Beim Betrachten des Bildes fällt
der Blick sofort auf die Frau, die in der Mitte am
Boden kniet.
Ihr
Gesicht ist nach oben gerichtet. Auch ihre rechte
Hand weist nach oben.
Mit den Augen schaut sie jemanden
an, der nicht sichtbar ist, jemanden, der sich
außerhalb des Bildes befindet.
Von dort strömt Licht auf die
Frau. Ein Lichtkreis umschließt die Frau wie ein
unsichtbarer Schutz.
Im Hintergrund eine Wand dunkel
aufragender Gestalten. Nur schemenhaft sind ihre
Gesichter zu erkennen.
Alle wirken ernst, streng,
grimmig. Voller Verachtung und Empörung schauen sie
auf die Frau oder munkeln im Dunkeln.
Zwei am rechten Bildrand tuscheln
miteinander. Darunter ist eine Hand zu sehen, die
einen Stein umfasst. Links deutet einer mit dem
Zeigefinger. Der neben ihm hat die Arme verschränkt.
Er macht zu, ist sich seiner Sache sicher. Einer
hält entsetzt seine Hand vor den Mund.
„Auf frischer Tat ertappt“
und damit nach dem Gesetz schuldig. Das Urteil steht
fest. Die Ankläger haben es in heiligem Zorn schon
gesprochen: Tod durch Steinigung, eine geile
Bestrafung!
Die Frau steht auf verlorenem
Posten. Nein, sie kniet schon. Bald wird sie vom
Steinhagel der Gerechten im Staub verröcheln.
Es gibt keinen Ausweg. Flucht ist
unmöglich. Dafür haben die Gesetzestreuen gesorgt. –
In ihrer Selbstgerechtigkeit stehen die Wächter der
öffentlichen Moral wie eine Mauer, unbarmherzig,
gnadenlos, eine verhärtete Front, härter als Stein.
Die kalten Gesichter, die
herablassenden Blicke sagen eindeutig: dieses
Weibsbild hat den Tod verdient.
Von dem Mann, der auch beteiligt
war – zum Ehebruch gehören bekanntlich ja zwei – ist
nichts zu sehen. Ist er entkommen? Haben sie ihn
laufen lassen?
Von rechts fährt diagonal eine
überdimensionale Hand in den Bildvordergrund und
ragt in die Szene hinein.
Diese Hand schreibt mit dem
ausgestreckten Zeigefinger in den Sand am Boden.
Es ist ein hebräisches Wort. Die
Anfangsbuchstaben lassen sich zu „schalom –
Frieden“ ergänzen.
Nicht schuldig, sondern Erbarmen;
nicht Verurteilung, sondern Gnade; nicht Verdammung,
sondern Heil und Leben, „schalom“.
Die Frau kniet bereits im Licht
und wendet sich Jesus zu.
Die Lichtbahn unter der
schreibenden Hand verbindet sich mit dem Lichtkreis
um ihre Gestalt.
So steht die Frau im Kontrast zu
den Gesetzeskennern und gnadenlosen
Gesetzesvollstreckern.
Sie drängen und wollen eine
Antwort. Jesus lässt sich Zeit und gibt auch ihnen
Zeit, sich zu besinnen. Er schafft einen Raum der
Stille, einen Raum des Schweigens. Er gibt
Gelegenheit, bei sich selbst zu schauen und an die
eigene Brust zu klopfen.
Jesus macht der Frau keine
Vorwürfe. Er bricht nicht den Stab über sie. – Er
ist ja gekommen, um zu suchen, was verloren war und
zu heilen, was verwundet ist. – Er ist der Heiland
der Armen, der Retter der Sünder. – Er zerbricht
nicht das geknickte Rohr und den glimmenden Docht
löscht er nicht aus. – Er ist der gute Hirt. Er ist
der, der von Schuld befreit und alle Gebrechen
heilt.
Den Anklägern der Frau macht er
deutlich: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe
den ersten Stein!“ Ihre Finger sinken, die
Steine fallen zu Boden, der Wortschwall verstummt.
Einer nach dem andern geht weg.
Und die Gefallene kann aufstehen,
darf neu anfangen, darf leben.
Das Wort „schalom“ auf dem
Bild ist noch nicht zu Ende geschrieben. Ein
Buchstabe fehlt noch. Es ist der, den wir selber
noch schreiben müssen.
Wo bin ich auf diesem Bild? Wo
finde ich mich wieder?
-
Bin ich bei
denen, die wie eine dunkle Mauer zusammenstehen,
sich entrüsten, urteilen und verurteilen,
gnadenlos, unbarmherzig?
-
Bin ich bei
denen, die einer nach dem anderen weggehen, weil
sie einsehen, dass sie selber Dreck am Stecken
haben, selber nicht ohne Fehler und Sünden sind
und deshalb an ihre eigene Brust zu klopfen
haben?
-
Kann ich mich in
die Frau in der Mitte hineinversetzen – auch
wenn ihre Sünde nicht meine Sünde ist – und mich
mit ihr identifizieren, die hilflos und voll
Angst den Vollstreckern des Gesetzes
ausgeliefert ist, die aber (auf dem Bild von
Sieger Köder) doch im Lichtkreis der Liebe
Gottes kniet und ihr Gesicht zu ihm erhebt?
-
Finde ich mich
vielleicht auch in Jesus wieder, der die
Gesetzestreuen mit sich selbst konfrontiert,
der nicht moralisiert und urteilt, sondern Gnade
vor Recht walten lässt, dessen Liebe größer ist
als alle Schuld und der den neuen Anfang
schenkt?
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