Vorbemerkung
Das Bild ist einer
Handschrift um das Jahr 1000 entnommen.
Malermönche auf der
Insel Reichenau (Bodensee) haben diese Handschrift
angefertigt. Das Kloster auf der Reichenau war die
führende Malerschule im Deutschen Reich, die
bevorzugt Prachthandschriften für Kaiser und Päpste
herstellte.
Dem Bild zugrunde
liegt das alttestamentliche Hohelied, allegorisch
ausgelegt als Verbindung zwischen Christus, dem
Bräutigam, und der Kirche als seiner Braut.
Bildbetrachtung
Wir
sehen eine Reihe von Menschen, einer hinter dem
anderen gehend, auf einem spiralförmig verlaufenden
Weg.
Ziel der Pilger ist
das goldene Kreuz im oberen rechten Teil des Bildes.
Im
Zentrum
des Bildes steht ein Taufbecken. Darin ein Mann mit
nacktem Oberkörper. Zu ihm beugt sich ein Priester
hinab und berührt seine Stirn. Es handelt sich wohl
um eine Salbung wie sie auch heute noch zum Ritus
der Taufe gehört. Beide Personen, Täufling und
Priester, tragen einen Heiligenschein.
Links vom Taufbrunnen
nähern sich drei Männer ohne Heiligenschein. Sie
sind nur dürftig gekleidet. Es handelt sich wohl um
Taufanwärter, die aufmerksam auf das Geschehen vor
ihnen schauen. Ihre Körper sind vorgebeugt, die
Hände weisen auf das Taufbecken.
Als nächste sind sie
an der Reihe, die Taufe zu empfangen und damit in
die Gemeinschaft der Glaubenden aufgenommen zu
werden.
Rechts vom Taufbecken
setzt sich – wie eine Prozession – der Zug der
getauften Christgläubigen in Bewegung. Alle schmückt
ein goldener Heiligenschein als Zeichen dafür, dass
sie von Gottes Gnade „umstrahlt“ sind.
Eine Ausnahme bilden
vier junge Männer, die als letzte aus dem Bad der
Taufe gestiegen sind und sich der Prozession der
Getauften angeschlossen haben. Es handelt sich wohl
um Könige, denn sie tragen goldene Kronen.
Einer von ihnen
schaut zurück. Vielleicht nimmt er die Pilger in den
Blick, die sich bereits weit oben auf dem Weg
befinden und dem Ziel schon nahe sind? Das Ziel zu
sehen, weckt – bei allen Strapazen des Weges –
Hoffnung und verleiht Ausdauer und Kraft.
Alle Getauften
bewegen sich auf einem beige-gelb vorgezeichneten
Weg, der durch Bodenschollen gekennzeichnet ist. Da
ist kein Abweichen vom Weg, kein Abirren. Alle
bleiben der Richtung treu, wohl wissend, den
richtigen Pfad gewählt zu haben. Alle tragen
festliche, prächtige Gewänder, ein Zeichen für die
Segensfülle, mit der Gott seine Auserwählten und
Berufenen „überkleidet“.
Die Taufe – so deutet
unser Bild – bringt den Menschen auf einen Weg. Er
darf sich einreihen in eine heilige Prozession, die
nach oben, ins Licht führt.
Vor den Männern mit
der Krone (Könige) gehen drei junge Männer und zwei
Ältere. Es könnten Laien sein, denn ein bestimmter
Beruf oder Stand lässt sich von ihrer Kleidung her
nicht ausmachen.
Davor sind drei
Personen zu sehen, die aufgrund der Tonsur, die sie
tragen, als Ordenspriester bzw. Mönche, zu erkennen
sind. Die ersten beiden scheinen miteinander zu
sprechen.
Ein einzelner junger
Mann, vielleicht ein Diakon, trennt diese Gruppe von
den nächsten fünf Personen weiter vorn, bei denen es
sich um Priester oder Bischöfe handeln könnte, denn
sie sind wie mit priesterlichen Gewändern
dargestellt sind.
Die beiden vorderen
haben offenbar schon das Kreuz im Blick, während die
Bewegung der anderen drei in unterschiedliche
Richtung geht.
Davor – an der Spitze
des Zuges der Getauften – sind zum ersten Mal Frauen
abgebildet. Drei davon stehen eng zusammen. Die
vierte nimmt ehrfurchtsvoll von einer weiteren
weiblichen Gestalt einen goldenen Kelch entgegen.
Die mittlere von den
ersten drei umarmt die untere und scheint ihr etwas
zu sagen oder zu erklären. Vielleicht spricht sie
auch Trost zu oder ermutigt. Ihre Hände strecken
sich dem Kreuz entgegen.
Die Frau, die dem
Kreuz am nächsten steht und die der Frau unter ihr
mit der rechten Hand den Kelch reicht, trägt in der
Linken einen Stab mit Kreuz und Wimpel und weist
damit auf den Gekreuzigten. Sie bildet eine Art
Brücke zwischen den Glaubenden und dem Kreuz, was
sich in der Bewegung ihrer Gewänder widerspiegelt
und in der Weitergabe des eucharistischen Kelches.
Es handelt sich bei
dieser Frauengestalt um die Ekklesia, die Kirche.
Als Braut Christi ist sie mit einem kostbaren, mit
Juwelen besetzten Kragen geschmückt.
Der Bräutigam der
Kirche, Jesus Christus, hängt am Kreuz. Für ihn ist
alles vollbracht. Seine Wunden bluten noch.
In der Deutung der
Kirchenväter entspringen der Seitenwunde Jesu die
Sakramente der Kirche.
Das goldene Kreuz,
ohne Inschrift, weist auf die Überwindung von Leid
und Tod in der Auferstehung Jesu hin.
Der Maler setzt einen
deutlichen Anfangspunkt und ein ebenso klares Ziel
für die Pilgernden fest: Mit der Taufe beginnt das
Leben in Jesus Christus. Zugleich kommt damit auch
das Kreuz als Zeichen für das Leiden und Sterben
Jesu in den Blick.
Gleichzeitig aber
gilt: Vom Kreuz geht der Segen der Sakramente aus,
als Stärkung der Menschen auf ihrem Weg, als
Begleitung an allen wichtigen Stationen ihres
Lebens.
Die Farben im
Hintergrund des Weges der Getauften wandeln sich von
einem rosa-violetten Farbton zum Blau des Himmels,
wobei auch angedeutet sein mag, dass die
Wirklichkeit des Himmels (blau) auch schon den
Vorgang der Bekehrung und den gesamten Weg zum Ziel
begleitet und trägt.
Der Glaubensweg führt
zwar nicht am Kreuz vorbei, aber endet auch nicht
dort, sondern führt darüber hinaus in die Glorie des
Himmels und der Ewigkeit.
Vom Bild zum Fest
Allerheiligen
Wenn wir heute an
„Allerheiligen“, das wir als Fest der Freude und der
Herrlichkeit empfinden, auf unserem Bild das Ziel
der Seligen betrachten, dann mag es uns befremden,
dass dieses Ziel ein Kreuz ist, ein goldenes zwar,
aber doch ein Kreuz, das Symbol qualvollen Sterbens.
Der Künstler mag uns
wohl einschärfen, dass der Weg zum Himmel von uns
aus gesehen immer auf das Kreuz zuführt.
Wer das Kreuz umgehen
will, verliert die Richtung auf Gott.
Er verlässt die
Prozession der Heiligen, er bricht das Versprechen,
das er bei seiner Taufe gegeben hat.
Ebenso verliert den
Weg zu Gott und zur Seligkeit, wer der Ekklesia, der
Kirche ausweicht.
Christus, auf den wir
getauft wurden, hat eine menschliche und damit
anfechtbare Kirche gegründet.
Wer zu ihr gehören
will, muss ihre Licht- und Schattenseiten, ihre
Stärken und Schwächen annehmen.
Wer zu ihm gehören
und seinen Weg mitgehen will, muss ja sagen zum
Leidenskelch, zur Ekklesia und zum Kreuz.
Ekklesia und Kreuz
sind freilich nicht die letzten Stationen auf dem
Weg der Seligen. Die Bewegung des Aufstiegs führt
hinter dem Kreuz in eine Sphäre, die mit irdischen
Mitteln nicht mehr darzustellen ist.
Das heutige Fest
spricht also nicht nur von Menschen und ihrem
Aufstieg durch Leid und Kreuz, es spricht auch von
einem Gott, der in seiner Herrlichkeit größer ist
als alles, was ein Mensch in Worten, Formen und
Farben sichtbar machen kann.
Allerheiligen ist ein
Fest, das uns Erdenpilgern das Ziel zeigt, ein Fest
der Zukunft, unserer Zukunft, ein Fest, das uns die
Kraft gibt für den Weg und unsere Arbeit und unseren
Alltag, der unseren Blick zur Erde lenkt und doch
zum Himmel führen soll.
Allerheiligen feiert
den „Heiligen schlechthin“, den unbegreiflichen und
herrlichen Gott, vor dem Engel und Menschen ihr
Antlitz verhüllen müssen.
IHM wollen wir die
Ehre geben. Auf IHN wollen wir zugehen in der
Hoffnung, dass uns am Ende unseres Weges eine
Wohnung erwartet, in der wir ewig selig sein dürfen.
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