geistliche Impulse

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Bildmeditation

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

EINER TRUG UNSERE LAST

(Bildmeditation zu einem Linolschnitt von Bohdan Pivonka)

 

 

Das Bild hat zwei Hälften, eine dunkle und eine helle.

Rechts unten im Dunkeln, in der Tiefe, eine Stadt.

Links oben auf dem Hügel, im Hellen, zwei Kreuze.

In der Bildmitte ein Mann mit einem Kreuz auf dem Rücken,

unterwegs vom Dunkel zum Licht, vor ihm ein Felsbrocken.

 

Der Mann plagt sich. Die Last ist überschwer, für einen viel zu viel.

Sie zwingt den Mann im karierten Hemd in die Knie, fast bricht er zusammen.

Auf dem Längsbalken des Kreuzes sitzen vier Leute und haben es sich da oben bequem gemacht.

Sie wirken behäbig, zufrieden.

Sie sitzen da, als würden sie spazieren getragen.

 

Da, wo nach dem Gesetz des Hebels das Gewicht am schwersten lastet, sitzt ein Pfarrer im langen Talar, ein Mann der Kirche, die Hände in den Schoß gelegt.

Er blickt uns als einziger an. Sein Gesichtsausdruck ist nicht genau zu deuten. Er wirkt wie eine Maske.

Neben dem Pfarrer ein Paar, abgewandt und ganz mit sich beschäftigt.

Sodann ein Mann mit Hut, in eine Zeitung vertieft.

 

Der Zeitungsleser, das Liebespaar, der Geistliche:

Wissen diese Menschen auf dem Kreuz, dass sie getragen werden und dass sie zu tragen geben?

Merken sie, welche Last sie sind und welche Mühe sie verursachen?

 

Sie tun nichts.

Sie sitzen einfach nur da, bequem und unendlich gleichgültig.

Sie hocken mit Abstand nebeneinander als hätten sie nichts miteinander zu schaffen.

Sie sehen sich nicht an.

 

Vor allem sehen sie den nicht, der sie den Berg hinaufschleppt,

Sie merken nicht wie er sich anstrengt, hören seinen keuchenden Atem nicht, sein Ächzen und Stöhnen.

 

Sie bedrücken und belasten ihn.

Man möchte ihnen zurufen: Absteigen!

Platz machen für Leute, die es wirklich nötig haben, getragen zu werden!

 

Keiner von ihnen macht Anstalten herunterzuspringen, um wenigstens die Last leichter zu machen, geschweige denn zu helfen.

 

Ein Simon von Cyrene, der das Kreuz tragen hilft, ist nirgends zu sehen.

 

Warum hilft niemand?

Die Leute sehen alle nicht böswillig aus oder gar brutal.

Keiner tut etwas Böses.

Sie machen sich auch nicht lustig über die Quälerei:

Der Pfarrer nicht. Er hat seine Hände in den Schoß gelegt.

Die beiden in der Mitte nicht. Sie sind sich selbst genug.

Der Mann, der sich informiert, ebenfalls nicht.

Sie sind nur ungeheuer gleichgültig.

 

Sie sehen nicht, dass einer leidet.

Sie sehen einander nicht.

Sie sind wie blind.

 

Ist einer, der so ein Kreuz trägt, einer, der so viel auf sich nimmt oder sich auch aufhalsen und aufbürden lässt, ist der nicht der Dumme?

Ist der nicht viel zu gutmütig?

Und wird Gutmütigkeit nicht immer wieder missbraucht und ausgenützt?

Wer von uns war nicht schon einmal der Dumme?

Wessen Gutmütigkeit wurde noch nie ausgenutzt?

 

Aber wer noch nie ausgenutzt wurde, hat der jemals etwas Gutes getan?

 

Und vielleicht waren wir auch schon unter denen zu finden, die andere tragen, ertragen, mitschleppen, ermutigen?

Bin ich noch dabei oder bin ich ausgestiegen aus dem beschwerlichen Geschäft?

 

Könnte einer, der ein solches Kreuz trägt nicht auch einer sein, der bewusst in die Bresche springt, der Verantwortung übernimmt und Lasten trägt, dabei aber auch weitergeht und die Richtung bestimmt, der weiß, dass es ein Ziel gibt?

 

Aber sitzen wir nicht auch – zumindest dann und wann – breit und satt und mit uns selbst beschäftigt oben auf dem Balken, auf den Schultern anderer?

Und lassen es uns möglicherweise gut gehen auf Kosten anderer?

Doch wer merkt es schon, wenn er anderen zur Last wird oder ihre Gutmütigkeit ausnutzt?

 

Wahrscheinlich kennen wir beides:

die Situation der Leute oben und die des Mannes unten,

tragen und getragen werden,

anderen zu tragen geben und mittragen,

zur Last fallen und Lasten tragen.

 

Wie geht es mir in den unterschiedlichen Rollen?

Wie geht es mir, wenn ich unten bin?

Wie geht es mir, wenn ich oben bin?

 

Sie kommen aus dem Dunkel. Die Sonne steht schwarz über der Stadt in der Tiefe.

Doch der Weg führt ins Licht. Dort, wo die beiden Kreuze auf der Höhe stehen, ist es am hellsten.

Ob denen auf dem Balken dort ein Licht aufgeht? Ob sie da sehend werden?

 

Der Mann, der sie auf dem Kreuz hinaufschleppt, ist größer als sie.

Er könnte es schaffen, den Gipfel zu erreichen.

 

Er trägt seine Last freiwillig, ungezwungen.

Er wirft das Kreuz mitsamt dieser gleichgültigen Gesellschaft nicht ab.

Er sagt nicht: „Rutscht mir doch alle den Buckel herunter!“

Seine Kraft scheint unerschöpflich,

seine Geduld ohne Ende

und seine Liebe unendlich belastbar.

 

Die Liebe Christi ist größer als alle Schuld. Und sie ist durch nichts umzubringen.

 

Er kommt aus dem Dunkel heraus. Er geht ans Licht. Er trägt andere zum Licht hin. Er kennt den Weg. Er ist auf dem Weg zur Höhe, zum Ziel.

 

Soll das Ziel das Kreuz, das Tragen des Kreuzes sein?

Kreuztragen ist kein Selbstzweck. Er trägt das Kreuz um der Menschen willen.

Die Kirche – dargestellt durch den Pfarrer -, die sich liebenden oder auch nicht liebenden Eheleute, die Singles und Alleinstehenden und alle anderen Menschen, versinnbildlicht durch den Zeitungsleser, sie alle sind vom Kreuz Christi getragen.

 

Der Christus dieses Bildes ist gekleidet wie ein Mann von heute.

Er hat ein kariertes Hemd an und eine Arbeiterhose.

Könnte das bedeuten, dass auch wir aufgerufen sind, solche Kreuzträger wie er zu werden?

Menschen, die das Versagen der anderen durch ihr Opfer, ihr Engagement und ihre Hingabe ausgleichen?

 

Der tschechische Grafiker Bohdan Pivonka hat diesen Linolschnitt 1962 einem Urlaubsreisenden als Gruß eines Christen an die evangelische Jugend Deutschlands mitgegeben.

Das Blatt trug den Titel: „Fürwahr, er trug unsere Schuld.“

 

Wenn man bedenkt, dass das Hemd des Kreuzträgers ein Stück weit die Form eines Globus, also der Erde hat, dann bekommt dieses Bild noch einmal eine weitere Dimension.

Nicht nur, dass Christus die Schuld der Welt auf sich genommen und unsere Sünden an seinem eigenen Leib getragen hat, wie es im 1. Petrusbrief heißt, sondern Behäbigkeit und Gleichgültigkeit auf Kosten anderer, Interesselosigkeit am Schicksal so vieler, die unten sind, erhalten eine soziale, gesellschaftliche und weltweite Dimension. Die Welt schreit nach Helfern und Rettern.