Eine Frau kauert mit
nach vorne gebeugtem Oberkörper auf dem Boden, halb
sitzend, halb liegend. Ihr Haupt ist tief geneigt
und durch eine Art Kapuze am Mantelkleid verdeckt
und eingehüllt. Das Gesicht
ist verborgen. Augen, Mund und Nase sind allenfalls
zu ahnen. Wahrt sie, sich verhüllend, ihre Würde?
Den linken Arm hat
die Frau weit nach vorne ausgestreckt. Die Hand ist
auf den Füssen abgelegt. Sie ist offen und leer wie
eine Schale, bittend nach „draußen“ hingestreckt,
hingehalten einem unbekannten möglichen Du.
In einer
Gegenbewegung dazu bildet der Oberkörper der Frau
vom Scheitel bis zum Rücken eine gerundete Linie,
eine Kurve der Demut, flach, geduckt. Kopf und
Rücken sind wie unter einer schweren Last gebeugt.
Aber
die Frau ist nicht zerbrochen.
Mit ihrer rechten Hand stützt sie sich fest am Boden
ab. Sie spürt noch festen Grund unter sich. Da ist
ein Fundament, das trägt und hält.
Die Frau sagt nichts
und fragt nichts. Sie wartet, sie hofft, sie bettelt
geduldig. Sie schaut auch nicht hin, ob ihr jemand
etwas gibt, wer es ist und wie viel jemand gibt. Sie
blickt vielmehr unter sich. Schaut sie in sich
hinein?
Die Gestalt ist eine
einzige Gebärde stummer Hilflosigkeit und flehender
Ohnmacht. Armut, Angewiesensein auf andere,
Anonymität des Elends.
Wie konnte es so weit
kommen?
Will sie nicht
erkannt werden? Schämt sie sich, weil sie tut, was
sie tut und vielleicht tun muss? Hat sie je einen
Beruf erlernt und ausgeübt? Ist sie durch
überschwere Arbeit krank geworden, gekrümmt worden,
herunter gekommen und zum Wrack geworden? Ob sie
Angehörige hat? Ob sie Kinder besaß, die ihre Mutter
vergessen haben? Fühlt sie sich einsam? Niemand ist
zu sehen. Kein Helfer, kein Fürsorger, keiner, der
Mitleid hat, niemand, der sich erbarmt.
Ernst
Barlach
hat dieser Plastik den Titel „Russische Bettlerin“
gegeben. Entstanden ist sie 1907 infolge einer Reise
nach Russland im Jahr zuvor. – Russland war das
Land, in dem die tiefgreifendsten gesellschaftlichen
Veränderungen des 20. Jahrhunderts begonnen hatten.
Barlach fühlte sich in den Strudel der umwälzenden
Ereignisse hineingezogen und dadurch gezwungen, sich
mit den sozialen und politischen Fragen kritisch
auseinanderzusetzen.
Die
„Russische Bettlerin“
und ähnliche Werke Barlachs spiegeln diese
Auseinandersetzung wieder. Barlach konfrontiert den
Betrachter unmittelbar mit dem Bild der Armut und
Hilfsbedürftigkeit. Der ganze Mensch wird zur
stummen Bitte, ausgedrückt in der Geste der
ausgestreckten offen und leeren Hand.
Ist in diesem Bild
nicht eine Urtatsache menschlichen Lebens
ausgedrückt?
Sind
wir nicht alle Bettler?
Kann sich nicht jede und jeder in der Gestalt am
Boden sitzend, die Hand bettelnd hingehalten,
wiederfinden?
Auch
ich bin Bettler.
Auch ich kann mich in dieser Frau erkennen als arm,
bedürftig, hilfesuchend, erwartungsvoll, angewiesen
auf das Wohlwollen und die Güte meiner Mitmenschen.
Andererseits stimmt auch: Nur leere Hände lassen
sich ergreifen, nur leere Hände können gefüllt
werden.
Die ausgestreckte,
offene Hand ist ein Sinnbild.
Ich suche jemanden,
der mir mit seiner Hand entgegenkommt, der sich mir
zuwendet, mich ansieht, mir Ansehen schenkt, mich
versteht und mich annimmt.
Das Eigentliche des
Lebens kann ich nicht erwerben, nicht machen.
Das Eigentliche des
Lebens ist Geschenk.
Der
Apostel Paulus fragt: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“
Habe ich mir schon
einmal überlegt, wie sehr ich Empfangender bin,
wieviel mir geschenkt ist? Mache ich mir nicht etwas
vor, wenn ich denke, ich habe alles, ich brauche
nichts, ich brauche die anderen nicht? Auf was bin
ich nicht angewiesen jeden Tag?
Wo ist bei mir die
Hand leer? Und wie viele Menschen strecken mir
täglich gleichsam ihre leeren Hände entgegen?
Jesus
sagt: „Umsonst habt ihr
empfangen, umsonst sollt ihr geben!“
Werner Bergengrün hat
in einem Gedicht die Zeilen:
„Liebt doch Gott die
leeren Hände und der Mangel wird Gewinn,
stets erweist das
Ende sich als strahlender Beginn.“
Gott
liebt die leeren Hände.
Was als Mangel erscheint, kann zum Gewinn werden.
Was scheinbar Ende bedeutet, ist in Wirklichkeit
verheißungsvoller Anfang: Mich selbst an Gott aus
der Hand geben; mich selbst auf IHN hin loslassen
und gleichzeitig mich selbst als Gabe von Gott
empfangen dürfen
Alfred Delp sagt:
„Das
gebeugte Knie und die hingehaltenen leeren Hände
sind die beiden Urgebärden des freien Menschen.“
Die
Geste der leeren Hand:
Urbild des Menschen in seiner Kreatürlichkeit, in
seiner Bedürftigkeit, seinem Suchen und Fragen,
seinem Angewiesen-Sein auf andere, seinem Empfangen
und Sich-Verschenken.
Gertrud von Helfta hat das Wort:
„Vor dir steht die leere Schale meiner Sehnsucht.“
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