Der
Eröffnungsvers lautet:
„Meine Augen schauen stets auf den Herrn;
denn er befreit meine Füße aus dem Netz.
Wende dich mir zu und sei mir gnädig,
denn ich bin einsam und gebeugt.“
Der Beter
beschreibt seine Situation so, wie wir sie wohl oft und oft erleben: Er
kommt sich wie gefangen und gefesselt vor. Eine Schlinge hat sich
zugezogen. Er hat gestrampelt und gekämpft bis zur Erschöpfung. Dabei
hat er sich nur noch immer tiefer im Netz verstrickt.
Wenn er
meint, seine Feinde und Plagegeister – verwirrende Gedanken und Gefühle
etwa, zermürbende Sorgen und Ängste – endlich überwunden zu haben, so
sind sie im nächsten Moment schon wieder da. Sie lassen ihn nicht los.
Sie machen ihm zu schaffen, setzen ihm zu. Immer mehr gerät er in
Bedrängnis.
Und in
solcher Not findet er sich ganz allein: „Ich bin einsam und gebeugt“
sagt der Beter, niedergedrückt, geknickt, gequält von einer Angst, die
niemand teilt, geplagt von einer Bangigkeit des Herzens, an der niemand
teilnimmt und mitträgt.
Liebe
Schwestern und Brüder!
Solche
Not der Seele, solche Angst des Herzens kennen wir alle in irgendeiner
Form. Doch verschieden ist die Weise, wie wir damit umgehen und darauf
reagieren. Da gibt es viele Möglichkeiten: Einer versinkt in
Traurigkeit und Resignation. Ein anderer rutscht total in ein
Loch, fällt in abgrundtiefe Depression. Ein anderer erschöpft
sich in Jammern und Klagen. Wieder ein anderer fängt an zu
Schimpfen oder zu Fluchen. Noch ein anderer sucht Ersatzmittel,
„Tröster“, die ihm helfen sollen zu vergessen: betäubende
Medikamente z. B. oder Alkohol, Drogen. Einer dreht sich
ausweglos um sich selber und verzweifelt fast dabei. Ein anderer
sucht immer wieder neu bei Menschen nach einer Hilfe. Aber es wird immer
schlimmer. Es gibt viele Weisen, wie Menschen hier reagieren können.
Ganz anders reagiert der Beter: Er streckt sich mit allen Kräften seines
Herzens aus nach Gott und lässt ihn nicht mehr aus dem Blick: „Meine Augen schauen stets auf den Herrn, denn er befreit
meine Füße aus dem Netz.“
Menschlich gesehen ist das eigentlich unvernünftig. Müsste man nicht, je
gefährlicher der Weg wird, je mehr die Füße behindert sind, umso mehr
nach unten schauen und auf jeden Schritt achten? – Welch ein Glaube
wohnt im Herzen dieses Beters, der in seinen Nöten nicht untergeht, der
sich vielmehr entschlossen abwendet von allem, was ihn ängstigt,
beunruhigt und verwirrt, und seine Augen voll Hoffnung und Vertrauen auf
den Herrn richtet: „Er befreit meine Füße aus
dem Netz!“
Ein
großes Vertrauen drückt auch seine Bitte aus: „Wende dich mir zu und
sei mir gnädig!“ Er bittet nicht um diese oder jene konkrete Form
der Hilfe, wie er es sich selbst wünscht oder vorstellt.
Etwas
anderes ist ihm wichtig und darum bittet er: um Gottes persönliche
Zuwendung, um seinen Beistand, um sein „Gnädigsein“, das heißt um seine
Huld, um seine liebevolle Herabneigung, um die Erfahrung von ihm
angenommen, bei ihm aufgehoben und geborgen zu sein.
Im Tagesgebet
setzt die Kirche diesen Eröffnungsvers in ein Gebet um:
„Gott, unser Vater,
du
bist der Quell des Erbarmens und der Güte.
Wir stehen als Sünder vor dir und unser Gewissen klagt
uns an…“
Hier wird
deutlich gesagt, wer Gott ist und ebenso unmissverständlich, wer wir
sind: Sünder.
Ist nicht
tatsächlich das Netz, in dem wir uns immer wieder ganz schlimm gefangen
finden, unsere Schuld, unser immer wieder neues Versagen?
Ist nicht
die Last, die uns drückt, die Stimme unseres Gewissens, die Stimme aus
unserem Inneren, die Stimme, die uns durch alle Versuche des
Beschönigens, Entschuldigens und Verdrängens hindurch unerbittlich zu
verstehen gibt, wie es tatsächlich mit uns steht?
Das
ist die Wirklichkeit – unsere eigene Wirklichkeit!
Aber
unsere eigene Wirklichkeit ist nur die halbe Wirklichkeit.
Zur
vollen Wirklichkeit gehört, was im Tagesgebet der heiligen Messe an erster
Stelle genannt ist: „Gott, unser Vater, du bist die Quelle des Erbarmens und
der Güte.“
Was
unserem Schuldigsein vorausgeht und nachfolgt und es unendlich überragt,
das ist Gottes Vergebungswille, seine Bereitschaft, uns aufzuheben,
anzunehmen, neu zu schaffen.
All
unsere Not, unsere Ausweglosigkeit und unsere Niederlagen sind immer
schon umfangen von seiner Liebe, von seinem Entgegenkommen, von seinem
liebevollen Blick.
Darum
heißt es im Tagesgebet der hl. Messe weiter:
„Sie auf unsere Not und lass uns Vergebung finden.“
Hier könnte das Gebet enden, tut es aber nicht. Es geht weiter und
lautet vollständig: „Lass uns Vergebung finden durch Fasten, Gebet und Werke
der Liebe!“
Eigenartig, überraschend, wie da unser eigenes Tun hervorgehoben wird.
Passt das zu dem, was vorher das Gebet von Gott gesagt hat: dass er die
Quelle des Erbarmens und der Güte ist?
Ist
unsere Befreiung und Rettung abhängig von unserer Anstrengung, unserem
Bemühen, von dem, was wir bringen und leisten? Knüpft Gott seine Liebe
an Voraussetzungen? Liebt Gott uns nicht bedingungslos?
Liebe
Mitchristen!
Gott
verlangt nach unserem Bemühen nicht im Sinne einer Leistung. Und er
macht unser Tun nicht zur Vorbedingung für seine Hilfe.
Unser
Bemühen, unser Tun kann immer nur ein Ausdruck, oft ein hilfloser oder
stümperhafter Ausdruck unseres Wollens, unserer Bereitschaft und
letztlich unserer Liebe sein.
Und sehen Sie:
Danach sehnt Gott sich, danach verlangt ihn.
Und er
nimmt unser Bemühen an, auch wenn es noch so armselig und noch so
unvollkommen und immer bruchstückhaft ist.
Ja, er
wartet darauf, weil er sein Heil nicht ohne uns, schon gar nicht gegen
uns, sondern nur mit uns wirken und schenken will.
In der
Familie meines Bruders konnte ich es früher beim Heimaturlaub immer
wieder erleben, wie es meiner kleinen Nichte Spaß machte, wenn sie der
Mama im Haushalt helfen durfte, wie sie sich freute, wenn sie beim
Kochen oder Backen sich beteiligen und mithelfen durfte. Und mein
jüngster Neffe hilft heute noch gern seinem Vater bei anfallenden
Arbeiten in Haus und Hof und Feld.
Die
Mutter und der Vater könnten es auch allein, aber sie lassen die Kinder
mittun, auch wenn ihr Tun vielleicht nicht ganz so ist, wie wenn sie es
selber machen würden. Aber die Kinder haben das Gefühl, etwas beitragen
zu können, gebraucht zu werden, wertvoll und wichtig zu sein.
So
braucht Gott auch unsere Anstrengung und unsere Leistung nicht. Aber er
schenkt uns die Freude des Mittuns. Und er nimmt unser Tun und Mühen an.
Auch das Geringste, das wir geben, es zählt bei Gott und er macht es
groß.
Am
Schluss heißt es im Tagesgebet:
„Darum bitten wir durch Jesus Christus, unseren Herr.“
Er selbst
kennt unser Angst und Not, unsere Versuchungen und Grenzen. Er ist ihnen
nicht ausgewichen. Er selbst musste – wie es
im Hebräerbrief heißt – „unter Schreien und Tränen“ lernen,
damit zu leben.
Aber
gerade darum, „weil er in allem selbst in Versuchung geführt worden
ist“, weil er Traurigkeiten und Erschütterungen der Seele erlebt
hat, Todesangst, Blutschweiß, Einsamkeit, das Gefühl der
Gottverlassenheit, gerade darum – es klingt wie eine Bedingung – wurde
er befähigt, ja geradezu ermächtigt, die Schwachheit und Mühsal anderer
zu verstehen und aufzunehmen.
„Wir haben einen Hohepriester, der mitfühlen kann mit unseren Schwächen“,
heißt es im Hebräerbrief.
Zusammen
mit ihm bitten wir in unseren Bedrängnissen, die er von innen her kennt.
Er selbst ist zugleich die tröstende und befreiende Antwort des Vaters. |