Meinem Empfinden und meiner
Überzeugung nach haben wir soeben einige der schönsten Sätze der Bibel
gehört, einige der tiefsten Worte Jesu; Aussagen, die zum Kern unseres Glaubens
gehören: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen
einzigen Sohn dahingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht,
sondern das ewige Leben hat.“ Und weiter: „Gott hat seinen Sohn
nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt
durch ihn gerettet wird.“
„So sehr hat Gott die Welt
geliebt...“
Und: Gott will nicht richten, sondern retten!
Sind das nicht gleichsam Worte aus dem Herzen Gottes?
Finden Sie nicht auch, dass hier - wie in einem Brennpunkt - die ganze
frohe Botschaft enthalten ist? Leuchtet hier nicht wirklich die Mitte unseres
Glaubens auf?
Gott: kein Rächergott, sondern ein Rettergott. Er will nicht Untergang
und Verderben, sondern Heil und Segen, Licht und Leben.
Und hat sich Gott nicht in der Tat immer wieder den Menschen so gezeigt
und so sich ihnen zugewandt, hilfreich, rettend?
Ist er ihnen nicht immer wieder entgegengekommen?
Hat er nicht immer wieder seine Hand ausgestreckt?
Hat er dem Volk Israel nicht immer wieder sein Heil angeboten und seinen
Bund mit ihm erneuert?
Sehen Sie, liebe Schwestern und Brüder, auf jeder Seite der Bibel ist es
gleichsam mit Händen zu fassen, was die Absicht Gottes ist, worum es ihm geht,
nämlich um uns, um die Menschen, die er liebt. Er will bei den Menschen
sein. Es geht ihm darum, mit uns zu sein, helfend, rettend, Heil und
Segen bringend.
„Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt
richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“
Klar und deutlich steht es da:
Nicht um Vergeltung und Genugtuung geht es unserem Gott, nicht um Gericht und
Bestrafung, sondern um Rettung, um Leben, um Befreiung und Erlösung.
Ist das nicht auch das tragende Motiv für die Menschwerdung, ja für das
gesamte Christusereignis? Das tragende Motiv: seine Liebe, sein
Heilswille, sein Erbarmen. Und nichts anderes!
Liebe Schwestern und Brüder!
Ist es nicht genau das, was
jeder Mensch ersehnt und braucht, fast noch mehr als Essen und Trinken:
Bejahung, Angenommensein, Verständnis, Güte, mit einem Wort: Liebe?
Und das Faszinierende, Großartige dabei: Gottes Liebe ist bedingungslos.
Sie hängt nicht, - wie bei Menschen oft - von Voraussetzungen und Umständen ab.
Gott liebt uns nicht wegen irgendwelcher Qualitäten oder Tätigkeiten oder
Tüchtigkeiten. Er liebt uns so wie wir sind.
Seine Liebe ist vor allem, was wir bringen, leisten und vorweisen können.
Sie ist vollkommene Überraschung, elementarer Ursprung, reines Geschenk. Sie
setzt nichts voraus, bildet aber die Grundlage für alles, was wir sind und
können und haben. Seine Liebe ist schöpferisch.
Das heißt: er liebt uns nicht, weil wir sind, sondern umgekehrt: wir
sind, weil er uns liebt! Gottes Liebe steht am Anfang. Sie kommt zuerst.
Und ich entspringe aus ihr.
Der tiefste Grund meines Daseins ist, dass ich geliebt bin, geliebt und
gewollt seit Ewigkeit.
Und nicht, weil ich wertvoll bin, liebt Gott mich.
Umgekehrt: weil er mich liebt, bin ich wertvoll und liebenswert.
Welche Würde! Welche Größe!
Liebe Schwestern und Brüder!
Oft fällt es uns leichter an Gottes Gerechtigkeit und sein Gericht zu
glauben, als an seine grenzenlose Liebe, wirklich glauben und sie auch
anzunehmen und daraus zu leben. Wie unglaublich scheint uns das. Oft
zweifeln wir daran, ohne Vorleistung und Bedingung, ja selbst im Versagen,
geliebt zu sein.
Vielfach ist das Gottesbild verzerrt zum Aufpassergott, Gebote- und
Verbotegott. Ängste vor Höllenstrafen sind auch heute gar nicht so selten und
plagen gerade die Sensiblen. Das schlechte Gewissen ist wie ein Schatten.
„Wenn uns unser Herz auch anklagt“, heißt es im 1. Johannesbrief,
„Gott ist größer als unser Herz“; größer, nicht kleiner, nicht enger, nicht
ängstlicher, nicht päpstlicher, ganz einfach größer!
Wenn ich mit endloser Ausdauer die Erde durchgraben würde durch Felsen und Lava
hindurch, dann würde ich schließlich am anderen Ende durchstoßen, was zeigt: die
Erde, auf der wir leben, ist begrenzt. Wenn ich jedoch anfinge Gottes
Liebe zu durchgraben, käme ich niemals an ein Ende. Gottes Liebe ist
unermesslich. In ihr gibt es keine Grenzen, keinen abschließenden Grund.
Sie ist unerschöpflich. Und sie ist die letzte Antwort auf alles
Suchen und Fragen. Sie ist die Erfüllung aller Sehnsucht.
Liebe Schwestern und Brüder!
In einem Märchen wird von einem Hahn erzählt, der glaubt, mit seinem
Krähen die Sonne hervorzurufen. Er bildet sich ein, dass die Sonne nicht
aufgehen würde, wenn er eines Tages vergessen sollte zu krähen.
Es gibt tatsächlich Leute, die meinen, dass sie durch ihre guten Taten
und ihr anständiges Verhalten die Liebe Gottes heraufbeschwören oder zumindest
erhalten.
Aber es sind die ersten Strahlen der Sonne, die den Hahn krähen lassen.
Und es ist der Glanz der Liebe Gottes, die den Menschen atmen und singen
lässt und ihn zur Entfaltung bringt.
Ich bin geliebt von Gott, so wie ich bin. Ich bin von ihm bei
meinem Namen gerufen. Seine Liebe ist zuverlässig, innig, ehrfürchtig,
einzigartig, persönlich.
Liebe Schwestern und Brüder!
Wir haben es heute wieder
gehört: Gott ist bereit für uns alles hinzugeben, alles für uns einzusetzen.
Nichts ist ihm zu viel. Ganz, ganz weit ist er gegangen in seiner
Liebe. Ganz viel hat er sie sich kosten lassen: seinen eigenen Sohn.
„So sehr hat Gott die Welt
geliebt...“
Und von ihm , dem Sohn, heißt es: „Da er die Seinen liebte, die in der
Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung“, bis zum Äußersten.
Die Menschen, die Jesus begegnet sind, haben etwas gespürt von der
rettenden, heilenden, Leben spendenden Kraft und Liebe Gottes.
Und Franziskus brauchte nur auf die Krippe oder das Kreuz zu schauen,
dann sah er die überströmende, überfließende Liebe Gottes, „die alles
Begreifen übersteigt...“ Wir brauchen nur auf das Leben Jesu zu
schauen, auf seinen Umgang mit den Menschen, seine Worte, sein Beispiel, seine
Hingabe bis in den Tod.
Ja; das Kreuz ist nicht das tragische Scheitern eines edlen Menschen. Es
ist nicht Gerichtszeichen Gottes, sondern Zeichen seiner Liebe, Zeichen unseres
Heiles und unserer Erlösung.
Als solches grüßen und verehren wir es am Karfreitag.
Jesu ausgestreckte Arme am Kreuz sind Zeichen seiner Liebe! Sein
durchbohrtes Herz ist Zeichen seiner Liebe!
“Ich bin nicht gekommen zu richten“, sagt Jesus, „sondern zu
retten.“ Ich will nicht zerstören, sondern erlösen. Ich will
das Gute aufspüren und zur Entfaltung bringen. Ja, ich will zeigen, dass
selbst die Sünde Adams eine glückliche Schuld genannt werden darf, weil sie
nicht die Rache Gottes, sondern sein Erbarmen und seine Gnade auf die Menschen
herab gerufen hat.
Gott will retten, nicht richten. Das ist seine Initiative. Der Apostel
Johannes sagt es in seinem Brief: „Gott hat uns zuerst geliebt.“
Gottes Liebe ist zuvorkommend, reines Entgegenkommen.
Niemand kann sie sich verdienen; keiner braucht es auch.
Niemand kann sie machen. Sie kommt nicht aus uns. Sie kommt
zu uns. Und Gott hat nicht nur Liebe. Gott ist Liebe. Sein Wesen ist
Liebe. „Eine größere Liebe hat niemand“, sagt Jesus einmal, „als wer
sein Leben hingibt für seine Freunde.“
Das einzige, was Gott von uns will, liebe Schwestern und Brüder, ist die
Bereitschaft, die seine Liebe aufzunehmen, sich ihr zu öffnen, sie
hereinzulassen in unser Leben und IHM zu vertrauen.
Denn Gott zwingt sich nicht auf. Er geht nicht mit Gewalt vor. Er respektiert
die menschliche Freiheit. Der Mensch kann sich verweigern, sich
verschließen. Er kann die ausgestreckte Hand Gottes übersehen und
zurückweisen. Er kann das Rufen Gottes überhören und die Klopfzeichen
nicht wahrnehmen. Er kann Gottes Werben und Einladen auch bewusst
ausschlagen.
„Gottes Liebe ist wie die Sonne“, heißt es in einem Lied.
Was nützt aber der schönste Sonnenschein, wenn ich die Fensterläden
geschlossen habe! Was nützt eine Liebeszusage, wenn ich mich sperre und
gar nicht lieben lassen will.
Das Herz des Erlösers aber steht weiterhin offen für alle - wie ein
Brunnen, der heilendes, Leben spendendes Wasser enthält.
Jedem von uns schenkt sich der Herr aus Gnade - unverdient. Jeden von
uns nimmt Christus in ganzer Liebe an.
Liebe Schwestern und Brüder!
Bei einem Kreuzweg den Gerlisberg hinauf bei Luzern heißt es bei der 12.
Station: „Jesus am Kreuz. Mein Gott stirbt für mich. Und ich, dein Erlöster,
wie liebe ich dich?“
Auf einem Flurkreuz im
Schwarzwald habe ich gelesen:
„Das tat ich für dich - was tust du für mich?“
Ja, wie weit bin ich -
angesichts der großen Liebe Gottes - bereit zu gehen in meiner Liebe? Bin
ich mir bewusst, dass Gottes Liebe Gegenliebe will? Höre ich, wie seine
Liebe meine Liebe ruft? Erwidere ich seine Liebe? Bin ich bereit,
Antwort zu geben? Und wie könnte das geschehen? Wie könnte das
konkret aussehen im Alltag? Aus ganzem Herzen und mit all meiner Kraft?
In Portiunkula bei Assisi gibt es die Tränenkapelle. Franziskus
war betroffen und überwältigt, erschüttert und ergriffen vom Erbarmen und der
Liebe Gottes. Es wird erzählt: Franziskus sei einmal weinend vom Gebet gekommen.
Ein Bauer begegnete ihm und fragte: „Bruder Franz, warum weinst du?“
Franziskus erwiderte: „Die Liebe Gottes wird nicht geliebt.“
Da hat auch der Bauer angefangen zu weinen.
„So sehr hat Gott die Welt geliebt...“
An einer anderen Stelle sagt Johannes, der Evangelist:
„Wenn Gott uns so geliebt hat, müssen auch wir einander lieben.“
Denken wir daran, dass es Liebe zu Christus ist, wenn wir die Schwester,
den Bruder lieben!
„Ich bin nicht gekommen zu richten, sondern um zu retten“,
sagt Jesus von sich und seiner Sendung.
Ob darin nicht auch unser Auftrag bestehen könnte?
Ob das nicht eine ganz konkrete Möglichkeit für uns wäre, im Alltag Liebe
zu üben?
RETTEN, NICHT RICHTEN:
Was könnte das für mich heißen?
-
einen anderen nicht abstempeln, nicht einschüchtern, nicht bedrohen.
-
weniger über jemanden reden, nicht über den anderen herziehen, auf Intrigen
verzichten.
-
weniger urteilen, nicht vorschnell urteilen, nicht verurteilen,
-
Geduld haben, versuchen den anderen zu ertragen, aushalten
-
den anderen in seiner Schuld nicht allein lassen, Schuld vergeben, sich
versöhnen
-
verzeihen (auch wo ich nicht schuld bin!)
NICHT RICHTEN, SONDERN RETTEN!
-
dem anderen zugetan sein, Zeit haben, zuhören
-
mit Gelassenheit die Unvollkommenheiten und Fehler ertragen
-
Ehrfurcht voreinander haben, liebevoll sein
„Liebt einander“, sagt
Jesus, „wie ich euch geliebt habe!“
„Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist!“
„Nehmt einander an“, sagt der Apostel, „wie auch Christus uns
angenommen hat!“
„Seien wir ein Fenster, durch das ein unendlich Größerer mit seiner Liebe
hindurchschimmert!“ (A. Kner)