Auf
drei Antworten, die der christliche Glaube uns gibt, möchte ich ein
wenig näher eingehen:
1.
Geschöpf Gottes
Familiengottesdienst am Sonntagmorgen. Thema: „Dankbarkeit“.
Während des Gottesdienstes geht die Gemeindereferentin mit dem Mikro zu
den Kindern und fragt sie, wofür sie dankbar sind. „Papa, Mama“ wird
genannt, „Oma und Opa“, „Freunde“, aber auch „MP3-Player“ und das
„Handy“.
Dann
fragt die Gemeindereferentin: „Und wofür seid ihr Gott dankbar?“
Kurze Stille. Dann meldet sich ein Junge und sagt laut und vernehmlich
ins Mikro: „Dass er mich erfunden hat!“
Ein
Schmunzeln geht durch die Reihen. Und zugleich stockt allen der Atem. Da
sagt ein Zehnjähriger doch tatsächlich:
„Ich bin Gott dankbar, dass er mich erfunden hat!“
Ich
finde das wunderbar. Gott hat mich erfunden.
Ich
bin, jeder von uns ist eine Erfindung Gottes.
Und
das stimmt. Niemand von uns hat sich selbst geschaffen.
Unser
Leben ist ein Geschenk, eine Gabe Gottes.
Gott
hat uns ins Dasein gerufen, ja, ins Dasein geliebt.
Ihm
verdanken wir unser Leben. Er ist unser Schöpfer.
Jede
von uns ist ein Abbild Gottes, jeder sein geliebtes Ebenbild.
In
einem Lied heißt es:
„Vergiss es nie, dass du lebst, war keine eigne Idee und dass du atmest,
kein Entschluss von dir. Vergiss es nie, dass du lebst, war eines
anderen Idee, und dass du atmest, sein Geschenk an dich. Du bist
gewollt, kein Kind des Zufalls, keine Laune der Natur, ganz egal, ob du
dein Lebenslied in Moll singst oder Dur.“
Das Wort des Propheten Jeremia
darf jede, jeder auf sich hin hören: „Noch ehe ich dich im
Mutterschoß formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem
Mutterschoß hervorkamst habe ich dich geheiligt.“ (Jer 1, 4).
Wir
sind, jeder von uns ist nicht nur allgemein ins Dasein geworfen, sondern
ich bin in mein Dasein gerufen.
Beim Propheten Jesaja heißt es:
„Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.“
Jeder
Mensch ist einmalig und unersetzbar. Niemand kommt zweimal vor. Niemand
hat meine Stimme, Niemand hat meinen Fingerabdruck. Ich bin ich.
Nirgendwo gibt es jemanden, der genauso ist wie ich. Ich bin, jeder ist
ein Original, keine Kopie, kein Serienprodukt.
Die
Annahme der Individualität, die sehr verbunden ist mit unserer
Leiblichkeit und Lebensgeschichte, ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg
zur Identitätsfindung und zur Vollendung unserer Menschwerdung.
Mich hat tief berührt, als ich vor vielen Jahren zum ersten Mal hörte,
dass das letzte Wort der heiligen Klara vor ihrem Tod folgendes war:
„Herr, sei gepriesen, weil du mich erschaffen hast!“
Welch
eine Zustimmung zum Leben, zum Menschsein!
Lebensbejahung pur! Obwohl dieses Leben frei gewählte strenge Armut und
Mühsal umfasste und trotz jahrelanger (28 Jahre) schwerer Krankheit!
2. Kind Gottes, Sohn, Tochter Gottes!
In der
Taufe wurde uns die Gotteskindschaft geschenkt.
Das
„Kind der Erde“, als das ich auf die Welt kam, wurde zum „Kind
Gottes“.
Und so
wie der Vater bei der Taufe zu Jesus sagt: „Das ist mein geliebter
Sohn!“, so sagt er zu einem jeden von uns:
Du
bist mein geliebter Sohn, meine geliebte Tochter!
Und so
wie das Bewusstsein, der geliebte Sohn des Vaters zu sein, ganz und
unbedingt angenommen zu sein, Jesus ganz tief zu eigen war und sein
Lebensgefühl und sein Selbstbewusstsein ausgemacht hat, so soll dieses
Bewusstsein auch uns ganz durchdringen und erfüllen, das Bewusstsein,
Kind Gottes, Sohn und Tochter Gottes zu sein.
Gott
begleitet mich, wie einsam mir mein Weg auch immer vorkommen mag. Er
sagt „Ja“ zu mir, wenn auch Menschen mich ablehnen. Wer ich auch immer
sein mag, in mir lebt die Würde und Lebensmacht der Gotteskindschaft.
Ich bin von Gott geliebt.
Dieses
Bewusstsein darf und soll mich immer mehr durchdringen und erfüllen. Es
kann mich froh und stark und dankbar machen. In diesem Bewusstsein,
geliebtes Kind des himmlischen Vaters zu sein, Sohn und Tochter Gottes,
in diesem Bewusstsein darf ich und darf jeder Glaubende den Kopf hoch
tragen.
„Ihr seid von Gott geliebt, seid seine auserwählten
Heiligen“,
schreibt der Apostel Paulus den Christen in Kolossä.
Und: „Ihr seid in Gottes Gnade“ (vgl. Kol
3, 12.16)
„Wir heißen nicht nur Kinder Gottes, wir sind es!“
Auch
wenn wir schon ältere Kinder sind und schon graue Haare haben, auch wenn
wir nicht immer ganz gut und anständig waren, auch wenn wir uns
vielleicht gar nicht so viel um Gott gekümmert haben und viele Fehler in
unserem Leben gemacht und manche Dummheit und Torheit begangen haben:
„Wir heißen Kinder Gottes und sind es!“
Ich
finde, es ist etwas ganz Großes und Schönes, sich in allen Wechselfällen
des Lebens angenommen zu wissen, sich von Ewigkeit her und mit einer
ewigen Liebe geliebt zu wissen, einer Liebe, die unermesslich und
unerschöpflich ist.
Beim Propheten Jesaja (49, 15) sagt Gott:
„Kann denn eine Frau ihr Kindlein vergessen, eine Mutter ihren
leiblichen Sohn? Und selbst wenn sie ihn vergessen würde: Ich vergesse
dich nicht – Spruch des Herrn.“
3.
Wohnort Gottes, Tempel des Heiligen Geistes.
Es
gibt ein wunderschönes und sehr tiefsinniges Wort im Johannesevangelium,
das mir viel bedeutet und das mich seit Jahren begleitet. Es ist ein
Wort aus den Abschiedsreden Jesu:
„Wenn jemand mich liebt, wird er an meinem Wort festhalten. Mein Vater
wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.“
Wir, jede und jeder von uns, Wohnung Gottes!
Gott wohnt in uns.
Ein
nie ganz zu fassendes und auszulotendes Geheimnis.
Der Apostel Paulus
spricht an verschiedenen Stellen seiner Briefe von diesem Innewohnen
Gottes. Die Gemeindemitglieder von Korinth fragt er:
„Wisst ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid und
dass Gottes Geist in euch wohnt?“
Paulus
erinnert die Christen von Korinth an das, was sie zutiefst sind: Tempel
Gottes, Wohnung des heiligen Geistes.
Das
ist ihre Berufung. Das ist ihre Identität. Das ist ihre Würde.
Wir sind der Tempel Gottes. In uns wohnt Gottes Geist.
Das
ist auch unsere Berufung. Das ist unsere Identität. Das ist unsere Würde
als Getaufte. – Das sollen wir immer bedenken und nie vergessen. Wir
sehen es oft nicht oder viel zu wenig.
Auch bei den großen Heiligen, und besonders bei den Mystikern, finden
wir die Aussage: Gott wohnt in uns.
Meister Eckhard sagt z.B.:
„Ich bin des so gewiss wie ich lebe, dass
nichts mir so nahe ist wie Gott.“
Bei
Augustinus findet sich das Wort:
„Gott ist uns näher als wir uns selbst.“
Edith Stein
greift dieses augustinische Wort auf und formuliert in einem ihrer
Gebete: „Du, näher mir als ich mir selbst und
innerer als mein Innerstes, göttliches Licht, heiliger Geist, ewige
Liebe.“
Angelus Silesius
hat in seinem Cherubinischen Wandersmann den Vers:
„Halt an! Wo läufst du hin? Der Himmel ist in dir! Suchst
du Gott anderswo, du fehlst ihn für und für.“
Der
Himmel ist in dir! Gott ist in dir! Suche Gott in dir!
In
einem Gedicht von Theresa von Avila spricht Gott:
„Wenn dein Sehnen mich nicht findet, dann such nicht dort und such nicht
hier; gedenk, was dich im Tiefsten bindet, und, Seele, suche Mich in
dir.
Du
bist mein Haus und meine Bleibe, bist meine Heimat für und für.
Ich
klopfe stets an deine Tür, dass dich kein Trachten von Mir treibe.
Und
meinst du, Ich sei fern von hier, dann ruf Mich und du wirst erfassen,
das Ich dich keinen Schritt verlassen: und, Seele, suche Mich in dir.“
Gott sagt zum Menschen:
„Du bist mein Haus und meine Bleibe, bist meine Heimat für uns für.“
Und:
„Suche mich in dir!“
Gott
ist ganz nahe. Er ist uns wirklich näher als wir uns selbst.
„In ihm leben wir, in ihm bewegen wir uns und sind wir“,
sagt Paulus den Athenern auf dem Areopag.
Als die heilige Katharina von Siena in ihrer Not klagt:
„Mein Gott, wo warst du, als mein Herz in
Finsternis und Tränen war?“
Da hörte sie die Antwort: „Meine Tochter, hast
du nicht gespürt: Ich war in deinem Herzen.“
Henri Nouwen,
ein großer geistlicher Schriftsteller unserer Tage, erzählt in einem
Buch, wie er sieben Monate lang zu Gast war in einem amerikanischen
Trappistenkloster.
Zu
Beginn dieser Zeit, in der er ganz mit den Mönchen leben wollte, bat er
den Abt um ein Meditationswort.
Der Abt sagte ihm: „Meditieren Sie diese Zeit
hindurch das Wort: ICH BIN DIE HERRLICHKEIT GOTTES.“
Und
der Abt fügte hinzu: „Sie sind der Ort, den Gott sich zur Wohnung
erwählt hat. Und das geistliche Leben besteht in nicht mehr und nicht
weniger als in dem Versuch, ihm den Raum zu schaffen, in welchem sich
seine Herrlichkeit offenbaren kann.“
Ja, wenn wir das glauben könnten:
„ICH BIN DIE HERRLICHKEIT GOTTES.“
In mir
wohnt die Herrlichkeit des dreifaltigen Gottes.
Das
wäre beseligend. Das würde alle Angst vertreiben.
Das
könnte uns aus aller Enge heraus in die Weite führen.
Bei
Johannes Tauler findet sich das Wort:
„Wer sehen könnte, wie im Seelengrund Gott wohnt, den würde dieses
Gesicht selig machen.“
Allerdings, Tempel Gottes bin nicht nur ich. Auch der neben mir, der
Bruder, die Schwester, ist Tempel Gottes. Auch in ihm wohnt Gottes
Geist. Auch sie ist Wohnort Gottes, auch diejenige, die mich nervt; auch
der, den ich nicht so gut leiden kann.
Von Martin Buber stammt das Wort:
„Es gibt nur eine Sünde:
zu vergessen, dass jeder Mensch ein
Königskind ist.“
Therese von Lisieux bekennt:
„Ohne Jesus jeden Menschen lieben wollen, ist für mich so unmöglich wie
die Sonne in der Nacht scheinen zu lassen…
Aber je mehr ich mit Jesus in mir verbunden bin, desto mehr kann ich
alle meine Schwestern lieben!“
Vergessen wir nicht:
Es ist
Liebe zu Gott, wenn wir die Schwester, den Bruder lieben.
Was
ergibt sich aus all dem, wenn wir es bedenken und Folgerungen daraus
ziehen?
Ein
letzter, aber ganz entscheidender Gedankengang:
-
Geschöpf Gottes sein, Abbild und Ebenbild Gottes,
-
Kind Gottes sein, Sohn und Tochter Gottes,
-
Wohnort Gottes sein, Tempel des Heiligen Geistes,
all
das bedeutet zutiefst von Gott gewollt, bejaht, geliebt und angenommen
sein.
Dieses
Bewusstsein, gewollt, geliebt, bejaht und angenommen zu sein, kann uns
helfen, es kann sozusagen das Fundament bilden, die Voraussetzung, um
uns selbst anzunehmen, zu bejahen und zu lieben.
4.
Selbstannahme und Selbstachtung
Sich
selbst annehmen, zu sich selbst ja sagen, fällt vielen Menschen schwer.
Es ist auch gar nicht so einfach, wie es aussieht oder sich anhört. Es
ist eine Kunst. Und da ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Man
lernt es auch nicht von heute auf morgen. Es ist eine lebenslange
Aufgabe.
In
prägnanter und nahezu meisterhafter Weise hat Heinz Zahrnt, ein
evangelischer Theologe, die einzelnen Lernschritte, die jeder Mensch im
Laufe seines Lebens gehen muss, in folgende Sätze gefasst:
-
Sich selbst
annehmen heißt, ja zu sich sagen, obwohl man so ist, wie man ist und
wie man selbst gar nicht sein möchte – und jeder von uns weiß ja,
wie er ist.
-
Sich selbst
annehmen heißt, seiner eigenen Herkunft und Jugend zustimmen und
damit seinen heimlichen Wünschen oder Ressentiments entsagen.
-
Sich selbst
annehmen heißt, sein Versagen eingestehen und damit herabsteigen von
dem selbst gezimmerten moralischen Podest.
-
Sich selbst
annehmen heißt, seine eigene Körpergestalt und seine
Charaktereigenschaften ertragen und damit das Idealbild aufgeben,
das man sich selbst von sich entworfen hat oder das andere einem
vorgaukeln.
-
Sich selbst
annehmen heißt, die Grenzen seiner Begabung anerkennen und damit
Abschied nehmen von der erträumten Karriere.
-
Sich selbst
annehmen heißt, mit seiner Krankheit leben und damit auf den weiten
Lebensraum verzichten.
-
Sich selbst
annehmen heißt, in das Altern einstimmen und sich damit auf den
Auszug aus dem Kreis der Lebenden vorbereiten.
-
Sich selbst
annehmen heißt aber auch schlicht und einfach, morgens vor dem
Spiegel sich nicht hassen, sondern sich selbst lieben trotz des
unsympathischen Gesichts, das einem da wieder entgegenschaut.
Ein
Satz von C. G. Jung verdient es, dass man ihn öfters wiederholt, ihn oft
bedenkt und sich einprägt: „Man kann nichts ändern, was man nicht
annimmt.“ Anders ausgedrückt: Nur das vermag sich zu wandeln, was
man angenommen hat.
Therese von Lisieux hat in ihr Tagebuch geschrieben:
„Lieber Gott, lass mich dich preisen mit dem Gesicht, das
du mir gegeben hast!“
– Wieviel Reife steckt in diesem Satz!
Therese von Lisieux starb im Alter von 24 Jahren an Tuberkulose. Sie
hatte begriffen, dass ein erlöstes Leben nicht darin besteht, dass wir
so werden, wie die anderen sind, sondern dass wir der/die werden,
der/die wir sein können.
„Lieber Gott, lass mich dich preisen mit dem Gesicht, das du mir gegeben
hast!“
Derselbe Gedanke findet sich in einer chassidischen Erzählung von Rabbi
Sussja. Dieser pflegte seine Lehrmeinung über das Leben mit folgendem
Satz zu erklären:
„Wenn ich einmal im Jenseits ankomme, wird man mich nicht fragen: Warum
bist du nicht Moses gewesen? Man wird fragen: Warum bist du nicht Sussja
gewesen? Warum warst du immer bloß mehr oder weniger dies, mehr oder
weniger das, nur nicht, was dir bestimmt war: Sussja zu sein? Bloß
Sussja – aber das ganz!“
Ein
Grundproblem für viele Menschen heute ist der Verlust des Selbstwertes.
Ich bin nichts wert! Wer bin ich schon? Was tauge ich schon? Und in
Folge des mangelnden oder fehlenden Selbstwertes ist es dann auch mit
der Selbstachtung so eine Sache. Auch die steht dann oft auf schwachen
und wackeligen Beinen.
Eigentlich verleiht uns der christliche Glaube ein anderes Bewusstsein:
Ich bin wertvoll. Ich bin geliebt. Ich bin im Göttlichen geborgen.
Tiefer kann ich nicht fallen als auf den göttlichen Grund, aus dem ich
lebe.
Der
christliche Glaube kann uns helfen, uns neu sehen zu lernen.
Ein
Gebet von Sabine Naegeli bringt es schön zum Ausdruck:
Ich
bin wert,
auch wenn ich vieles an mir entdecke,
das
mich entmutigt und bekümmert.
Ich
bin wert,
auch wenn ich schuldig geworden bin
und
es mir schwer fällt, mir zu verzeihen.
Ich
bin wert,
auch wenn ich nichts vorzuweisen habe,
das
mir Beachtung und Anerkennung einbrächte,
wenn meine Kräfte gering sind
und
ich mir nur wenig zutrauen kann.
Ich
bin wert,
auch wenn es Menschen gibt, die mich ablehnen,
und
Ansprüche auf mich zukommen,
die
ich nicht zu erfüllen vermag.
Ich
bin wert,
auch wenn ich wenig Liebe empfangen kann,
wenn andere es mir schwer gemacht,
wenn sie mir Unrecht getan
und
mich zurückgestoßen haben.
Ich
bin wert,
weil ich von Dir gewollt und bejaht bin,
Herr, du mein Gott.
Du
nimmst mich in Schutz
vor
anderen Menschen und vor mir selber.
Dass ich wert bin in deinen Augen,
übersteigt mein Fühlen und Begreifen.
Aber deine Zusagen sind verlässlicher
als
meine unbeständigen Gefühle.
Und
wenn es auch ein langer Weg sein mag,
bis
ich mich neu sehen lerne, so weiß ich doch:
Du
hast ungezählte Möglichkeiten,
mir
Anteil zu schenken an Deinen guten Gedanken
über mich. |