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Güte macht fröhliche Leute
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Es waren einmal zwei Jungen. Sie wohnten in der gleichen Straße, waren beide sechs Jahre alt und kamen nun zur Schule. Eugen war groß und Emil war klein.
Als Eugen aus dem Hause ging, sprach seine Mutter zu ihm: "Pass auf deinen Schulranzen auf! Omi hat ihn dir geschenkt. Er darf keinen Flecken kriegen, sonst ist die Omi traurig!" Eugen ging ganz vorsichtig und gebeugt; er wurde einen Zentimeter kleiner.
Emils Mutter sagte: "wie hübsch du aussiehst mit dem alten Schulranzen! Weißt du, mit dem ging schon dein großer Bruder zur Schule; man sieht es an den vielen Flecken, darauf kannst du stolz sein!" Da streckte sich Emil und ging frohgemut zur Schule. Er war einen Zentimeter gewachsen.
Als sie heimkamen, machten sie die ersten Schulaufgaben, eine Seite mit lauter Strichen, die gerade sein sollten.
Eugens Mutter sprach: "Das sieht aber schlecht aus; alle Striche sind gerade, nur einer steht ganz schräg und krumm!" Sie zerriss die Heftseite und Eugen musste alles noch einmal machen. Da wurde er wieder einen Zentimeter kleiner.
Emils Mutter fand eine Seite voller krummer Kraxelstriche. Sie lachte und sagte: "Guck mal, da steht einer schon ganz gerade. Wenn die andern auch noch so werden, hast du eine gute Arbeit gemacht. Dein Lehrer wird sich freuen!" Da wuchs Emil wieder um einen Zentimeter.
Anderntags mussten sie ein Lied singen. Zu Hause hörte Eugens Vater zu und sprach: "Da ist ja immer an derselben Stelle derselbe Fehler! Du verdirbst das ganze Lied. Wie kann man nur so unmusikalisch sein!" Eugen wurde wieder einen Zentimeter kleiner und krächzte nur noch.
Emils Vater hörte auch zu. Er lachte: "Da schwirren ja die Töne nur so herum, aber manche sitzen schon ganz richtig am richtigen Platz. Warte nur, bald sitzen alle richtig. Das gibt eine Musik!" Emils Augen leuchteten, und er wuchs wieder einen Zentimeter.
So ging es alle Tage. Vater und Mutter wachten über ihren Sohn Eugen, dass er ja keinen Fehler machte, und die Großeltern und Tante Emma und die Nachbarsfrau Maier halfen mit. So kannte Eugen bald alle seine Fehler.
Emil wuchs und steckte voller Hoffnungen. Er sprühte vor Lebenslust und sein Eifer steckte auch andere an, die solchen Mut gebrauchen konnten. Er wurde erwachsen und groß , und viele Leute freuten sich, wenn sie ihn sahen.
Eugen aber begann dahinzusiechen, seine Stirn war voller Runzeln, seine Augen trüb und sein Geist voll von Urteilen über andere. Denn da seine Klugheit nur aus Wissen um seine Fehler bestand, fand er solche auch bei anderen Menschen. Wenn er doch einmal leben könnte! Aber da war fast keine Hoffnung. Es sei denn, er würde einmal Emil begegnen. Dessen Lebensfreude hatte etwas Überschüssiges an sich. Sie mochte auch für zwei reichen ...
Nun sagen Sie bloß nicht, solche Menschen wie Eugens Eltern gäbe es nicht. Ein wenig sind sie in uns allen. Gott aber wohnt in Emils Haus. Er macht die Kleinen groß und die Schwachen stark; er sieht die Sehnsüchte der Menschen und verdammt sie nicht wegen ihrer Fehler. Das wissen wir, weil es die Taufe gibt. Da fängt Emils Geschichte an. Auch Ihre Geschichte und meine. Und sie ist endlos, weil sie auch den Großvätern und Großmüttern gilt, der Tante Emma und der Nachbarsfrau Maier. Gottes Güte macht fröhliche Leute. Durch die Liebe werden wir groß.
Gottfried Roller |
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