Ein arabischer Student sucht in München ein Zimmer.
Bald ist er mit seiner Wirtin handelseinig. Doch plötzlich zeigt er auf das
Kreuz in der Wohnung: „Das da muss weg“, sagt er. Die Wirtin nimmt etwas pikiert
das Kreuz von der Wand und will gleich auch noch das Muttergottesbild wegnehmen.
„Nein“, sagt der Araber, „das kann hängen bleiben. Die Frau mit dem Kind ist
schön. Aber das da“ - und er zeigt auf das Kruzifix -, „das ist schrecklich.“
Ich stelle mir vor: der arabische Student kommt an einem Karfreitag zufällig um
15 Uhr nachmittags in eine katholische Kirche. Wenn dann in der Liturgie
drei mal das Kreuz erhoben und das „Ecce lignum“ gesungen wird: „Seht
das Holz des Kreuzes, an dem das Heil der Welt gehangen...“ und wenn dann
alle Gläubigen nach vorne gehen und das Kreuz verehren, ich denke, dann würde
der arabische Student vollends den Kopf schütteln: Ein Galgen, ein
Kreuz, als heiliges Zeichen! Ist das nicht unerhört? Was für eine
seltsame Religion ist doch das Christentum! Im Mittelpunkt steht ein
Gemarterter, ein auf scheußliche Weise zu Tode Gequälter. Ist das zu begreifen?
Sehen Sie: Mit dem Skandal des Kreuzes
und mit der Widersprüchlichkeit des Kreuzes wurde schon Paulus bei seinen
Missionsreisen konfrontiert. „Das Kreuz“, so sagt er und so hat er
es bei seinen Missionsreisen immer wieder erfahren, „ist für die Heiden eine
Torheit“, absoluter Schwachsinn, der Gipfel der Sinnlosigkeit „und für
die Juden ein Ärgernis“, ein Gottesgericht, Fluch und Schande.
„Verflucht, wer am Kreuz stirbt“, hieß es damals.
Ist es nicht wirklich etwas Unerhörtes, dass das Christentum, eine der
großen Weltreligionen, als ihr heiliges Zeichen einen Galgen, ein Kreuz verehrt?
Müsste uns der Anblick eines Kreuzes nicht zu tief aufwühlen? Oder
haben wir uns schon zu sehr daran gewöhnt?
Wir machen oft das Kreuzzeichen. Was denken wir uns dabei? Auf Schritt und
Tritt begegnen wir dem Kreuz. Es hängt hier groß über dem Altar.
Es befindet sich hier im Haus in jeder Kapelle, in jedem Raum, in jedem
Zimmer.
Es steht hier im Kinzig- und Harmersbachtal hundert- ja tausendfach auf
dem Feld und am Wegrand. Es steht auf den Gräbern und auf den Gipfeln der
Berge. Wir haben uns seit Kindesbeinen am den Anblick des Kreuzes gewöhnt.
Begleitet es uns vielleicht zu selbstverständlich?
An einem Flurkreuz las ich einmal folgende Inschrift:
„In allen Werken der Natur,
siehst du des großen Gottes Spur.
Doch willst du ihn noch größer sehn,
so bleib vor diesem Kreuze stehn!“
Für Paulus ist die Verkündigung des Kreuzes die
Zusammenfassung der ganzen Heilsbotschaft. Das Zeichen der Schmach wurde
zum Zeichen der Erlösung. Aus dem Zeichen des Ärgernisses wurde das Zeichen des
Heiles, aus Fluch Segen. Der Schandpfahl wurde zum Siegeszeichen des
neuen Lebens.
Liebe Schwestern und Brüder!
In den letzten Jahren ist das Kreuz wieder in die Diskussion geraten. Was
bedeutet uns das Kreuz?
Lassen Sie mich holzschnittartig ein paar Bedeutungslinien - orientiert
an der Hl. Schrift – aufzeigen, wobei klar ist: das Geheimnis des Kreuzes
ist von unausschöpflicher Tiefe.
Erstens: Freie Tat des Herrn
Jesus ging seinem Tod bewusst entgegen. Er rechnete mit einem gewaltsamen Tod.
Mehrmals sagt er sein Todesschicksal voraus, was sogar bei seinen engsten
Freunden auf Unverständnis stößt: „Das möge Gott verhüten!“
Das Leiden Jesu und sein Sterben am Kreuz sind also kein Zufallsereignis,
kein Hineinstolpern in ein unvorhergesehenes Missgeschick.
Einmal sagt Jesus: „Ich muss mit einer Taufe getauft werden, und ich
bin bedrückt, solange sie noch nicht vollzogen ist.“ An einer anderen
Stelle sagt er: „Niemand entreißt mir mein Leben, sondern ich gebe es aus
freiem Willen.“
„Musste nicht der Messias all das erleiden und so in seine
Herrlichkeit eingehen“, fragt der Auferstandene selbst die verzweifelten
Emmausjünger.
Jesus sucht nicht das Kreuz. Er kennt auch Todesangst. Aber er weicht
nicht aus. Jesus nimmt also mit voller Einsicht und freiwillig das Kreuz
auf sich.
Zweitens:
Hingabe in Gehorsam und Liebe
Das Kreuzesopfer als freie Tat des Herrn ist Hingabe an Gott, an den Willen des
Vaters in Gehorsam und Liebe. - Schon für den Zwölfjährigen ist es das
oberstes Gebot: „in dem zu sein, was seines Vaters ist“ (Lk 2,49)
Und die Versuchungen in der Wüste weist er alle zurück mit dem Verweis
auf Gott: „vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm
allein dienen!“
Und zu Petrus sagt er: „Du denkst nicht, was Gott will, sondern was
die Menschen wollen.“
Später erklärt er: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der
mich gesandt hat.“
Im Vaterunser lehrt er beten: „Dein Wille geschehe!“
Am Ölberg ringt er sich selbst unter Blutschweiß und Tränen zum Willen
des Vaters durch: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.!“
Am Kreuz nun wird er restlos gehorsam.
Im Philipperhymnus heißt es: „er erniedrigte sich und war gehorsam bis
zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“.
Drittens: Das Kreuz ist das Mahnmal unserer Schuld.
Jesus selbst sagt: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu
lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.“
Im Petrusbrief heißt es: „Er hat unsere Sünden an seinem eigenen Leib am Holz
des Kreuzes getragen... Durch seine Wunden sind wir geheilt.“
Paulus sagt sogar: „Er, der Sündenlose ist für uns zur Sünde geworden.“
In Steinhausen ist im Hochaltar der Kirche, die als schönste Dorfkirche der Welt
gilt, ein seltsames Kreuzigungsbild zu sehen: Christus ist bereits vom Kreuz
abgenommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt. Am Kreuz ist gerade ein Engel
dabei, den Schuldschein der Sünde zu vernichten.
Im Exultet der Osternacht singen wir: „O Schuld, glücklich bist du zu preisen.
Welch großen Erlöser hast du gefunden.“
Das Kreuz Christi zeigt uns Schuld und Sünde in ihrem vollen Ausmaß und in
ihrer ganzen Tragik.
Das Kreuz Christi offenbart aber noch in viel stärkerem Maß die Liebe und Treue
Gottes.
Das Kreuz ist also nicht nur Mahnmal der Schuld, sondern viel mehr Denkmal der
Liebe.
Viertens: Denkmal der Liebe.
Das Kreuz ist der äußerste Liebesbeweis Gottes.
1. So sehr hat Gott die Welt geliebt... (Joh. 3,16)
2. Exultet: „O unbegreifliche Liebe des Vaters, um den Knecht zu erlösen, gabst
du den Sohn dahin.“
3. „Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren...“
Das Kreuz ist das Äußerste der sich entäußernden Liebe Gottes.
Fünftens: pro nobis - für uns
In der Normandie befindet sich in einer Dorfkirche eine Kreuzigungsgruppe aus
der Zeit der Gotik.
Das Altargemälde mit der Kreuzigungsszene ist durch eine Besonderheit
ausgezeichnet, die fast gar nicht auffällt, aber einen tiefen theologischen Sinn
verrät. Da, wo über dem Kreuz sonst die Inschrift INRI steht, stehen die beiden
Worte: pro nobis (für uns).
Was immer einen Unbekannten bewogen hat, die ursprüngliche Inschrift zu
übermalen und was immer er sich dabei gedacht hat: in den beiden Worten „pro
nobis“ leuchtet die Sinnmitte der gesamten Existenz Jesu auf.
Diese zwei kleinen Wörtchen „pro nobis“ erschließen uns den Sinn des Lebens,
Leidens und Sterbens Jesu.
Was in und mit Jesus geschehen ist, steht unter dem Gesetz des Weizenkorn, des
Brotbrechens, dem radikalen Einsatz des „für uns“. Jesu Leben war Proexistenz.
Seinen Höhepunkt erhält dieses Eintreten für uns in Jesu Lebenshingabe am Kreuz.
Das Kreuz ist nicht das Scheitern des Lebenswerkes Jesu. Es ist vielmehr die
Erfüllung seiner Sendung.
Sechstens: Kreuzesnachfolge
Jesus ruft uns in seine Nachfolge. Dazu gehört auch das Kreuz. Dazu gehört, dass
wir, was immer unser Leben durchkreuzt, was quer kommt, was uns zusetzt und
belastet, sofern wir es nicht ändern können, annehmen: das Kreuz der Krankheit,
der Angst, die Gebrechen des Alters, Einsamkeit, Verkennung und Missachtung, die
alltäglichen menschlichen Ärgernisse, die Geduld mit dem anderen und das
Sich-gegenseitig-Ertragen.
Von Kardinal Faulhaber stammt das Wort: „Nah beim Kreuz ist nah bei Gott.“
Und ein letztes möchte ich noch erwähnen:
Franziskus liebte das Kreuz. Er liebte den leidenden Herrn. Jeden Tag meditierte
er das Kreuz. Stundenlang kniete er davor und versenkte sich in Christi
Erlöserliebe.
Als jungen Mann trifft ihn der Blick und das Wort des Gekreuzigten. „Von dieser
Stunde an“, heißt es beim Biographen, „war sein Herz verwundet und blutete bei
dem Gedanken an das Leiden Jesu. Und seine Seele durchbohrte das Mitleiden mit
dem Gekreuzigten.“
Zwei Jahre vor seinem Tod prägen sich ihm während einer Gebetseinsamkeit die
Wundmale Jesu auch äußerlich ein. So sehr meditiert Franziskus den Gekreuzigten,
so sehr identifiziert er sich mit seinen Leiden, so sehr lässt er sich ergreifen
und wird ein Mitleidender, in eine solche Gleichförmigkeit mit seinem
gekreuzigten Herrn wächst er hinein, dass sein Einswerden mit Christus, seine
innige Verbundenheit mit ihm in den Wundmalen ein äußeres Siegel erhält.
Er selbst wird zum getreuen Abbild des Gekreuzigten, zu einer Ikone Jesu.
Das Betrachten des Leidens und Sterbens Jesu, die Meditation des Kreuzes -
voller Dank, voller Reue, voller Ergriffenheit und Liebe - gehört wesentlich
(und nicht nur in der Fastenzeit oder in der Karwoche) zum geistlichen Leben
eines Christen und erst recht eines Ordenschristen.
Br. Konrad v. Parzham, der 43 Jahre Pförtner in Altötting war, hat einmal
gesagt: „Das Mittel, das ich gebrauche, mich in der Demut und Sanftmut zu üben,
ist kein anderes als das Kreuz. Das Kreuz ist mein Buch. Ein Blick aufs Kreuz
lehrt mich in jeder Gelegenheit, wie ich mich zu verhalten habe. Da lerne ich
Geduld und Demut, Sammlung und Gelassenheit und jedes Kreuz zu ertragen.“
Lesen wir oft und gern im Buch des Kreuzes!
Betrachten wir oft und gern den Heiland in seinem Leiden und Sterben „für uns“!
Vertiefen wir täglich die Freundschaft zum gekreuzigten und auferstanden Herrn!
Liebe Schwestern und Brüder!
Wagen wir unsere in der Profess versprochene Ganzhingabe jeden
Tag neu aus der Kraft Gottes, die vom Kreuz ausgeht. Und beten wir jedes mal im
„Engel des Herrn“ bewusst und von Herzen: „Führe uns durch dein Leiden und Kreuz
zur Herrlichkeit der Auferstehung!“