In der Stadt Ropschitz,
so erzählt eine jüdische Geschichte, pflegten
die Reichen, deren Häuser einsam oder am Ende des Ortes lagen, Leute
anzustellen, die nachts über ihren Besitz wachen sollten.
Als Rabbi Naftali eines Abends spät am
Rande des Stadtwaldes spazieren ging, begegnete er solch einem Wächter.
„Für wen gehst du?“ fragte er ihn. Der
gab Bescheid, fügte jedoch die Gegenfrage hinzu: „Und für wen geht Ihr,
Rabbi?“
Diese Frage traf den Rabbi wie ein Pfeil. „Noch gehe ich
für niemand“, brachte er mühsam hervor. Dann ging er lange und
schweigend neben dem Wächter her. Schließlich fragte er ihn: „Willst du
mein Diener werden?“
– „Das will ich gern“, antwortete jener, „aber was habe ich zu tun?“
„Mich zu erinnern“, sagte Rabbi Naftali.
„Für wen gehst du?“
Für wen gehe ich in meinem Leben?
Gehe ich nicht oft für mich selbst?
Gehe ich für eine Sache, eine
Institution, eine Einrichtung?
Gehe ich für andere?
Die Geschichte sagt, dass der Rabbi von
dieser Frage bis ins Herz getroffen war. Diese Frage, vom Wächter so
leicht hingeworfen, wird plötzlich zu einer persönlichen Gewissensfrage,
zur Existenzfrage, zu einer Frage, die auf`s Ganze geht.
Und dies bei einem, der ganz gewiss nicht
oberflächlich lebt.
Der Rabbi hat vielleicht schon jahrelang intensiven
Umgang mit der Tora. Er studiert und meditiert jeden Tag intensiv das
Gesetz des Herrn. Er kennt die Weisungen Gottes. Er spricht jeden Tag
seine Gebete. Und doch gesteht er: „Noch
gehe ich für niemand!“
„Für wen gehst du?“
Für wen gehe ich in meinem Leben?
Weiß ich es?
Vielleicht habe ich schon jahrelang
Umgang mit dem Wort Gottes, verrichte täglich bestimmte Gebete, empfange
Sonntag für Sonntag die hl. Kommunion, gehe regelmäßig beichten, mache
vielleicht sogar Jahr für Jahr Besinnungstage oder Exerzitien mit.
Und trotzdem:
Ist sie nicht berechtigt, diese Frage?
Und ist es nicht notwendig und gut, sich
davon treffen zu lassen, ihr nachzusinnen?
Wem fühle ich mich verbunden,
verpflichtet? Für wen habe ich mich entschieden? Für wen setze ich Zeit,
Kraft, Ideen, Fleiß und Mühe ein?
Können andere an mir sehen, dass ich für
Gott gehe? Dass mein ganzes Handeln und Denken, Leben und Leiden für
Gott „steht und geht“? – Können andere Menschen das an mir
wahrnehmen? Merkt man mir das an?
Wie ist es mit meiner Sehnsucht nach
Gott, meinem Gott Suchen? Wie sieht es aus mit meiner Liebe zu ihm?
Bin ich ein Entzündeter, ein von Gott
Gepackter und Ergriffener? Ist noch Leidenschaft für Gott in meiner
Seele?
Oder bin ich erkaltet, lau, mittelmäßig,
träge, oberflächlich geworden, vielleicht - und im Grunde genommen
sogar - gottvergessen?
„Für wen gehst du?“
Liebe Schwestern und Brüder!
Ich meine, es gibt keinen Menschen, für
den sich diese Frage so eindeutig beantworten lässt wie für Johannes den
Täufer.
Als die Israeliten ihn am Jordan mit
seinem Kamelhaargewand und seiner kärglichen Wüstennahrung sahen,
fühlten sie sich an Elija erinnert. Dieser war der glühendste ihrer
Propheten, ein „Prophet wie Feuer“.
Mit
gleichem Feuereifer, mit gleicher Entschiedenheit trat Johannes
der Täufer auf. „Kehrt um!“ war seine Botschaft,
„denn das Himmelreich ist nahe.“
Das Äußere des Täufers, seine herbe
Strenge, seine mitreißende Predigt und sein vorausschauender Blick
verfehlten ihre Wirkung nicht. Sein Auftreten machte Eindruck. Die Leute
von Jerusalem und ganz Judäa zogen zu ihm hinaus. Sie bekannten ihre
Sünden und empfingen von ihm die Taufe der Umkehr.
Obwohl Johannes ganz hoch im Ansehen
stand, machte er nicht mehr aus sich als er war und ihm zukam. Er sah
ganz klar seine Rolle, seinen Auftrag.
Er verstand sich als Vorläufer des
Messias, als Wegbereiter. Ganz eindeutig weist er hin auf den anderen,
der größer ist als er. Und er erkennt diesen anderen in Jesus von
Nazareth.
Mit erstaunlicher Sicherheit bezeugt er: Er ist es.
In ihm erfüllt sich, was die Propheten gesagt haben.
„Er muss wachsen, ich aber abnehmen.“
Es ist keine Frage,
liebe Schwestern und Brüder, für wen dieser Prophet ging.
Er ging für Christus. Er ging für den,
der später von sich sagte:
„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das
Leben.“
„Für wen gehst du?“
Ehrlich gesagt:
Seit ich vor einigen Jahren auf diese Erzählung der Chassidim gestoßen
bin und darin auf diese Frage, seitdem lässt sie mich nicht mehr
los. Diese Frage ist für mich so etwas wie eine Gretchenfrage.
Und ich meine:
für uns Christen spitzt sich die Frage noch zu:
„Gehst du für Jesus Christus?“
Gestaltest du dein Leben mit ihm? Ist
deine Leben auf ihn hin ausgerichtet? Wirklich? Oder nur vordergründig?
Heißt du nur Christ oder bist du Christ? Bist du es halb oder
ganz, nur irgendwie, je nach Lust und Laune oder mit Leib und Seele, aus
ganzem Herzen, mit Feuereifer, mit allen deinen Kräften?
Als der Wächter den Rabbi fragt: „Was habe ich in
deinem Dienst zu tun?“ – da antwortet jener:
„Mich zu erinnern!“
Er weiß, dass er jemanden braucht, der
ihn erinnert, für wen und für was er in seinem Leben gehen soll.
Brauchen wir, liebe Schwestern und
Brüder, nicht auch immer wieder die Erinnerung? Vergessen wir im
Trubel und Lärm der Zeit nicht allzu leicht, für wen wir gehen, was
wirklich wichtig ist, was unserem Leben Sinn und Ziel gibt, was es
wirklich reich und echt froh macht?
Johannes der Täufer
erinnert und fragt uns, für wen wir gehen. Er ruft uns heraus aus allem
Trott, aus aller Lethargie, aus aller Trägheit. Sein Umkehrruf will
heute wie damals treffen, aufwecken, aufrütteln und heilsam unruhig
machen will.
Johannes der Täufer
mahnt uns wie seine Zeitgenossen damals, nicht gottvergessen zu leben,
sondern mit Gott zu rechnen und ihn und niemand sonst Herr sein zu
lassen in unserem Leben.
Liebe Schwestern und Brüder,
nicht nur Johannes der Täufer, diese adventliche Gestalt, sondern der
Advent selbst fragt uns, für wen wir gehen.
Der Advent
erinnert uns und mahnt uns, unser Leben wieder neu und verstärkt auf
Gott auszurichten, uns bereit zu machen für sein Kommen, wach und
aufmerksam zu sein für seine Gegenwart, spürig und fühlig für die
Klopfzeichen Gottes in unserem Leben.
Dazu braucht es angesichts dauernder
Reizüberflutung und ständiger Geräuschkulisse Stille. Immer wieder die
Stille suchen, Besinnung, Rückzug. Alles Laute meiden, Lärmquellen
abschalten. Schweigen, hören, beten. Eintauchen in Gottes Gegenwart. Den
inneren Frieden suchen.
Wer so in Gott eintaucht, liebe
Schwestern und Brüder, der taucht neben dem Mitmenschen wieder auf. Er
weiß, wofür er geht. Er erkennt, dass es Liebe zu Gott ist, wenn wir die
Schwester, den Bruder lieben. Er erfährt, dass wir Christus begegnen im
Du des Mitmenschen. Und dass wir, was wir einem der Geringsten getan
haben, ihm getan haben.
Wo wir nicht nur um uns selber kreisen,
nicht nur dem eigenen Ego frönen, dem Erfolg huldigen, gieren, geizen,
sondern selbstvergessen Liebe schenken, Gutes tun, Geduld üben,
einander annehmen, ertragen, verzeihen, da sind wir auf der richtigen
Spur, da gehen wir den rechten Weg.
Wo das geschieht, liebe Schwestern und Brüder, wo
die Liebe gelebt wird, wo wir Liebe erfahren und schenken, „da
berühren sich Himmel und Erde“. Und es bewahrheitet sich das
berühmte Wort:
Ubi caritas et amor, deus ibi est. = Wo
die Güte und die Liebe, da ist Gott.