Ein Märchen aus China erzählt:
Es war einmal ein wunderschöner Garten,
der lag im Westen des Landes, mitten in einem großen Königreich. Dort
pflegte der Herr des Gartens in der Hitze des Tages spazieren zu gehen.
Ein edler Bambusbaum war ihm der schönste
und liebste von allen Bäumen, Pflanzen und Gewächsen im Garten. Jahr für
Jahr wuchs dieser Bambus und wurde immer anmutiger. Er wusste wohl, dass
der Herr ihn liebte und seine Freude an ihm hatte.
Eines Tages näherte sich der Herr
nachdenklich seinem geliebten Baum. Und in einem Gefühl großer Verehrung
neigte der Baum seinen mächtigen Kopf bis zur Erde. Der Herr sprach zu
ihm:
„Lieber Bambus, ich brauche dich.“
Es
schien als sei der Tag aller Tage gekommen, der Tag, für den der Baum
geschaffen worden war. Der Bambus antwortete leise: „Herr, ich bin bereit, gebrauche mich, wie du willst.“
„Bambus“,
– die Stimme des Herrn war ernst, – „um dich zu gebrauchen, muss ich
dich beschneiden!“ – „Mich beschneiden? Mich, den du Herr zum
schönsten Baum in deinem Garten gemacht hast? Nein, bitte nicht!
Verwende mich doch zu deiner Freude, Herr, aber bitte beschneide mich
nicht!“ – „Mein geliebter Bambus“, die Stimme des Herrn wurde
noch ernster, „wenn ich dich nicht beschneide,
kann ich dich nicht gebrauchen.“
Im
Garten wurde es ganz still. Der Wind hielt den Atem an. Langsam beugte
der Baum seinen herrlichen Kopf. Dann flüsterte er: „Herr, wenn du mich nicht gebrauchen kannst, ohne mich zu
beschneiden, dann tu mit mir, wie du willst und beschneide mich.“
„Mein
geliebter Bambus, ich muss dir aber auch deine Blätter und Äste
abschneiden.“ – „Ach, Herr, davor bewahre mich! Zerstöre meine Schönheit, aber lass mir doch bitte
Blätter und Äste!“ „Wenn ich sie dir nicht abhaue, kann ich dich nicht
gebrauchen.“
Die
Sonne verdeckte ihr Gesicht. Ein Schmetterling flog ängstlich davon. Und
der Bambus, zitternd vor Erwartung, sagte ganz leise: „Herr, schlage
sie ab!“ – „Mein Bambus, ich muss dir noch mehr antun. Ich muss
dich mitten durchschneiden und dein Herz herausnehmen. Wenn ich das
nicht tue, kann ich dich nicht gebrauchen.“ – Da neigte sich der
Bambus bis zur Erde. „Herr, schneide und
teile!“
So beschnitt der Herr des Gartens den
Bambus, hieb seine Äste ab, streifte seine Blätter ab, teilte ihn in
zwei Teile und schnitt sein Herz heraus. Dann trug er ihn dahin, wo
schon aus einer Quelle frisches, sprudelndes Wasser sprang, mitten in
die trockenen Felder.
Dort legte der Herr seinen geliebten
Bambus vorsichtig auf den Boden. Das eine Ende des abgeschnittenen
Stammes verband er mit der Quelle, das andere führte er zu der
Wasserrinne im Feld. Die Quelle sang ein Willkommen und das klare,
glitzernde Wasser floss freudig durch den zerschlagenen Körper des
Bambus in den Kanal. Es floss auf die dürren Felder, die so sehr darauf
gewartet hatten.
Dann wurde der Reis gepflanzt. Die Tage
vergingen. Die Saat ging auf, wuchs und die Erntezeit kam. So wurde der
einst herrliche Baum wirklich zum großen Segen in all seiner
Gebrochenheit und Demut. Als er noch groß und schön war, wuchs er nur
für sich selbst und freute sich an der eigenen Schönheit. Aber in seiner
Zerschlagenheit wurde er zum Kanal, den der Herr gebrauchte, um sein
Reich fruchtbar zu machen.
Als
der Bambus die reiche Ernte erblickte, sagt er lächelnd: „Es war doch gut, mich meinem Herrn nicht zu verweigern,
sondern mich zur Verfügung zu stellen, mich in Dienst nehmen zu lassen
und mich hinzugeben. Welch ein Reichtum wurde dadurch möglich, welch ein
Segen!“
Nicht wahr, die Geschichte fängt so
richtig schön an. Aber dann entpuppt sie sich als eine ganz grausame
Erzählung, in der einer sein Leben verliert.
Dem Bambus wird immer deutlicher, was der
Herr mit ihm vorhat. Er spürt das Einschneidende, das Wehtuende des
Willens seines Herrn. Spontan wehrt er sich dagegen. Er möchte seine
Schönheit bewahren. Er möchte sich entfalten, leben. Sogar Wind und
Sonne und Schmetterlinge erschrecken angesichts dessen, was der Herr mit
dem Baum vorhat.
Der Herr weiht den Bambus langsam, Stück
für Stück in seinen Plan ein. Er weiß, dass der Bambus gern leben möchte
und er rechnet damit, dass er sich sträubt. Doch mehr und mehr gibt der
Bambus den Widerstand auf. Er versteht zwar nicht die Absicht seines
Herrn, aber er willigt ein. Er fügt sich. Schließlich stellt er sich ihm
ganz zur Verfügung.
Überraschend ist der Schluss der
Geschichte. Es ist von Segen und einer reichen Ernte die Rede. Sie wurde
dadurch möglich, dass der Bambus bereit war, sich hinzugeben, sich als
Wasserleitung verwenden zu lassen bzw. Kanal zu werden und so letztlich
zum Segen zu werden.
Erzählt Jesus im Evangelium (Joh 12,
24ff.) nicht eine ähnliche Geschichte, wenn auch viel knapper und
kürzer, das Gleichnis vom Weizenkorn?
„Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde
fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es
reiche Frucht.“
Auch in diesem Bildwort ist von
„Sterben“ die Rede und von „reicher Frucht“.
Jesus spricht hier von sich selbst. Er
selbst ist das Weizenkorn. Doch das Gesetz des Weizenkorns gilt nicht
nur für ihn, sondern für jeden, der ihm auf seinem Weg folgt. Es ist das
Gesetz des christlichen Lebens. Und so fügt Jesus erklärend hinzu:
„Wer an seinem Leben hängt, verliert es;
wer aber sein Leben in dieser Welt gering achtet, wird es bewahren bis
ins ewige Leben.“
Es ist paradox und doch wahr:
Da, wo einer an sich selbst festhält, nur
sich selbst im Blick hat, allzu ängstlich besorgt ist ums liebe Ich, in
sich selbst verliebt, also letzten Endes durch und durch Egoist ist, da
verspielt man sein Leben, da wird ein Mensch nie zufrieden und glücklich
sein. Denn ein solches Leben ist letztlich nicht erfüllend.
Da aber, wo jemand nicht fixiert ist bloß
auf sich, wo jemand über den eigenen Gesichtskreis hinaussieht und auch
einmal über den eigenen Schatten springt; wo jemand nicht nur seinen
eigenen Vorteil sucht und die eigenen Schäfchen ins Trockene bringen
will; wo jemand nicht auf Biegen und Brechen nur auf sein eigenes
Fortkommen bedacht ist; wo also jemand nicht immer nur krampfhaft
festhält, sondern auch von sich absehen und loslassen kann, da wächst
ihm etwas zu, da wird das Leben reicher, erfüllter. Es macht Sinn.
Vielleicht haben wir schon einmal die
Erfahrung des „Sterbens“ ähnlich dem Bambus gemacht oder die
Erfahrung des Weizenkorns. Das muss gar nichts Besonderes und
Spektakuläres sein, sondern in ganz alltäglichen Situationen.
Zum
Beispiel: wo ich mich einmal nicht in den Mittelpunkt gestellt habe, wo ich den
unteren Weg gegangen bin; wo ich das Mühevollere statt des Bequemeren
getan habe; oder mich – wie der Bambus – brauchen ließ, statt stur mich
selbst zu behaupten und meiner eigenen Selbstverwirklichung nachzugehen.
Vielleicht haben wir da gespürt, dass es
das Richtige war. Vielleicht haben wir die Erfahrung gemacht, die der
heiligen Franziskus in folgende Worte fasst: „Wer hingibt, der empfängt;
wer sich selbst vergisst, findet.“
Das
Gesetz des Weizenkornes
nicht nur theoretisch zu verstehen, sondern auch zu akzeptieren und
nachzuvollziehen, ist gewiss nicht leicht. Der Weg dahin kann sehr
schwer sein und unter Umständen viel von einem verlangen.
Der
Blick auf Jesus,
der uns vorausgegangen ist, kann uns ermutigen. Jesus starb als
Weizenkorn. Er gab sich hin um unsretwillen. Er entäußerte sich bis zum
Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Sein Tod verwandelte sich in Auferstehung
und Leben, Leben für jeden Menschen.
Eine solche Lebenshaltung – wie wir sie
bei Jesus sehen – ist beeindruckend, aber sie erschreckt auch. Wer kennt
nicht die Angst, sich selbst zu verlieren, die Angst, zu kurz zu kommen,
die Angst mit leeren Händen da zu stehen?
Doch glauben wir nicht, dass es für Jesus leicht war! Es gibt auch bei
ihm die Erschütterung seiner Seele, die Angst vor der Verlassenheit, die
schreckliche Angst vor dem Sterben und vor dem Tod: „Meine Seele ist
erschüttert... Vater, rette mich aus dieser Stunde!“ Es ist ein
Ringen, ein Sich-durch-Ringen – am Ölberg unter Blutschweiß und
Schmerzen – zum Ja, zum „Nicht wie ich will,
sondern wie du willst.“ - „Vater, verherrliche deinen Namen.“
Ein tröstliches Wort, eine wunderbare
Verheißung steht am Ende des heutigen Evangeliumsabschnittes: „Wenn
ich von der Erde erhöht bin, werde ich alle an mich ziehen“
In diesen Wochen der Passions- und
Osterzeit begegnet uns Jesus am Kreuz erhöht. Es ist sein Martyrium und
seine Verherrlichung zugleich. Hier erweist er uns seine grenzenlose
Liebe. Hier hat er alles gegeben: seinen Henkern die Vergebung, dem
Räuber an seiner Seite das Paradies, uns allen seine Mutter, sowie
seinen Leib und sein Blut, ja sein ganzes Leben, damit wir leben, damit
wir Leben haben und es in Fülle haben.
„Geheimnis des Glaubens: im Tod ist das
Leben.“
So wollen wir füreinander beten, dass wir
in der Nachfolge Jesu und als seine Jünger und Jüngerinnen die Kraft
haben, unser Leben einzusetzen wie ein Weizenkorn und reiche Frucht
bringen.
Wir wollen darum beten, dass wir immer
wieder bereit sind, uns in Dienst nehmen zu lassen wie der Bambus und so
zum Segen zu werden für unsere Schwestern und Brüder.
Und wir wollen Gott danken, wenn wir auf
diesem Weg der Hingabe – vielleicht ganz anders als erwartet – jetzt
schon Freude und Erfüllung erfahren dürfen und einst die ewige
Glückseligkeit erlangen.
Denn je mehr Liebe wir verschenken, umso
reicher ist unser eigenes Herz. Und der Himmel Gottes ist in uns, sein
Friede lebt in uns, seine Gegenwart erfüllt uns, jetzt und immer. |