Wir
sind zusammengekommen, um der Kriegstoten zu gedenken. 95 Jahre sind
seit dem Ende des ersten Weltkrieges vergangen und 68 Jahre seit dem
Ende des zweiten Weltkrieges.
Können
wir da noch trauern?
Es
heißt doch: „Zeit heilt Wunden“! Oder trauern nur diejenigen,
deren Lebensglück durch Krieg und Unrecht zerstört wurde? – Trauern nur
jene einzelnen, deren Wunden immer noch nicht vernarbt und deren Tränen
immer noch nicht versiegt sind? – Dürfen wir erwarten oder sollen wir
verlangen, dass auch die vielen, die nach 45 geboren sind und den Krieg
nur vom Hörensagen kennen, trauern?
Trauern wir? Wer von uns hier trauert wirklich?
Für
wie viele ist dieses Gedenken nur ein weiterer Termin, den man hinter
sich bringt, abhakt, wie manche andere Pflichtübung auch?
Ich
meine, es wäre schade, wenn das, was wir hier tun, nur lästige
Pflichtübung wäre. Wären wir dann nicht besser zu Hause geblieben?
Würden wir dann nicht viel ehrlicher und redlicher diese Veranstaltung
ausfallen lassen?
Vor
einigen Jahren machte ich mit einer Gruppe eine Wallfahrt nach Assisi.
An einem freien Nachmittag kam ich bei einer Wanderung zu einem
amerikanischen Soldatenfriedhof. Nachdenklich ging ich an den Gräbern
vorbei.
Mir
fiel auf, wie jung viele dieser Soldaten waren, als sie der Tod ereilte.
20 Jahre, 19 Jahre, 22 Jahre – so stand es auf den Kreuzen. Blutjung!
Jeder von ihnen hatte das Leben noch vor sich. Der Krieg hat ihnen die
Zukunft geraubt.
Und
wie viele Millionen Kriegsgräber in der Welt gibt es!
Können
wir uns das vor Augen stellen, wie es eigentlich dieser Volkstrauertag
von uns verlangt?
Geht
das nicht über unsere Vorstellungskraft?
Und
doch: Wie viel Schicksalhaftes, wie viel Tragik, wie viel zerbrochene
Hoffnung und Enttäuschung hinter jedem der Toten.
Jenes
Grab, in welchem der Sohn ruht, genügt einer Mutter zur Trauer. Jener
Brief, mit dem der Verlobte sich todesahnend verabschiedete, um nie mehr
wiederzukehren, genügt dem Mädchen, um Tränen zu vergießen. Jene eine
Nachricht, die lautet, der Ehemann sie auf dem „Feld der Ehre“
gefallen, hat im Leben der Frau eine Wunde hinterlassen, die nie mehr
ganz zu schmerzen aufhörte.
Apropos: „Feld der Ehre“!
Hüten
wir uns auch am Volkstrauertag vor falschem Pathos!
War es
ein „Feld der Ehre“, auf dem die Soldaten zerstümmelt wurden,
verbluteten, ihre Leiber zerfetzt wurden?
War
Stalingrad ein „Feld der Ehre“? War es nicht eine Wüste des
Wahnsinns?
Sind
die Erschossenen, Verbrannten, Gehängten, Vergasten, lebendig
Begrabenen, Erfrorenen und Verhungerten „ehrenvoll“ gestorben (es
soll ja „süß und ehrenvoll sein, fürs Vaterland zu sterben“)?
War
ihr Sterben nicht schmerzlich, schändlich, schmählich, scheußlich?
Ein
ganz anderes Wort, ein sehr bemerkenswertes, lautet:
„Die sich der Vergangenheit nicht erinnern, sind dazu verurteilt, sie
noch einmal zu erleben.“
Steckt
in diesem Ausspruch nicht der entscheidende Sinn auch für diese
Gedenkstunde?
Ich
meine, dieses Wort gibt unserem Tun auch nach Jahrzehnten Kriegsende
seine Berechtigung.
„Die sich der Vergangenheit nicht erinnern, sind dazu verurteilt, sie
noch einmal zu erleben.“
Das
Gedenken, der Blick nach rückwärts, kann den Blick nach vorwärts
schärfen. Wir müssen die Erinnerung wach halten, auch wenn es weh tut,
damit wir nicht wieder und vielleicht schlimmer in eine schreckliche
Barbarei versinken.
Wir dürfen nicht vergessen!
Um
nicht zu vergessen, ist es notwendig, dass wir gedenken.
Wir
dürfen nicht vergessen: die 65 Millionen Toten des letzten Krieges, die
an den Fronten fielen, und die, die in der Heimat im Bombenhagel unter
den Trümmern ihrer Häuser umkamen.
Aber
nicht nur die Schlachtfelder und Städte waren mit Blut und Tränen
durchtränkt. Die „Bestie Mensch“ tobte sich in Folterkammern und
Konzentrationslagern, in Massenerschießungen, Repressalien und
unmenschlichen Quälereien aus. Elend und Not nahmen apokalyptische
Ausmaße an. All dieser Opfer müssen wir gedenken.
Wir
dürfen auch die wegen ihres Glaubens, ihrer Volkszugehörigkeit oder
ihrer Überzeugung wegen Gefolterten und Ermordeten nicht vergessen.
Wir
dürfen die ihrer Heimat Vertriebenen nicht vergessen, die Opfer der
Vergeltung, der Rache und des Kreislaufs der Gewalt.
Gewiss, wir können nichts ungeschehen machen.
Wir
dürfen aber auch diese dunklen Zeiten nicht aus dem Bewusstsein
streichen.
Sie
gehören zu unserer Geschichte.
Noch
einmal:
Wir
müssen uns erinnern, wir müssen gedenken, auch wenn es schmerzt.
Wer
nämlich nicht bereit ist zu gedenken und sich zu erinnern, wer vor der
Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.
Wer
sich der Unmenschlichkeiten nicht erinnern will, der wird wieder
anfällig für neue Ansteckungsgefahren.
Und so
ist es gut und angebracht, heute nicht nur um die Millionen Toten zu
trauern, die wegen des Größenwahns Hitlers oder wegen der wahnsinnigen
Machtträume Stalins hingeschlachtet wurden. Es ist gut und angebracht,
auch darüber zu trauern, dass der Mensch solcher Widersinnigkeiten fähig
ist, auch heute.
-
Darum dürfen wir auch die nicht vergessen, die heute
in Kriegen umkommen. Es sind täglich ca. 40.000 Menschen. Wir müssen
sie in unser Gedenken hineinnehmen: die Toten in Syrien,
Afghanistan, im Irak und Iran, in Nordirland, Vietnam, Kambodscha,
in Sri Lanka, im Kongo und im Sudan und wo sonst auch immer.
-
Wir dürfen nicht übersehen, dass seit dem zweiten
Weltkrieg hunderte von Kriegen geführt wurden und werden, mit zig
Millionen Toten.
-
Wir dürfen auch die nicht vergessen, die hinter
Gefängnismauern und Irrenanstalten der verschiednen totalitären
Systeme von der ehemaligen DDR bis Chile, von Managua bis Peking und
Moskau ihrer Freiheit beraubt wurden und werden.
-
Wir dürfen die vielen nicht vergessen, deren
Menschenrechte auch heute noch mit Füßen getreten werden.
-
Wir dürfen auch die Opfer von Gewalt und
Terroranschlägen nicht vergessen.
-
Wir dürfen auch die über 200.000 Kinder nicht
vergessen, die Jahr für Jahr in unserem Land, einem der reichsten
der Erde, abgetrieben, im Mutterleib vernichtet werden. Ein Unrecht,
das zum Himmel schreit!
-
Menschliches Leben beginnt mit der Verschmelzung von
Ei- und Samenzelle und ist von diesem Moment an unbedingt
schutzwürdig. Unser aller Leben hat so begonnen. Einen abgestuften
Schutz des Embryos darf es nicht geben. Wir dürfen nicht urteilen in
wertes und unwertes Leben. Wir haben auch nicht darüber zu
entscheiden, was Leben lebenswert macht und was nicht. Das
beinhaltet auch ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik, ein
Verbot der vorgeburtlichen Selektion.
-
Wir dürfen auch die Menschen nicht vergessen, zu
denen es uns gelingt, Raketen und Waffen zu liefern, während dort
Reis, Brot und Medikamente fehlen. Ich habe gelesen, dass es pro
Kopf mehr Sprengstoff als Nahrungsmittel gibt. Das Waffenpotential
reicht aus, um die Welt gleich mehrfach zu vernichten. Und die
Rüstungsindustrie macht weiter beste Geschäfte, Riesengewinne,
anstatt in einer gemeinsamen, vermehrten Kraftanstrengung den Kampf
gegen Hunger und Krankheit von zwei Drittel Menschheit aufzunehmen.
Das zweite vatikanische Konzil hat schon vor circa 50 Jahren gesagt:
„Der Rüstungswettlauf ist eine der
schrecklichsten Wunden der Menschheit. Er schädigt unerträglich die
Armen.“
Heute,
am Volkstrauertag, können wir vor den Millionen von Kriegsopfern nur
bestehen, wenn wir willens und bereit sind, uns dafür einzusetzen, dass
Hass und Gewalt, Lügenpropaganda und Krieg bei uns keine Chance mehr
haben.
Hitler
hat stets damit gearbeitet, Feindbilder aufzubauen, Vorurteile und Hass
zu schüren. Lassen wir uns nicht wieder neu hineintreiben in Feindschaft
und Hass gegen andere Menschen, gegen Juden oder Türken, gegen Russen
oder Amerikaner, gegen Schwarze oder Weiße. Setzen wir alles daran,
zementierte Feindbilder aufzuweichen und Mauern des Misstrauens
abzutragen.
Lernen
wir aufeinander zuzugehen! Lernen wir miteinander zu leben, nicht
gegeneinander, dann hat der Volkstrauertag weiterhin Sinn, einen die
Erinnerung wach haltenden Sinn, einen mahnenden Sinn.
Der
Volkstrauertag mahnt zum Frieden. Die Toten mahnen uns zum Frieden.
Frieden ist möglich, wenn wir Menschen ihn wollen. Es ist an uns, alles
zu tun, ihn zu erhalten und zu fördern.
„Herr, lenke unsere Schritte auf den Weg des Friedens!“
|