Ehebruch. Auf frischer Tat ertappt. Nach
jüdischem Gesetz hat die Frau ihr Leben verwirkt. Der Fall ist
eindeutig. Das Urteil steht fest. Eine Verhandlung erübrigt sich.
Wo ist der Mann? Zum Ehebruch gehören
zwei. Die Frau steht allein vor ihren Anklägern. Diese kennen keine
Gnade.
Auch Jesus sitzt in der Klemme.
Ihre Frage: „Was sagst du dazu?“
ist eine Fangfrage.
Wie wird er reagieren?
Entweder er ist streng und verurteilt die
Frau, dann ist seine angebliche Güte und Menschenfreundlichkeit nur
äußerer Schein, dann ist es mit seiner Predigt von der grenzenlosen
Liebe Gottes nicht soweit her. Oder er urteilt mild und spricht die Frau
frei, dann würde er auf eklatante Weise der Thora widersprechen, er
würde das Gesetz missachten.
Ganz gleich wie Jesus antwortet, er muss
in die Falle gehen.
Er muss zu Fall kommen. Eine heikle
Situation!
Jesus durchschaut seine Gegner. Wieder
einmal verhält er sich anders als erwartet. Er antwortet gar nicht. Er
verweigert eine theoretische Diskussion. Stattdessen vollzieht er eine
vieldeutige Geste. Souverän und ruhig bückt er sich und schreibt auf die
Erde. Alle warten auf sein Wort: die Gegner voll Selbstsicherheit, die
Frau voll Angst, das Volk voll Spannung.
Interessiert ihn die ganze Sache gar
nicht? Will er Zeit gewinnen?
Soll das Schreiben auf die Erde seine
Ruhe demonstrieren, im Gegensatz zum Eifer der Ankläger? Will Jesus
seine Gegner ermüden oder sie verunsichern? Will er ihnen Zeit geben,
über sich selbst nachzudenken? Schreibt er ihre Sünden auf?
Vielleicht weist er auf ein Wort des
Propheten Jeremia hin.
Bei ihm heißt es an einer Stelle:
„Alle, die Gott verlassen, werden in den
Staub geschrieben, die von ihm abfallen, ihre Namen auf die Erde. Denn
verlassen haben sie den Brunnquell lebendigen Wassers, den Herrn.“
Eines steht fest: Jesus konfrontiert die
Ankläger mit sich selbst. Er bringt sie selbst ins Spiel. Die aber
begreifen nicht. Sie werden ungeduldig. Hartnäckig fragen sie weiter.
Sie bestehen auf einer Antwort.
Da
richtet Jesus sich auf und spricht die Worte, die meines Erachtens zu
den bedeutsamsten Worten Jesu überhaupt gehören: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen
Stein auf sie.“
Dieser wunderbare Satz vermag es, die
Mauer der Ankläger aufzulösen. Aus dem Kollektiv der Beschuldiger, die
sich gemeinsam stark fühlen, werden Einzelne. Jeder wird darauf
gestoßen, bei sich selbst zu schauen, bei sich selbst wahrzunehmen,
welche Schwachpunkte es da gibt, welche Gefühle ihn beherrschen, Gefühle
der Schadenfreude, der Wollust, der Rechthaberei, des Sadismus, des
Sich-genüßlich-die-Hände-Reibens…
Sie sehen nur das Gesetz und die Schuld
der Frau. Sie sind selbstsicher, scheinheilig, selbstgerecht. Was, wenn
aufgedeckt würde, was für böse Wünsche und schlimme Phantasie in ihnen
selbst leben?
Jesus erinnert sie an ihre eigenen
Verfehlungen. Können sie selbst ihre Hände in Unschuld waschen? Sind sie
wirklich ganz makellos, ohne Fehl und Tadel?
Jesus möchte, dass sie einsichtig werden
bis zu dem Punkt, dass jeder sich eingestehen muss: Auch ich wäre fähig
so zu handeln. Auch ich wäre fähig, solches zu tun.
„Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe
als erster einen Stein auf sie.“
Es gibt kein Jesuswort, das mit solcher
Entschiedenheit ausspricht: Alle sind Sünder! Es gibt kein Leben ohne
Schuld.
Und Jesu Wort trifft. Es trifft bis ins
Innerste. Ohne Sünde, ganz und gar unschuldig, das ist keiner! Niemand
kann behaupten, ohne Schuld zu sein.
Keiner wagt es, einen Stein zu werfen.
Die Ankläger ziehen sich zurück, einer nach dem anderen, die Ältesten
zuerst. Sind nicht alle auf die Geduld und die Barmherzigkeit Gottes
angewiesen?
Das Geschehen kommt nun zu seinem zweiten
Höhepunkt: Jesus bleibt allein mit der Frau zurück.
Augustinus sagt: „Die Erbarmenswerte
steht der Barmherzigkeit gegenüber“.
Jesus und die Frau. Sie ist ihren
Richtern entkommen.
Nun steht sie vor Jesus in ihrer Scham
und Schuld.
Jesus fragt: „Hat dich keiner
verurteilt?“
Nun spricht die Frau zum ersten Mal.
Erleichtert und befreit antwortet sie: „Keiner, Herr!“
Und Jesus? Er, der als einziger das Recht
dazu hätte, er bricht nicht den Stab über sie. Er hält ihr keine
Moralpredigt. Er nagelt sie nicht auf ihre schuldhafte Vergangenheit
fest. Er stellt überhaupt nicht die Schuldfrage. Er registriert
lediglich: Keiner hat sie verurteilt.
Nun
eröffnet Jesus ihr eine neue Zukunft: „Auch ich
verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“
Liebe Schwestern und Brüder!
Hier wird ein Grundzug der Verkündigung
und Praxis Jesu sichtbar:
Jesus fragt nicht nach begangenen Sünden.
Er spricht Vergebung zu. Er spricht nicht von Wiedergutmachung, Buße,
Sühne. Er setzt stillschweigend voraus, dass die Frau aus Herzensantrieb
von heute an ein anderes, ein neues Leben beginnen wird. Zuerst die
Zusage der Vergebung, dann die Aufforderung anders, neu zu leben.
Die Frau erfährt Vergebung ihrer Sünden,
Befreiung von ihrer Schuld.
Die Heuchler hatten nur Steine bereit.
Jesus aber hat ein Herz. Er schenkt ihr einen neuen Anfang. Dass gerade
die Verlorenen Verständnis, Güte und Erbarmen brauchen, das war es, was
Jesus mit seinem Leben und seiner Botschaft sagen, zeigen und bringen
wollte.
Freilich: Jesus heißt das, was die Frau
getan hat, nicht gut.
Er billigt und verharmlost ihr Verhalten
nicht.
Er macht daraus kein „Kavaliersdelikt“.
Er fordert sie nachdrücklich auf, die
Sünde zu meiden!
„Geh hin und sündige nicht mehr!“
Es war also Sünde, aber Jesus hackt nicht
darauf herum.
Und schon gar nicht sieht er die Lösung
in Steinigung, Tötung, Vernichtung.
Entscheidend ist der neue Anfang für
diese Frau. Durch Jesus erfährt sie die barmherzige Liebe Gottes. Sie
erlangt Vergebung.
So sind beide Parteien, die Ankläger und
die angeklagte Frau, in Jesus der Barmherzigkeit Gottes begegnet. Und
Jesus selbst entgeht der Falle, die seine Gegner ihm siegessicher
gestellt hatten.
Diese Geschichte gehört zu den
Höhepunkten des Evangeliums.
Es wird darin die ganze Bedeutung dessen
sichtbar, was Jesus gebracht hat. Sie gibt sehr gut seine Denkart und
seine Geistigkeit wieder. Jesus vertraut darauf, dass Sündenvergebung
den Menschen im Innersten trifft und ihn zur Umkehr bewegt.
Jesu Sündenvergebung ruft die Umkehr
hervor, nicht umgekehrt.
Jesu Sündenvergebung ist nicht von
Voraussetzungen abhängig.
Sie ist an keine Bedingungen geknüpft.
Es ist eine Liebe, die den Menschen in
seiner tiefsten, innersten Schicht erreichen möchte, um dann – aus einem
absolut sich von Gott geliebt und angenommen Wissen – die Umkehr zum
Gott der Liebe und zu einem neuen Leben zu bewirken.
Gottes Liebe ist reines Entgegenkommen.
Gottes Liebe ist stets „zuvorkommende“ Liebe, eine Liebe, welche die
Liebe des Menschen hervorlockt und hervorruft.
Liebe will Gegenliebe. Gottes Liebe ruft
unser Liebe.
Dass Jesus an das Gute im Menschen
glaubt, dass er Liebe und Gnade gewährt ohne Vorleistungen, dass er auch
einem totverfallenen Sünder noch eine Chance gibt und ihn bedingungslos
von der Last seiner Vergangenheit befreit, das war nicht nur für die
Gegner Jesu damals anstößig, das ist bis heute eine Herausforderung für
jeden Einzelnen und auch für die Kirche.
Ich finde, das macht diese Erzählung so
kostbar, dass sie uns offenbart, worin die Größe und Unbegreiflichkeit
Gottes eigentlich besteht: nicht so sehr in seiner überragenden Weisheit
und Allmacht, sondern in seiner Güte, in seiner unerschöpflichen Liebe,
in seiner grenzenlosen Barmherzigkeit.
Vielleicht wäre es nicht das Geringste,
wenn der Jesus, wie ihn dieses Evangelium uns schildert, uns animieren
würde, weniger über anderer Menschen zu urteilen, sondern zuerst an
unsere eigene Brust zu klopfen und lernen barmherzig zu sein, zu
verzeihen, zu lieben.
„Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen, wie ich mit dir Erbarmen
hatte?“ (Mt 18, 33)
„Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!“ (Lk 6, 36)
Gottes Liebe ruft unsere Liebe!
|