1. Ein Weg voller
Fragen
Die Geschichte der Jünger,
die nach Emmaus gehen, gehört für mich seit langem zu den schönsten und
beeindruckendsten Erzählungen im ganzen Neuen Testament. – Und obwohl
ich sie schon zigmal gehört habe, höre ich sie immer noch und immer
wieder gern.
Es ist eigenartig:
Diese Erzählung wird mir nie leid. Ich mag sie einfach, diese
tiefgehende und gar nicht ganz auszulotende Weggeschichte, für die der
Evangelist Lukas seine ganze Erzählkunst, seine ganze Psychologie und
Theologie aufgeboten hat.
Ich denke, diese
Erzählung berührt mich deswegen immer wieder und spricht mich jedes mal
auf’s Neue an, weil ich mich in den beiden Emmausjüngern gut selbst
wiederfinden kann, weil es mir oft so oder zumindest ähnlich geht wie
diesen beiden, die unterwegs sind zwischen Angst und Hoffnung, Trauer
und Freude, Enttäuschung und Zuversicht. Im Weg der beiden Jünger können
wir ein Sinnbild sehen für unseren eigenen Lebens- und Glaubensweg.
Auch zu unserem Leben
gehören die Stunden des Leids, der Traurigkeit, der Enttäuschung, der
Dunkelheit des Herzens und zerschlagene Lebenshoffnungen? Und auch in
unserem Leben gibt es – wie bei den Emmausjüngern – Stunden des
aufkommenden Lichtes, Stunden der Klarheit, Augenblicke, wo es einem
warm wird ums Herz und Augenblicke der verborgenen Gotteserkenntnis und
Gottesbegegnung. Es gibt die strahlende helle Freude und das Glück, wenn
wir herausgefunden haben aus resignativer Verzagtheit, aus Ratlosigkeit
oder trostloser Ungewissheit.
Unser Leben bewegt sich
zwischen den Polen: Angst und Vertrauen, Erwartung und Enttäuschung,
Hoffnung und Verzweiflung, Traurigkeit und Freude.
Wer von uns hätte
sich nicht schon einmal so gefühlt wie die Emmausjünger, als sie sich
auf den Weg machten fort von Jerusalem: deprimiert, total enttäuscht, am
Nullpunkt der Hoffnung, völlig ratlos, voll Fragen und Zweifel..., wenn
nur noch Nacht und Dunkel in uns ist, wenn wir entmutigt sind,
resigniert, traurig, am Boden zerstört, weil schlimme Ereignisse uns
hart getroffen oder schwere Schicksalsschläge uns heimgesucht haben.
Dann ist es zum Verzweifeln. Man möchte am liebsten abhauen, alles
hinschmeißen. Es ist zum Davonlaufen. Die Emmausjünger sind
davongelaufen.
Wenn uns so zumute
ist wie den beiden, wenn Angst und Sorgen einem quälen, wenn Kreuz und
Leid niederdrücken, wenn Nöte und Probleme zu schaffen machen, wenn
Fragen und Zweifel zusetzen, dann ist es gut, wenn wir einen
Weggefährten haben, wenn wir mit jemandem reden können, uns aussprechen,
Leid klagen, Trauer ausschütten. Mit jemandem reden können über
Unverständliches, Unfassbares, bringt oft schon Erleichterung, es wirkt
befreiend, schenkt Trost, ermutigt und lässt neue Hoffnung keimen.
Manches kann einem aufgehen und klar werden schon im Formulieren, im
Aussprechen. Neue Perspektiven zeigen sich und in den Grauton kann
wieder Farbe kommen.
Die Jünger, die
Jerusalem hinter sich lassen, den Ort des ersehnten Heiles, den Ort
ihrer Hoffnung, der aber zum Ort des Grauens und des Endes aller
Hoffnungen geworden ist, sie sind zu zweit. – Was über sie gemeinsam
hereingebrochen ist und ihnen nun ganz arg zu schaffen macht, das
verbindet die beiden: der Schrecken des Karfreitags, Traurigkeit,
Enttäuschung, Ungewissheit, Unruhe.
Es bewegt sie die
Frage: Warum ist alles so anders gekommen? Am Galgen ist er geendet,
gescheitert. Seine Gegner haben gesiegt. Sein Tod ist die
Katastrophe ihres Lebens. Das ist der Punkt über den sie nicht
wegkommen. Der tote Punkt. Alles ist aus. Alles war umsonst. Die Sache
mit Jesus ist für sie "passe".
Was jetzt? Wie
soll‘s weitergehen? Sie haben keine Antwort auf diese Fragen. Niemand
kann ihre Zweifel lösen. Ihre Traurigkeit ist riesig, die Enttäuschung
sitzt tief.
Was passiert ist in
Jerusalem, geht ihnen nicht aus dem Sinn. Auch wenn sie sich abwenden,
weggehen, der Stadt den Rücken zukehren, es verfolgt sie. Abstand
gewinnen wollen sie von den Ereignissen, die sich in Jerusalem
abgespielt haben, fort von dem Ort, tapfer zurückgehen in den Alltag,
nach Hause, zu ihren Familien, zu ihrem Beruf, weitermachen wie vorher.
Und doch können sie nicht einfach alles abstreifen und abschütteln.
Was sie loswerden möchten
hängt an ihnen wie bleierne Gewichte. Ihr Herz ist schwer. Der Blick
verdüstert. So schleppen sie sich dahin, reden miteinander, versuchen zu
enträtseln, zu verstehen, durchzublicken. Immerhin gehen die Jünger zu
zweit und reden miteinander über ihre Enttäuschungen, über das, was
geschehen ist.
Die Ereignisse
haben sich überschlagen am dritten Tag: das leere Grab, die Frauen,
denen Engel erschienen sind, ihre Botschaft, zwei Jünger daraufhin am
Grab. „Ihn selber aber sahen sie nicht!“ So viel
Bestürzendes, Rätselhaftes, Ungereimtes. Das Hin und Her der
Erinnerungen, das Drunter und Drüber der Ereignisse, es ist wie in einem
Irrgarten.
2. Der unerkannte
Wegbegleiter
Während die beiden
innerlich aufgewühlt, voll Not und Zweifel auf dem Weg sind, kommt Jesus
hinzu, schließt sich ihnen an und wandert verborgen und unerkannt mit.
Keine umwerfende Erscheinung, kein spektakulärer Auftritt. Was mich an
dieser Geschichte sehr fasziniert: Jesus ist mit auf dem Weg. Er
hört zu, fragt nach, fühlt sich in die beiden ein, spürt, wie
verschlossen sie sind. Sie sind wie mit Blindheit geschlagen; ihre Augen
sind gehalten. Sie erkennen ihn zunächst gar nicht.
„Was sind das für Reden?“
fragt scheinbar ahnungslos der Unbekannte. In Wirklichkeit holt Jesus
sie dort ab, wo sie stehen, bei dem, was sie so sehr beschäftigt und was
sie so niedergeschlagen und verdrossen sein lässt.
„Da blieben sie traurig
stehen.“ Es kommt zu einem
Innehalten.
Unfassbar ist ihnen, dass
es in Jerusalem jemanden geben könnte, der nicht wüsste und nicht
mitbekommen hätte, was dort alles vorgefallen ist und sich in den
letzten Tagen ereignet hat.
Jesus fragt sie: „Was denn?“
– Jesus sagt nicht: „Kommt vergesst’s! Denkt was anderes.“ Jesus
überspielt und verharmlost nicht, was die beiden traurig macht. Vielmehr
fordert seine Frage heraus, davon zu reden. So kommen sie zum Zug,
können auspacken, können abladen, können erzählen von dem, auf den sie
ihre ganze Hoffnung gesetzt hatten, können mitteilen, was er ihnen
bedeutete, wen sie in ihm sahen und was das für ein harter Schlag war,
sein Tod am Kreuz, was da alles für sie zerbrochen ist.
„Was denn?“ – Es ist tatsächlich, wie wenn es jetzt
aus ihnen herausbricht: „Das mit Jesus von Nazareth...“ Es
scheint, als hätten sie darauf gewartet, sich ihren ganzen Frust von der
Seele reden zu können. Und Jesus lässt sie reden. Er nimmt sich Zeit für
sie. Er hört zu, lässt sie ausreden. Alles, was schmerzt darf aus ihnen
heraus. Das allein tut schon gut.
Was die beiden sagen und
an Jesus weitergeben, ist wie eine Verkündigung. Ihre Worte sind ein
Teil der Heilsbotschaft der ersten Christen und der frühen Kirche, z. B.
des Petrus in der Apostelgeschichte. „Jesus von Nazareth, ein
Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und den Menschen. Doch die
Hohenpriester und Führer des Volkes haben ihn ausgeliefert, er wurde zum
Tod verurteilt und ans Kreuz geschlagen.“
Dies ist jedoch
erst die Hälfte der Heilsbotschaft der Urkirche: „ausgeliefert, verurteilt, gelitten, gekreuzigt, gestorben und
begraben.“ Das sind für die beiden Jünger die dramatischen
Ereignisse, das Schlimme, das passiert ist und wovon sie zutiefst
erschüttert sind. Die erste Hälfte der Heilsbotschaft
endet in der Tat hier, in Traurigkeit, in gekreuzigten Hoffnungen. Es ist
die dunkle, düstere Seite.
„Wir aber hatten gehofft.“
Jesus selbst muss
ihnen Ohren und Augen öffnen für die helle Seite, für die ganze
Wirklichkeit dessen, was in Jerusalem geschehen ist. Und da
beginnt ihr Herz zu brennen, wo er ihnen die Schrift auslegt. Es geht
eine Kraft und eine Wärme von ihm aus, ein verhaltenes Feuer und eine
tiefe Glut.
3. Christus begegnen im Wort
der Schrift
Mir fällt auf:
Trotz aller Enttäuschung und Entmutigung sind die beiden offen für
Gottes Wort, hören zu und lassen sich den Sinn erschließen. Und es
geht ihnen auf: zum Messias gehört das Leiden und Sterben als
Durchgang zur Herrlichkeit. „Musste nicht der Messias
all das erleiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?“
Für die Jünger und die
frühen Christen war die große Frage:
Wer als Gotteslästerer
verurteilt wie ein Verbrecher am Kreuz stirbt, kann das der Messias
sein? Ist das nicht ein Widerspruch?
„Wenn du Gottes Sohn
bist, dann steig herab vom Kreuz!“
Jesus versucht den
Jüngern zu einer neuen Sicht des widersprüchlichen Geschehens zu
verhelfen. Ein Schlüssel zum Verstehen ist die Schrift, d.h. die
Schriften des Ersten Testamentes. „Gemäß der Schrift“
Hier ist die
Schriftauslegung nur erwähnt. An anderen Stellen wird näher darauf
eingegangen. So in Lk 22: „An mir muss das Schriftwort erfüllt werden: „Er
ist unter die Frevler gerechnet worden.“ Ein Zitat aus Jesaja 53.
oder in der Apg 4, 11 das Wort aus Ps 118: „Er ist der Stein, der von
euch Bauleuten verworfen, zum Eckstein geworden ist.“
Solche
Schriftmeditation war für die ersten Christen ganz wichtig, um sich
selbst und auch anderen in der Weitergabe des Glaubens das
widersprüchliche Geschehen des Leidens Jesu und der Torheit bzw. des
Ärgernisses des Kreuzestodes zu deuten.
Das Kreuz war kein Unfall,
kein Schicksalsschlag. Jesu Tod war kein Irrtum der Heilsgeschichte,
sondern Folge eines geheimnisvollen göttlichen Ratschlusses.
Aber in der
Emmauserzählung wird deutlich: Die Schrift ist nicht
selbstverständlich. Von sich aus eröffnen ihre Aussagen nicht das
richtige Verständnis. Es braucht die Hinführung, die Auslegung, es
braucht die Meditation des Wortes Gottes. Hier ist es Jesus selbst, der
im Mitgehen mit den beiden ihnen durch sein Hinführen, Erklären und
Deuten den Sinn der Schrift erschließt, zu begreifen hilft und zum
Verstehen führt. „Begreift ihr denn nicht?“
Und Jesu Worte
legen sich wie Saatkörner in die fragenden und zagenden Herzen. Im
Gespräch mit ihm, im Hören auf ihn gehen ihnen neue Horizonte auf. Der
abgerissene Hoffnungsfaden wird wieder geknüpft. Die beiden, in denen
alles dunkel und abgestorben war, fangen Feuer. Es beginnt zu brennen in
ihren Herzen und Seelen. „Brannte uns nicht das Herz, als er unterwegs mit uns
redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?“ werden sie rückblickend auf dieses Schriftgespräch und
die Schriftauslegung durch Jesus sich fragen.
4. Christus begegnen beim
Brechen des Brotes, in der Gemeinschaft des Mahles
Der Weg ist lang,
bis es dämmert. Der Abend bricht an, noch nicht der Morgen. Der
Weggefährte, den die beiden gefunden haben, will die Reise fortsetzen.
Sie laden ihn ein, ja drängen, nötigen ihn, bei ihnen zu bleiben. „Bleibe doch bei
uns!“ Man kann’s nur allzu gut
verstehen. Der Abend ist mehr als eine Tageszeit. Die Dunkelheit
bricht herein. Wer die Nacht des Lebens kennt, wer erfahren hat, dass es
finster aussieht, wer weiß, dass die Zeit zu Ende geht, der ahnt, was
hier gemeint ist. Dann eingeladen zu sein ins Haus, an den Tisch – das
ist wie ein Geschenk des Himmels. „Da ging er mit ihnen
hinein, um bei ihnen zu bleiben.“
Und der Gast wird zum
Gastgeber. Er, der immer noch für sie Fremde nimmt das Brot, spricht den
Lobpreis und gibt es ihnen. Da fällt es ihnen wie Schuppen von den
Augen. Und sie erkennen ihn. Der Gekreuzigte lebt. Er ist wirklich
auferstanden. Gott hat zu ihm gehalten auch in seinem Sterben. Sein Tod
war nicht das Ende.
Was wie eine
beiläufige Begegnung begann, wird für die Jünger zur Erfahrung
beglückender Gemeinschaft. Jesus schenkt sich ihnen im gebrochenen Brot,
in der Gemeinschaft des Mahles. Welche Freude, welches Glück strömt da
in das Herz. Da wandelt sich im Namen Jesu nicht nur das Brot. Da
wandeln sich die müden Glieder und die schweren Herzen. „Noch in der gleichen
Stunde brachen sie auf...“
Was sich in der Auslegung
der Schrift andeutete, wird im Erleben des Mahles endgültig offenbar:
Jesus lebt und ist mitten unter den Jüngern gegenwärtig. Es fällt auf:
Die letzte Aufklärung wird nicht erreicht durch Erklärungen, sondern
durch ein Erlebnis: das Brechen des Brotes. Das Brotbrechen, das Teilen
des Lebens ist das Geschehen, in dem Jesus erkannt wird. Da gehen ihnen
die Augen auf und das Herz.
5. Rückkehr und Zeugnis
Haus, Tischgemeinschaft –
„Bleib doch bei uns!“ Da könnte man sich häuslich niederlassen.
Aber Emmaus ist nur eine Station auf dem Weg. Wenn man angesteckt ist
und wenn das Herz brennt, dann gibt es nichts Wichtigeres als
aufzubrechen. Nichts hält sie mehr in Emmaus. Es drängt sie, ihre
Erfahrungen den anderen in Jerusalem mitzuteilen. Die werden staunen!
So kehrt sich der Weg nach
Jerusalem zurück, zu dem Ort der zerstörten Hoffnung, von dem sie sich
abgewandt hatten, von dem sie Abstand gewinnen wollten. Sie eilen zu den
anderen.
Und was erleben
sie? – Der Ort, an dem ihre Hoffnungen
zerbrochen waren, wird ihnen zum Ort der Verheißung. Noch bevor sie
selbst bekennen und bezeugen können: „Jesus lebt. Wir sind ihm
begegnet“, klingt ihnen die Osterbotschaft bereits entgegen. „Der Herr ist
wirklich auferstanden!“
Die Freunde waren – wie
sie – erschreckt, deprimiert, hoffnungslos, voll Not und Zweifel. Mit
ihnen teilen sie jetzt die Freude über den, der lebt. Ein neuer, ein
österlicher Tag beginnt. Licht strahlt herein in ihr Dunkel und
vertreibt alle Angst und Finsternis.
Fast alle
Ostererzählungen, Erscheinungen und Begegnungen mit Jesus, dem
Auferstandenen enden mit einer Sendung, mit einem Bekenntnis, mit
Zeugnis, mit dem Weitersagen und Weitergeben der eigenen
Glaubenserfahrungen. Wovon das Herz voll ist, davon läuft der Mund
bekanntlich über. „Wir können unmöglich schweigen von dem, was wir
gesehen und gehört haben.“ (Apg 4, 20)
Und noch etwas: Die Emmausjünger
erkennen Jesus nicht an seiner Gestalt, als er sich zu ihnen gesellt.
Sie erkennen ihn auch noch nicht an seinem Wort, obwohl es ihnen da warm
wird ums Herz und ihnen vieles aufgeht und einleuchtet. Sie erkennen ihn
an seinem Tun, am Brechen des Brotes. – Ob es heute anders ist? Wird es
nicht auch heute die gelebte Praxis sein, das Handeln und Leben von uns
Christen, an dem die Menschen zum Glauben kommen?
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