Vorweg
gefragt, liebe Schwestern und Brüder:
Können
Sie die zehn Gebote auswendig aufsagen?
Schon in
der ersten oder zweiten Klasse haben wir sie wohl alle einmal gelernt,
spätestens im Erstkommunionunterricht.
Im
Beichtstuhl kommt es immer wieder vor, dass Menschen ihre Sünden anhand
der zehn Gebote aufsagen.
Die zehn
Gebote dienen dabei als Leitfaden für das Sündenbekenntnis. Warum nicht,
wenn es hilft.
Eine
andere Frage: Was für ein Gefühl haben Sie, liebe Schwestern und Brüder,
wenn Sie an die 10 Gebote denken?
Eher ein
negatives? „Du musst, du sollst, du darfst nicht“?
Ein
Katalog von Forderungen? Eine Latte von Vorschriften? Dauernd die rote
Karte?
Ist es da
verwunderlich, wenn Religion moralinsauer aufstößt und einen bitteren
Geschmack hinterlässt?
Kirche
als Zuchtmeisterin, die gebietet und verbietet, als Instanz, die
verpflichtet und befiehlt?
Und
entsprechend auch Gott als einer, der immer nur fordert ?
Und
Nichtbeachtung wird hart bestraft. Jede Übertretung muss gebüßt und
gesühnt werden, jetzt schon in diesem Leben oder es droht Fegfeuer und
Hölle.
Was wird
da für ein Gott verkündet? Wie wird da Kirche erlebt?
Eine
weitere Frage, liebe Schwestern und Brüder:
Wissen
Sie, wo unser deutsches Wort „Gebot“ herkommt?
Es geht
auf eine indogermanische Wurzel zurück.
Und
interessant ist, dass im Indogermanischen die Bedeutung in eine doppelte
Richtung geht, nämlich „gebieten“ und „anbieten“, also
nicht nur „gebieten“, sondern auch „anbieten“, nicht nur
fordernd, sondern auch gebend, schenkend.
So
gesehen, vom ursprünglichen Wortsinn her, wäre ein Gebot immer zugleich
auch ein Angebot.
Genau das
ist bei den zehn Geboten der Fall.
Wenn Gott
uns Gebote gibt, dann bietet er uns damit etwas an.
Er bietet
uns seine Hilfe, sein Geleit, seine Zuneigung an.
Dass dem
so ist, kommt in einem Satz bei den zehn Geboten zum Ausdruck, den wir
gewöhnlich übersehen, ja vielleicht nie gehört haben und der darum gar
nicht in unserem Bewusstsein ist.
Er heißt:
„Ich bin der Herr, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus Ägypten,
aus dem Sklavenhaus.“
Liebe
Schwestern und Brüder,
die zehn
Gebote gehören in den Zusammenhang des Exodus, der Herausführung aus der
Sklaverei. Sie gehören in den Zusammenhang einer einzigartigen und
großartigen Rettungsgeschichte.
„Ich bin der Herr, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus Ägypten,
aus dem Sklavenhaus.“
Damit
beginnen die zehn Gebote. Gott selbst stellt sich vor als ein Gott, der
rettet und befreit.
Das hat
Israel immer gewusst. Aber wissen es wir noch?
Wurde und
wird es nicht immer wieder unterschlagen oder vergessen.
Man darf
die zehn Gebote nicht aus ihrer Einbettung isolieren.
Denn
gerade der Kontext ist bedeutsam für ihr Verständnis.
Gleich
Edelsteinen sind sie gefasst. Geht ihre Fassung verloren – d.h. gerät
sie aus unserem Bewusstsein – so geraten auch die einzelnen Gebote in
Gefahr missverstanden zu werden und verloren zu gehen.
Die
Fassung der zehn Gebote ist die Geschichte der Rettung Israels aus
Ägypten und der Bundesschluss am Sinai.
Israel
hat darum die zehn Gebote immer als Geschenk gesehen, nicht als
Einengung oder Gängelung, sondern als Ruf Gottes in die Freiheit.
Es ist gut,
es nicht zu vergessen und es uns immer wieder in Erinnerung zu rufen:
Bevor uns
Gott auffordert, seine Gebote zu halten, hat er bereits das Werk der
Befreiung – und für uns in Jesus Christus das Werk der Erlösung – getan.
Bevor
Gott etwas von uns will, hat er an seinem Volk, an uns, wunderbar
gehandelt.
Gabe
kommt vor Auf-gabe, Zu-spruch vor An-spruch!
Die zehn
Gebote sind nichts anderes als dankbare Antwort auf das ständige
Zuvorkommen Gottes, der Heil will und Heil schafft.
Liebe
Mitchristen!
Man kann
die zehn Gebote mit Leuchtpfählen vergleichen, Leuchtpfähle an unserem
Lebensweg.
Man kann
sie links liegen lassen. Man kann sie um-fahren oder auch um-fahren.
Dann helfen sie nicht.
Aber wer
schon einmal eine anstrengende Fahrt durch Nacht und Nebel absolvieren
musste, der ist dankbar für die Leuchtpfähle. Denn sie helfen Kurs zu
halten und auf dem richtigen Weg zu bleiben.
So werden
aus Geboten Angebote, aus Forderungen Förderungen, aus Zumutungen
Ermutigungen, aus Gesetzen Weisungen, hilfreiche Weisungen zu
gelingendem Leben und zu gutem, gedeihlichem Miteinander und
Zusammenleben. |