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Dunkelheit und Licht
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Im September war ich zwei Wochen auf der schottischen Insel Iona. Auf der Insel gibt es kaum Straßenlaternen. Jeden Abend habe ich einen Spaziergang in die Dunkelheit gemacht. Meine Erfahrung: Je länger ich im Dunkeln gegangen bin, desto mehr habe ich gehört, gerochen, gefühlt und schließlich auch gesehen. Die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und haben Schattierungen unterschieden. Umrisse, und andere Lichtquellen wie Katzenaugen, Glühwürmer, Bootslichter im Wasser, haben Sterne oder Mondlicht wahrgenommen. Nur wenn mir jemand mit einer Taschenlampe entgegenkam und mich anstrahlte, habe ich überhaupt nichts mehr gesehen. Zu grell war das Licht. Es hat alle Schattierungen und Farbnuancen um mich herum verschluckt. Je länger ich im Dunkeln gegangen bin, desto intensiver habe ich die Wellen gehört, Möwen über der Bucht, ein Fischerbootsmotor in der Ferne, ein Windstoß im Wipfel vom Baum in der Nähe. Ich habe Seetang gerochen, die salzige Luft geschmeckt und meinen Atem gespürt. Es waren intensive Momente. Kostbar; selten. Nicht die Dunkelheit ist gefährlich, sondern die Angst der Menschen vor der Dunkelheit. Sie schreibt der Dunkelheit Gefahren zu, weil Menschen meinen, nichts zu sehen, keine Kontrolle zu haben, keine Sicherheit und keinen Schutz. So wird die Dunkelheit denjenigen überlassen, die etwas zu verbergen haben, die Dunkelheit schätzen, weil sie in ihren zweifelhaften Geschäften nicht gestört werden wollen. Die Dunkelheit ist kostbar: Ohne Dunkelheit werden Menschen krank wie ohne Licht. Ohne Dunkelheit gibt es zu wenig Pausen, Ruhepunkte, Verlangsamung. Ohne Dunkelheit gibt es kaum Schlaf. Ohne Dunkelheit kein Rückzug ins Private, Körperliche, Zärtliche. Ohne Dunkelheit kaum der Mut zu Tränen, Umarmungen, Trost. Es braucht also Dunkelheit und Licht. Es braucht die Grautöne, Zwischentöne, Schattierungen, Lichteinfälle, Abschattungen, Zwischenräume – im Hellen wie im Dunkeln.
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Dr. Kerstin Söderblum in „Aufbruch für die Seele“, @ 2021 - St. Benno Verlag |
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