Gewöhnlich sehen wir in Elisabeth eine
Heilige der Nächstenliebe, die viel Gutes tat, mildtätig war, ein Herz
für die Armen hatte, Kranke pflegte und sich der Schwachen annahm.
Bei der erneuten Beschäftigung mit dem
Leben dieser Heiligen ist mir – wie nie zuvor – aufgefallen, dass
Elisabeth eine ganz starke Persönlichkeit war, sehr eigenständig im
Denken und Handeln.
Mir ist deutlich geworden, wie diese Frau
immer wieder „gegen den Strom schwamm“, sehr spontan lebte,
couragiert und mutig auftrat, sehr unkonventionell und unbequem war für
ihre Umgebung und wie zielstrebig und ganz konsequent sie ihren Weg
ging.
Das fängt bereits in ihrer Kindheit an.
Die ungarische Prinzessin, die mit vier
Jahren auf die Wartburg kommt, verhält sich nicht ohne weiteres, wie es
am Königshof üblich ist. Elisabeth ist wild und ungebärdig. Sie tanzt
z.B. leidenschaftlich gern und liebt das Reiten mehr als höfisches und
zurückhaltendes Benehmen. Zur Verwunderung ihrer Umgebung pflegt sie
herzlichen Umgang mit Niedriggestellten. Manchmal hört sie mitten im
Spiel auf, um zu beten. Angesichts des dornengekrönten Heilandes am
Kreuz legt sie in der Kirche ihre Krone ab, sehr zum Missfallen der
Landgräfin Sophie, ihrer späteren Schwiegermutter, die für ihre
Erziehung zuständig ist.
Mit 14 Jahren heiratet Elisabeth den 6
Jahre älteren Landgrafen Ludwig. Eine politische Angelegenheit, wie
damals üblich.
Aber in diesem Fall ist es auch eine
Liebesheirat und die Ehe wird überaus glücklich. Elisabeth scheut sich
nicht, ihrer Liebe Ludwig gegenüber – gegen alle höfische Etikette –
spontan und zärtlich Ausdruck zu geben. So reitet sie z. B. ihrem
heimkehrenden Ehemann weit entgegen und begrüßt ihn stürmisch.
Bei aller Liebe zu ihrem Mann verliert
Elisabeth nicht ihre Selbständigkeit. Sie mutet Ludwig allerlei „Extratouren“ zu.
So z. B. wenn sie sich in mancher Nacht
von seiner Seite schleicht und sich im Schlafzimmer auf den kalten Boden
legt, um sich abzutöten. Oder wenn sie in seiner Abwesenheit ins Ehebett
einen Aussätzigen legt, um ihn dort zu pflegen. Als Ludwig zurückkommt,
meldet man ihm die Ungeheuerlichkeit. Die Legende erzählt, dass Ludwig
nachschaut und als er die Bettdecke aufschlägt findet er ein Kruzifix
mit dem gequälten Christus.
Das Glück von Elisabeth und Ludwig dauert
nicht lange, nur fünf Jahre. 1227 bricht Ludwig zum Kreuzzug auf.
Elisabeth ist 19 Jahre alt. Sie begleitet ihren Gatten zwei Tagesmärsche
weit bis zur Landesgrenze. Beim Abschied ist sie starr vor Schmerz. Ab
diesem Zeitpunkt trägt sie nur noch schwarze Witwenkleider. – Als Ludwig
fünf Monate später an einer Seuche in Süditalien stirbt, wagt man es
kaum, ihr die Todesnachricht mitzuteilen.
Elisabeth ist total geschockt, zutiefst
erschüttert, ganz verzweifelt. Sie reagiert heftig. Fassungslos irrt sie
durch die Gänge und Gemächer der Burg und klagt und schreit:
„Tot, tot, Herr Gott, nun ist mir alle
Welt tot.“
Schon als Kind empfindet Elisabeth den
tiefen Widerspruch zwischen dem reichen Leben oben auf der Burg und dem
Leben vieler Menschen unten in der Stadt. Oben ein Leben in Saus und
Braus. Unten haben sie kaum das Nötigste.
Elisabeth geht jeden Tag den Weg nach
unten. Sie bringt den Hungernden zu essen und den Armen Kleidung. Sie
pflegt die Kranken und steht Trauernden bei. Sie tröstet, richtet auf
und macht Mut.
Nicht nur das. Mehr und mehr geht ihr
auf, wie sehr sie es sich oben gut gehen lassen auf Kosten der Armen.
Die Feste, die der alte Landgraf feiert,
kosten ein irrsinniges Geld.
Das holt man sich bei den Bauern und
kleinen Leuten.
Immer höhere Steuern, immer mehr Abgaben.
Unterdrückung und Ausbeutung schreien zum
Himmel.
Elisabeth empfindet die Ungerechtigkeit.
Sie sieht den krassen Gegensatz zwischen arm und reich. Und sie
solidarisiert sich mit den Entrechteten. Sie protestiert – auf ihre
Weise.
Beim Essen fragt sie, laut und deutlich,
woher das Gemüse kommt, das Fleisch, der Wein. Wenn etwas aus
unrechtmäßigem Besitz stammt, nimmt sie keinen Bissen zu sich. Sie
streikt.
Lieber hungert sie. Sie ist darin
unerbittlich und konsequent.
Ein Protest ohne Wort, revolutionär und
unmissverständlich.
Ihre Umgebung regt sich auf. Der Hof ist
schockiert.
Argwohn, Hass, ja Feindschaft schlagen
ihr entgegen.
Elisabeth lässt sich nicht beirren.
Man muss sich das einmal vorstellen: Da
sitzt an einem der bedeutendsten Fürstenhöfen Deutschlands die „First
Lady“ schweigend am Tisch und rührt keine Speisen an.
Die Mägde durften sie nicht „Durchlaucht“ und „Herrin“ nennen. Sie mussten
„du“
sagen und „Elisabeth“, denn sie fühlte sich nicht über ihnen. Sie
stellte sich ihnen vielmehr gleich, aß mit ihnen – allen Konventionen
zum Trotz – aus einer Schüssel.
Nein, eine liebliche Heilige war
Elisabeth nicht.
Ganz schön herausfordernd und unbequem,
nicht wahr?
Immer wieder kommt es zu heftigen
Zusammenstößen mit der Hofgesellschaft. Im Hungerjahr 1225 – Ludwig ist
außer Landes – lässt sie die Vorratskammern der Burg öffnen, leert die
Getreidespeicher bis zum letzten Korn und verteilt – gegen den Willen
der Verwalter – mit vollen Händen. Sie verkauft ihre Juwelen und
kostbaren Kleider, um den Armen zu helfen.
Der vornehmen Hofgesellschaft passt so
manches am Verhalten Elisabeths schon lange nicht mehr.
Nach dem Tod ihres Mannes, ohne seinen
Schutz, kann sich Elisabeth nicht mehr auf der Wartburg halten. Man ist
nicht bereit, ihren eigenwilligen Lebensstil zu tolerieren. Die
unbequeme Frau stört das sorglose Leben.
Ihr Schwager, Heinrich Raspe, setzt sie
unter Druck. Er hält ihr Witwenerbe zurück. Es kommt zu einer heftigen
Auseinandersetzung zwischen beiden. Elisabeth weicht keinen Schritt
zurück.
Aber ihr wird klar: Jetzt habe ich zu
wählen zwischen dem Wohlleben auf der Burg und einem Leben nach den
Grundsätzen des Evangeliums.
Eine tiefe Christusliebe hatte sie schon
bisher erfüllt und in ihr die Liebe zur Einfachheit, zur Armut und zu
den Armen genährt. Kein Wunder, dass die Botschaft des Franziskus, des
Armen von Assisi bei ihr ein reines Echo fand.
Elisabeth wählt die Armut. Ein radikaler
Bruch mit ihrem bisherigen Leben.
An einem kalten Winterabend verlässt sie
mit ihren drei Kindern unbemerkt die Burg. Die erste Nacht verbringen
sie in einem leeren Schweinestall. Die Leute von Eisenach zeigen ihrer
einstigen Wohltäterin die kalte Schulter.
Doch Elisabeth ist, ob man’s glaubt oder
nicht, überglücklich.
Am Morgen geht sie zu den
Franziskanerbrüdern in Eisenach und bittet sie das „Tedeum“
anzustimmen.
Endlich hat sie die Lebensentscheidung
getroffen, die ihr schon immer vorschwebte. Nun fühlt sie sich frei. Nun
kann sie ungehindert dem Ideal des heiligen Franziskus folgen. Sie wird Franziskanerterziarin.
Elisabeth verlässt Eisenach und zieht
nach Marburg.
Ihre Kinder gibt sie in andere Hände, um
ihre standesgemäße Erziehung sicherzustellen.
Nur mit Mühe kann ihr Beichtvater sie
davon abhalten, ihr gesamtes Vermögen zu verschenken und von Tür zu Tür
betteln zu gehen.
In Marburg baut sie von ihrem Vermögen,
das ihr Schwager schließlich doch herausrücken musste, ein Hospital.
Für eine Frau damals etwas völlig
Außergewöhnliches.
Sie selbst dient darin als einfache
Schwester den Kranken. Besonders nimmt sie sich der Kranken an, die
niemand pflegen will: der Aussätzigen.
Krankheit hieß damals: Armut, Gestank,
Schmutz, Eiter, offene Wunden.
Elisabeth verrichtet die ekeligsten und
dreckigsten Arbeiten, die sonst niemand tun will. Gerade da, wo sich
alle voll Abscheu abwenden, packt sie zu.
Nach kurzer Krankheit stirbt Elisabeth 24
Jahre alt.
Schon vier Jahre später wird sie
heiliggesprochen.
Eine junge Frau, die die Botschaft Jesu
ganz konsequent umgesetzt und das Ideal des heiligen Franziskus – wie kaum
jemand sonst – radikal verwirklicht und zum Leuchten gebracht hat.
Zeitgenössische Berichte erwähnen immer
wieder ihre innere Heiterkeit. Sie vermochte alles Leid zu tragen, weil
sie im Glauben wunderbare Stärkung erfuhr. Ihre Kraft kam von oben.
In einer Vision sagt Christus zu ihr:
„Wenn du bei mir sein willst, so will ich
bei dir sein.“
Wie auch immer der Herr sie ansprach –
durch das Glück der Ehe, das eigene Leid und die Not der Armen oder ihre
mystischen Erfahrungen: sie vernahm den Anruf und folgte ihm, wohin sie
auch geführt wurde.
In meinen Augen ist Elisabeth von
Thüringen eine der größten deutschen Heiligen, eine faszinierende
Persönlichkeit.
Auch nach fast 800 Jahren geht eine große
Ausstrahlungskraft von ihr aus. Ihr Leben hat meines Erachtens nichts an
Aktualität eingebüßt.
Die Frage ist: Wie würde Elisabeth heute
leben? Wo würde sie stehen? Wofür sich stark machen?
Eines ist sicher: Sie hätte uns auch
heute noch ganz viel zu sagen. Sie würde uns alle ganz schön
provozieren. Möglicherweise würde uns ganz unbehaglich zumute.
Heilige, auch unsere Ordensheiligen, sind
nicht nur dazu da, dass wir stolz sind auf sie und mit Dank und Freude
ihre Feste feiern.
Heilige sind dazu da, um uns aufzuwecken,
aufzurütteln, uns heilsam unruhig zu machen, dass wir uns besinnen, dass
wir umsinnen, umdenken, dass wir uns herausrufen lassen aus eingefahren,
bequemen, verkehrten Lebensweisen.
Heilige, und heute Elisabeth, wollen uns
anstecken mit ihrem Geist, uns entzünden mit ihrem Beispiel, dass wir
wie sie, ebenso bewusst und ebenso entschieden wie sie, uns auf die
Zumutungen des Evangeliums einlassen, dass wir uns – wie sie – dem
Wagnis der Liebe aussetzen und – so konsequent wie möglich – Jesus
folgen auf seinem Weg.
Fast 800 Jahre trennen uns von Elisabeth.
Und dennoch leuchtet ihr Leben in unsere Zeit und weist uns den
Weg. |