ganz
gut anfreunden. Das können wir sogar positiv deuten, nach dem Motto:
„Christus hat keine Hände, nur unsere
Hände, keine Füße, nur unsere Füße, keine Lippen, nur unsere Lippen, um den
Menschen die frohe Botschaft heute zu bringen.“
Doch der Gekreuzigte auf dem Bild im
Konradsblatt ist nicht nur armlos, beinlos und gesichtslos. Er hat auch kein
Lendentuch.
Er ist vollkommen hüllenlos, ganz schutzlos,
total entblößt, nackt bis auf die Haut.
So mancher der das sieht, wird denken: so
was zeigt man doch nicht in einer Bistumszeitung. Oder auch: Über so was
spricht man doch nicht in der Kirche am Karfreitag.
„Elend, nackt und bloß“
– so hängt der Gekreuzigte zwischen Himmel und Erde ausgespannt. Ein
provozierendes, erschütterndes, aber auch nachdenklich stimmendes Bild.
Drastischer kann man die Entblößung, die
Demütigung, das Ausgeliefertsein an die rohe Gewalt nicht darstellen.
Die Täter haben dem Opfer alles genommen. Mit den
Kleidern die „letzte Ehre“, den letzten Rest an Achtung und
Menschenwürde.
Liebe Schwestern und Brüder!
Wer gibt sich schon gern eine Blöße? Aber wenn
man ganz bloß dasteht? Wenn man gewaltsam ausgezogen und vorgeführt wird? Das
ist schamlos, gemein. Das ist erniedrigend und verletzend zugleich.
Von Jesus heißt es im Matthäusevangelium:
„Sie zogen ihn aus… und verteilten unter sich seine Kleider.“ (Mt 27,
28.35)
Und die 10. Kreuzwegstation lautet:
„Jesus wird
seiner Kleider beraubt.“
Im Gotteslob findet sich dazu die Frage:
„Wie oft missachten und verachten wir den anderen, stellen ihn bloß und
lassen nichts Gutes an ihm?“ Es lohnt sich darüber nachzudenken.
Die Soldaten reißen Jesus vor allem Volk
die Kleider vom Leib. Nichts bleibt ihm erspart, auch nicht diese letzte Schmach
und Schande.
Aber nicht nur das Tun der Henker, sondern vor
allem auch das Verhalten derer, die ihm den Prozess machen, ebenso wie das
Verhalten der unbeteiligten Gaffer ist eine einzige Schamlosigkeit.
Müssen sich nicht auch alle schämen, die
mit oder ohne Uniform, in geistlichen oder weltlichen Gewändern, allemal gut
betucht, ihren Nutzen oder ihren Spaß dabei haben andere ausziehen, vorzuführen,
bloßzustellen, zu demütigen, zu erniedrigen, heute wie damals?
Müssen sich nicht auch alle schämen, die
dabei tatenlos zusehen, vielleicht auch geflissentlich wegsehen, nichts wissen
wollen, mit vermeintlich reiner Weste, heute wie damals?
Die ungeschminkte, die nackte Wahrheit!
Sie trifft jeden von uns persönlich – bis ins Mark. Sie trifft uns als Kirche.
Sie holt uns nicht nur aus der Geschichte ein, sie fordert uns gegenwärtig
massiv heraus.
Gesellschaftlicher Einfluss, Ansehen, Akzeptanz –
wir spüren, wie uns das alles immer mehr entgleitet. Wachsende Entkirchlichung
der Gesellschaft. Ein riesen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust und ein
immer kirchenfeindlicheres Klima.
Vieles, was wir vor Jahrzehnten noch wie
selbstverständlich zu besitzen meinten, geht verloren. Vor wenigen Jahren noch:
„Hosianna – Wir sind Papst“. Heute: „Kreuzige ihn!“ Wie
werden wir fertig damit?
Wie gehen wir mit unseren Blößen um, mit der
Schande, mit der Schmach, mit der lawinenartigen Enthüllung immer neuer
Abscheulichkeiten und Verbrechen? Das „Haus voll Glorie“ hat nicht nur
Kratzer bekommen, es ist besudelt, beschmutzt. Die Blöße lässt sich nicht mehr
verbergen, vertuschen. Sie scheint durch, sie ist offensichtlich, sie wird
hervorgezerrt, sie steht im grellen Scheinwerferlicht der Medien.
Stehen wir auf einmal „ganz ohne“ da, ohne
alles Drum und Dran, ohne das, was uns in den Augen der Welt und im Kreis der
Erfolgreichen Ansehen verschafft? Doch könnte es sein, dass gerade diese Armut
unsere Chance ist? Könnte es nicht sein, dass auch in der gegenwärtigen tiefen
Krise, die die Kirche durchleidet, eine Chance steckt? Wer weiß, was Gott mit
uns vor hat? Vielleicht braucht es diese schmerzliche Prüfung als Läuterung und
Reinigung? Vielleicht, hoffentlich, gehen wir, geht die Kirche anders,
gewandelt, neu daraus hervor, vielleicht auch ein Stück demütiger. Besinnung tut
not. Umkehr ist angesagt.
Vielleicht ist eine andere Blöße sogar noch
schlimmer als die Affären, die fast nach Drehbuch ans Licht kommen und immer
mehr die Züge eines Tribunals annehmen, nämlich der Mangel an Glaubenskraft,
Hoffnungsmut und Liebesglut, die Armut an geistlicher Inspiration, die Armut an
spirituellen Energien, der Mangel an Leidenschaft für Gott?
Haben wir noch Kraft, junge Menschen zu
begeistern? Vermögen wir noch Signale des Aufbruchs zu setzen für die nächsten
10, 20 oder 30 Jahre?
Sind wir nicht viel zu viel mit uns selbst
beschäftigt, mit Organisation, mit Strukturreformen, mit neuen
Seelsorgsstrategien für immer größere pastorale Räume, statt mit wirklicher
Seelsorge? Besinnung tut not. Umkehr tut not.
Karfreitag ist die Stunde der Wahrheit,
der nackten Wahrheit. Es ist nicht leicht, ihr standzuhalten.
Karfreitag ist aber auch die Stunde der
großen Liebe Gottes, der Leidenschaft Gottes für sein Volk.
So sehr liebt Gott uns, dass er alles,
sogar seine Würde aufs Spiel setzt, um unsere Menschenwürde zu retten.
Jesus nackt am Kreuz!
Der Karfreitag macht seine ganze Liebe
offenbar. Diese Liebe ist unsere einzige Hoffnung. Das Kreuz ist unsere einzige
Hoffnung.
Wenn wir nachher durch eine Kniebeuge oder
Verneigung das Kreuz verehren, verehren wir kein Folterwerkzeug.
Wir erweisen vielmehr dem unsere
Verehrung, der uns geliebt und sich für uns hingegeben hat. Wir erweisen
dem die Ehre, der in seiner Liebe bis zum Äußersten ging, der für uns am Kreuz
gestorben ist. Das Kreuz ist der größte Liebesbeweis Gottes.
Sehen Sie, liebe Schwestern und Brüder!
Am Karfreitag gedenken wir nicht nur des
schrecklichen und bitteren Leidens Jesu, wir feiern vielmehr sein heilbringendes Leiden! Ein großer Unterschied!
Das Zeichen der Schmach wurde zum Zeichen der
Erlösung, aus Fluch wurde Segen. Der Schandpfahl wurde zum Siegeszeichen des
neuen Lebens.
Eine alte Anrufung lautet: „Ave crux, spes unica = Sei gegrüßt, heiliges Kreuz,
unsere einzige Hoffnung.“
Und der
Eingangsvers der Abendmahlsmesse am Gründonnerstag, mit dem das „sacrum
triduum“, die „Heilige-drei-Tage-Feier“ beginnt lautet: "Wir rühmen uns im Kreuz unseres Herrn Jesus Christus. In ihm ist Heil, Leben
und Auferstehung. Durch ihn sind wir erlöst und befreit.“
|