geistliche Impulse

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Bildmeditation

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Geburt Johannes des Täufers

(Johannesaltar von Rogier van der Weyden, 1455) 

 

 

Der Johannesaltar des niederländischen Malers Rogier van der Weyden – entstanden um 1455 – befindet sich heute in der Gemäldegalerie in Berlin. Er besteht aus drei gleich großen Tafeln (79x49 cm).

Jede Tafel hat das Aussehen eines Kirchenportals, in dem und vor dem jeweils zwei oder drei Hauptpersonen agieren. Hinter ihnen öffnen sich Räume, in der mittleren Tafel eine Landschaft, teilweise mit weiteren Figuren und Szenen.

 

Dargestellt sind in den drei Portalen die wichtigsten Begebenheiten aus dem Leben Johannes des Täufers, des Vorläufers Jesu Christi. Links seine Geburt und Namensgebung, in der Mitte die Taufe Jesu und rechts die Enthauptung Johannes des Täufers, wobei ein Henker den Kopf des Johannes Salome übergibt, der Stieftochter des Herodes. Es fällt auf, dass beide ihren Blick abwenden und in die jeweils entgegengesetzte Richtung schauen.

 

Die seitlichen Tafelbilder sind durch ihre Schrägsicht der dargestellten Räume auf das mittlere bezogen und diesem zu- und untergeordnet. Denn das bedeutsamste Ereignis im Leben des Johannes ist die Taufe Christi. Mit ihr fängt das öffentliche Wirken Jesu. Es beginnt damit, dass er die ersten Jünger beruft.

 

Deshalb sind in den Portalgewänden der drei Tafeln – jeweils links und rechts auf halber Höhe – je zwei Apostel zu sehen, so dass auf jeder der drei Tafeln vier Apostel dargestellt sind. Die Apostel stehen wohl auch deshalb in den Portalgewänden, weil sie als die Stützen der Kirche gelten. Dass immer zwei beieinander stehen, könnte sich auf Lk 10, 1 beziehen, wo die Jünger zu zweit, paarweise, von Jesus ausgesandt werden.

 

Oben in den Bogenläufen (Archivolten) der Portale sind jeweils sechs Figurengruppen, drei links und drei rechts, angeordnet. Sie zeigen Szenen aus dem Leben von Johannes und Jesus. Auf der rechten Tafel sind es sechs Begebenheiten aus dem öffentlichen Wirken des Vorläufers, im Mittelbild sind es Szenen aus dem Leben Jesu vor der Taufe sowie die Versuchungen Christi, auf der linken Tafel sind es Szenen aus der Kindheit Jesu und seines Vorläufers Johannes.

 

Bei dieser Bildmeditation beschränken wir uns auf die Betrachtung der linken Tafel, welche die Geburt bzw. Namensgebung Johannes des Täufers zum Thema hat.

 

Durch einen gotischen Portalbogen sehen wir in ein (burgundisches) Schlafgemach. Elisabeth liegt dort im Wochenbett. Eine Dienerin deckt sie gerade zu.

Auf der Rückseite des Raumes, links hinter der Dienerin, ist eine schmale Tür zu sehen. Sie steht offen und gibt den Blick frei in ein angrenzendes, noch tiefer im Hintergrund gelegenes Zimmer.

Hier sind zwei weitere Frauen zu sehen. Sie sind von draußen in das Haus eingetreten. Die Außentür steht noch offen. Wie die Frau im Schlafgemach, so sind auch diese beiden, die gerade herbeikommen in einfache Gewänder gekleidet und tragen ebenfalls weiße Kopftücher. Somit könnte es sich um zwei weitere Helferinnen (Ammen) handeln.

 

Der Raum, in dem Elisabeth als Wöchnerin im Bett liegt, ist schachbrettartig gefließt. An der linken Wand, hinter dem linken Portalbogen, ist ein Kamin zu sehen, daran schließt sich ein Fenster an, darunter befindet sich ein Schrank (Kommode), auf dem einige Utensilien stehen (eine Schüssel, zwei Kannen oder Karaffen und ein Becher), die wohl für das neugeborene Kind und wohl auch für die Wöchnerin gebraucht werden.

 

Der größte Teil des Gemaches wird von einem großen roten Baldachinbett eingenommen, wie es im 15. Jahrhundert in gut bürgerlichen Häusern populär war. Der Vorhang des Bettes ist vorne links hochgebunden. Von Elisabeth ist nur ihr Gesicht zu sehen, von einem weißen Kopftuch umhüllt. Links vom Bett steht die Dienerin mit ebenfalls weißem Kopftuch und geschürztem Obergewand. Sie beugt sich zu Elisabeth und faltet oder glättet das Betttuch, ein weißes Laken, worunter zusätzlich noch ein Stück graue Wolldecke sichtbar ist, die wohl wärmen soll. Der übrige Bettüberwurf scheint aus dem gleichen Stoff zu sein wie der Baldachin.

 

Vorne rechts unter dem Portal sitzt auf einer Holzbank ein Mann mit grauem Bart und schwarzer Kopfbedeckung. Es handelt sich um Zacharias, den Vater von Johannes dem Täufer. Er trägt ein grünes Gewand, das mit Pelz gefüttert ist. Dazu einen dunkelblauen Mantel, den er über seine linke Schulter hochgeschlagen hat, so dass die violette Innenseite sichtbar wird.

Auf seinem rechten Knie liegt ein Stück weißes Papier. In der Linken hält er ein Tintenfässchen. Zacharias ist wohl gerade im Begriff, den Namen „Johannes“ aufzuschreiben.

Sein Blick geht dabei zu Maria, die vor dem Portal auf der linken Seite steht und Zacharias den neugeborenen Sohn entgegenhält.

 

(Zacharias war ja seit der Verkündigung der Geburt durch den Engel verstummt. Er konnte gut neun Monate nicht mehr reden, weil er an der Botschaft von der Geburt seines Sohnes gezweifelt hat (vgl. Lk 1, 20). Erst am Tag der Beschneidung des Kindes, genauer gesagt bei der Namensgebung fand er die Sprache wieder)

 

Maria hat ihren Mantel hochgeschürzt und trägt darin den Johannesknaben, der in ein weißes Tuch gehüllt ist und – seine Hände leicht erhoben – den Betrachter des Bildes anschaut. Maria trägt ihr Haar jungfräulich offen und blickt würdevoll und ernst zu Zacharias hinüber. Als einzige der dargestellten Personen trägt Maria einen Nimbus, der durch zwei goldenen Linien angedeutet ist.

Wie schon drei Monate zuvor  bei der Begegnung von Elisabeth und Maria im Haus des Zacharias (vgl. Lk 1, 39 - 45), als nicht nur die beiden Frauen sich begegneten und einander begrüßten, sondern auch die noch ungeborenen Kinder Johannes und Jesus, so findet auch jetzt nach der Geburt des Johannes eine Begegnung zwischen Christus im Schoß Mariens und seinem neugeborenen Vorläufer statt, den Maria auf ihren Armen trägt bzw. in Händen hält.

 

Die Anwesenheit Marias bei der Geburt des Johannes geht aus dem Lukasevangelium hervor. Dort gibt der Engel Gabriel bei der Verkündigung der Geburt Jesu den Hinweis auf Elisabeth, die – obwohl sie als unfruchtbar galt – bereits im sechsten Monat ist (vgl. Lk 1, 36).

Dann erwähnt der Evangelist, dass sich Maria einige Tage danach auf den Weg machte und über das Gebirge zu Elisabeth eilte. Am Schluss der Begegnung der beiden Frauen und nachdem Maria das Magnifikat gesprochen hat, fügt der Evangelist hinzu, dass Maria etwa drei Monate bei ihrer Verwandten blieb (Lk 1,56). Aus diesem zeitlichen Ablauf im Lukasevangelium wird deutlich, dass Maria auch noch bei der Niederkunft Elisabeths dabei war.

 

Und so kommt es, dass die (außerbiblische) Überlieferung in Maria die demütige und eifrige Helferin ihrer alten und hochschwangeren Verwandten Elisabeth sieht.

Nach der „Legenda aurea“ (13. Jahrhundert) hat Maria Elisabeth gedient und nach der Geburt des Johannes das neugeborene Kind „mit eigenen Händen getragen“.

 

Die Himmelsfarbe ihres goldgesäumten blauen Mantels weist Maria, die selbst schon im dritten Monat schwanger ist, als die neue Bundeslade aus, die den verheißenen Messias in ihrem Schoß trägt. Interessant ist, dass die Bundeslade von den Israeliten auf ihrem Zug durch die Wüste ebenfalls mit einem blauen Tuch abgedeckt wurde, wie aus Num 4, 5 - 6 hervorgeht. Die Bundeslade galt als Ort der Gegenwart Gottes bei seinem Volk.

 

Kehren wir noch einmal zurück zu unserem Bild.

Im Bogenlauf des Tores (Archivolte) sind oben – klein, aber fein – sechs Szenen aus der Kindheit Jesu und seines Vorläufers Johannes dargestellt.

Links unten die Verheißung der Geburt des Johannes durch den Engel Gabriel an Zacharias während seines Dienstes im Tempel (vgl. Lk 1, 26 - 38). In der zweiten Szene darüber ist der verstummte Zacharias zu sehen, der aus dem Tempel vor das Volk tritt (vgl. Lk 1, 22). Darüber – in der dritten Szene – findet ein überraschender Wechsel der Personen statt. Denn sie zeigt die Vermählung Marias mit Josef. – Auf der rechten Seite des Torbogens – jenseits des Bogenscheitels – wird er Zyklus der Ereignisse der Menschwerdung fortgesetzt. Von oben nach unten die Szene der Verkündigung des Engels Gabriel an Maria (vgl. Lk 1,26 - 38). Darunter der Besuch Marias bei der schwangeren Elisabeth (vgl. Lk 1, 39 - 56). Hier kreuzen sich die Lebenswege Marias, der Mutter Jesu, und Elisabeths, der Mutter des Johannes. Und hier beweist auch der kleine Johannes seine prophetische Gabe, da er vor Freude über die Nähe des Erlösers im Mutterleib hüpft. Auch Elisabeth wird von Heiligem geist erfüllt und ruft Maria laut zu: „Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes!“ (Lk 1, 42) Unter der Szene der Heimsuchung ist dann noch die Geburt Jesu dargestellt (vgl. Lk 2, 6 - 7).

In diesen Bildern wird das einzigartige Verhältnis zwischen Christus und seinem Vorläufer deutlich. Mit seiner gottgewirkten, durch den Engel angekündigten Geburt und seinem Martyrium wurde Johannes zum christusähnlichen Wegbereiter des Messias.

 

Aus diesem Grund feiert die Kirche neben dem Geburtsfest Jesu und dem seiner Mutter Maria nur noch einen Geburtstag im Laufe des Kirchenjahres, nämlich den Tag der Geburt des Täufers am 24. Juni. Von da an nehmen die Tage ab, während sie ab dem Weihnachtsfest wieder zunehmen. „Jener muss wachsen, ich aber abnehmen.“ (Joh 3, 30)

 

Werfen wir noch einen Blick auf eine Kleinigkeit am Rand, die aber doch voller Symbolik ist, nämlich die Pflanzen, die rechts und links unten am Fuß des Portals und dazwischen aus den Ritzen der steinernen Bodenplatten wachsen und die die Geheimnisse der Menschwerdung und der Erlösung Christi versinnbildlichen.

 

Während ganz rechts wohl ein Nelkenwurz wächst, ist auf der gegenüberliegenden Seite neben Maria ein kleiner dornenloser Rosenstrauch zu sehen, der für Maria als mystische Rose steht, die als sündenlose Wohnung den Sohn Gottes in ihrem reinen Schoß empfangen hat. „Rose ohne Dornen“ wird Maria auch genannt. Direkt vor dem Schuh des Zacharias sprießt ein Löwenzahn auf, der wegen seiner bitteren Blätter auf das Leiden Christi verweist.

 

Noch etwas: Rogier van der Weyden hat Maria auf dem Geburtsbild der linken Tafel und Salome auf dem Bild der rechten Tafel offensichtlich ganz bewusst einander gegenüber gestellt.

Während Maria in offenem Haar mit einem eher schlichten, dunkelblauen Rock begleitet ist, darüber einen ebenso blauen Mantel, führt Salome – körperbetont, luxuriös und mondän gekleidet – zeitgenössische Hofmode vor.

Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Frauen ist aber die Zuwendung Marias im Gegensatz zur Abwendung Salomes (und des Henkers). Während Maria auf der linken Tafel das Neugeborene liebevoll in ihren Armen hält (und auch Zacharias zur Mutter mit dem Kind orientiert ist), trägt Salome auf der rechten Tafel – an gleicher Stelle wie Maria stehend – den abgehackten Kopf des Täufers, des größten Propheten.

Im Gegensatz zu Salome, die mit ihrem Hochmut und mit ihrer Verdorbenheit das Leben des Täufers zerstört, dient Maria dem neugeborenen Vorläufer ihres Sohnes und verkörpert – bei aller Würde – Demut, fürsorgende Liebe, Tugend und Reinheit.

 

So stehen einander Tugend und Laster gegenüber. Und es ist offensichtlich, dass der Betrachter sich an Maria orientieren und an ihr ein Beispiel nehmen soll.

 

(Einige Gedanken und Formulierungen verdanke ich Wolfgang Vogel, Meisterwerke der christlichen Kunst, Verl. F. Pustet, 2017)