geistliche Impulse

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von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Gotteserfahrung und Selbsterfahrung

 

Viele Menschen klagen darüber, dass sie Gott nicht erfahren, dass sie trotz aller Versuche, regelmäßig zu meditieren und zu beten, nichts von Gott spüren. Ich frage sie dann immer, ob sie sich denn selbst spüren, ob sie mit sich selbst in Berührung sind. Nicht nur das Gottesbild und das Selbstbild hängen eng miteinander zusammen, sondern auch die Gotteserfahrung und die Selbsterfahrung. Wer sich selbst nicht spürt, kann auch Gott nicht spüren. Wer von sich selbst keine Erfahrung hat, wird auch Gott nicht erfahren.

 

Eine Frau möchte einen geistlichen Weg gehen. Aber ihr Gebet ist leer. Sie hat früher einmal Gott intensiv gespürt, aber jetzt fühlt sie nichts mehr. Im Gespräch wird deutlich, dass sie viele Bereiche ihrer eigenen Seele ausklammert. Sie möchte nicht über ihre gottlosen Seiten, über ihre Aggression und Sexualität, über ihre Jugendträume nach Familie und Kindern nachdenken. Sie meint, sie habe diese Träume längst verarbeitet und sei mit ihnen fertig. Sie möchte sich selbst in ein ganz bestimmtes Bild einer spirituellen Frau zwängen.

Alles andere hat sie vor dem Auge ihrer Seele verschlossen. Im Gespräch wird ihr klar, warum sie Gott nicht spürt. Sie ist nicht in Berührung mit der eigenen Seele. Sie hat sich selbst abgeschnitten von den weniger frommen, dafür aber umso lebendigeren Seiten ihrer Seele, von ihrer Lust zu reisen, zu malen, zu dichten. All diese Seiten hat sie ihrem spirituellen Selbstbild geopfert. Aber nun fehlen sie ihrer eigenen Lebendigkeit.

 

Anselm Grün