Zu den
beliebtesten Sendungen des deutschen Fernsehens gehörte vor vielen
Jahren Robert Lemkes „Heiteres Berufe raten“. Ein mehrköpfiges
Rateteam – bekannt sind vielleicht noch Marianne Koch, Hans Sachs,
Anette von Aretin und Guido Baumann – sollten nach einer typischen
Handbewegung herausbekommen, welchen Beruf der jeweilige Kandidat hatte.
Am Ende stellte sich der Betreffende vor und gab Auskunft über seinen
Beruf. So beantwortete er die Frage: WAS BIN ICH?
Damit
beantwortete er – zumindest teilweise – auch die Frage:
„Wer bin ich?“
Noch stärker ging es um diese Frage „Wer bin ich“, wenn als
letzter Kandidat ein Prominenter erraten werden sollte.
Stellen wir uns einmal vor, jeder von uns müsste diese Frage „Wer bin
ich“ möglichst präzise beantworten, aber nicht vor einem großen
Publikum, sondern vor sich selber. Was würde ich sagen?
„WER
BIN ICH?“
Ich
könnte meinen Namen nennen, vielleicht auch noch von wem ich abstamme,
den Namen der Eltern, bei Frauen auch den Mädchennamen. Weiter könnte
ich den Wohnort nennen, den Geburtsort, die Körpergröße, Augenfarbe,
Blutgruppe, Beruf, Hobbys, Lieblingsspeisen, Lieblingsfarben,
Lieblingsgerüche, Gewohnheiten, was mich freut, worunter ich leide, was
ich gut kann, was weniger gut, Stärken, Schwächen usw.
All
diese Dinge geben Auskunft über mich.
Ich
könnte auch meinen Pass zeigen.
Da
steht auch einiges darüber, wer ich bin.
Vielleicht steht da auch: Besondere Kennzeichen: Keine.
Das
steht in vielen Pässen. Schlimm, wenn es stimmt!
Da
steht auch eine Nummer. Aber ich bin nicht die Nummer.
„WER
BIN ICH?“
Ich
könnte zu meiner Person eine Art Lebenslauf hinzufügen: Werdegang,
Ausbildung, Zeugnisse, Urkunden.
Ich
könnte meine Lebensgeschichte erzählen, vielleicht auch meine
Glaubensgeschichte.
Hätte
ich dann schon wirklich vollständig gesagt, wer ich bin?
„WER
BIN ICH?“
Das
ist eine Frage, die sich jeder Mensch stellt, besonders der junge Mensch
in der Pubertät. Aber es ist eine Frage, die sich durch unser ganzes
Leben zieht.
„WER
BIN ICH?“
Wir
können eine ganze Menge über uns selber sagen.
Aber
reicht das aus? Ist das alles?
Bleibt
das alles nicht doch irgendwie an der Oberfläche?
Außerdem, wer kennt sich schon selber ganz genau?
Die
Aufforderung lautet wohl: „Erkenne dich selbst!“
Aber
kein Spiegel zeigt mein wahres Gesicht.
Ich
kann mich in mir täuschen. Ich kann mir selber etwas in die Tasche
lügen. Meine Selbsteinschätzung kann danebenliegen. Das Bild, das ich
selbst von mir habe oder mir mache, kann verzerrt sein oder sogar
schlichtweg falsch.
Die
Frage „Wer bin ich?“ nur an mich selbst gestellt, bleibt
wahrscheinlich immer unvollständig und unbefriedigend.
Wir
brauchen das Du.
„Der Mensch wird am Du zum Ich“,
sagt Martin Buber.
Wir
leben in Beziehungen, engeren und lockeren.
Es
sind auch immer die anderen, die dazu beitragen, mich selbst zu
erkennen.
Die
Reaktion der anderen in Begegnung, Gespräch und Austausch, Verstehen und
Anvertrauen, können mir viel über mich selbst offenbaren.
Ebenso
führt Feedback, Rückspiegelung zur Selbsterkenntnis,
sei es
als Kritik, die einer behutsam anbringt, wenn er mir die Wahrheit in
Liebe sagt und nicht wie einen nassen Lappen ums Gesicht haut, oder
als Lob, das mich bestätigt, das mir Mut macht und mir zeigt, was in mir
steckt.
Wenn
niemand da wäre, der mich hört und sich für mich interessiert, wenn ich
niemanden hätte, für den ich ein „jemand“ sein darf, ein Du, dann
wäre ich im Grunde und letztlich „niemand“.
Denn
ich bin in der Tat „niemand“, wenn mich niemand ansieht, wenn
mich niemand bejaht und anhört, wenn kein Mensch mich anspricht und
versteht.
Jeder
Mensch empfindet tiefen Schmerz, wenn niemand für ihn da ist, und wenn
auch er für niemand da sein kann.
Ich
werde mir erst richtig bewusst und erhalt meinen Wert durch ein DU.
Schrecklich klingt darum das Wort des Kranken am Teich von Bethesda:
„Ich habe keinen Menschen“ (vgl. Joh 5, 7).
Niemand kümmert sich um mich, kein Mensch. Niemand interessiert sich für
mich. Niemand mag mich. Ich bin überflüssig.
Jedenfalls, eines ist klar: Wir können anderen Menschen überhaupt nicht
begegnen, ohne dass uns Eindrücke über uns selbst zukommen.
„WER
BIN ICH?“
Das
erfahren wir ganz besonders in einer echten und guten Kameradschaft, in
einer wahren Freundschaft und besonders in der Geborgenheit der Liebe.
Denn da brauchen wir am wenigstens Mauern aufbauen, Stacheln stellen und
Masken aufzusetzen, um uns zu schützen, da können wir am ehesten offen
und ehrlich sein.
„WER
BIN ICH?“
Darauf
können die anderen viel sagen.
Aber
auch hier die Frage: Reicht das aus?
Bleiben da nicht doch noch dunkle Flecken, Ungewissheiten und
Unsicherheiten?
Es
kommt ja gar nicht so selten vor – und jedem von uns ist es
wahrscheinlich schon so ergangen – dass das Bild, das andere von uns
haben, erheblich von dem Bild abweicht, das wir selbst von uns haben.
Es
kann sein, das man mir ein schäbiges Motiv unterschiebt, wo ich es ganz
ehrlich gemeint habe. Dann denke ich: So bin ich gar nicht. Die machen
sich ein ganz falsches Bild von mir.
Andererseits, das gibt es auch, wenn ich mich aus irgendwelchen Gründen
als edlen, selbstlosen Charakter aufgespielt habe, fällt meine Umgebung
darauf herein und zollt mir Anerkennung.
Dann
sage ich im stillen Kämmerlein zu mir selbst:
„Wenn die wüssten! In Wahrheit bin ich ganz anders.
Ich
entspreche nicht dem Bild, das die anderen von mir haben.“
Christa Weiß schreibt:
„Seit Jahren schon laufe ich mit einer Maske umher. Sie ist mein zweites
Gesicht geworden. Ich habe gelernt, wie man es macht, seine Schwächen
zuzudecken und die Gefühle zu verbergen. Ich lächle verbindlich, aber
mein Lachen ist nicht echt. Ich lege Sicherheit an den Tag, aber in
Wirklichkeit spiele ich Theater. Ich tue so, als fiele mir alles in den
Schoß, als irrte ich niemals, als hätte ich weder Sehnsucht noch
Heimweh. Warum bin ich nicht so, wie ich wirklich bin? Wenn ich allein
und für mich bin, fällt mir die Maske vom Gesicht. – Wenn dann einer
käme und sagte: Ich mag dich trotzdem. Ich will dich so, wie du bist.
Ich brauche dich…“
„Wenn dann einer käme und sagte: Ich mag dich trotzdem. Ich will dich
so, wie du bist. Ich brauche dich…“
Ich
glaube, das tut Gott. Er sagt: Ich mag dich trotzdem.
Ich
will dich so, wie du bist.
Heilsam und wohltuend ist es natürlich auch, wenn uns dieses
Angenommensein auch von lieben Menschen zukommt, wenn ich es wenigstens
von dem einen oder anderen erfahren darf. Das ist ganz viel wert. Das
gibt Halt. Das lässt uns leben.
Bei
Antony de Mello fand ich folgende Kurzgeschichte:
„Jahrelang war ich neurotisch. Ich war ängstlich und depressiv und
selbstsüchtig. Und jeder sagte mir immer wieder, wie neurotisch ich sei.
– Und sie waren mir zuwider. Und ich pflichtete ihnen doch bei. Und ich
wollte mich ändern, aber ich brachte es nicht fertig, so sehr ich mich
auch bemühte.
Was
mich am meisten schmerzte, war, dass mein bester Freund mir auch immer
wieder sagte, wie neurotisch ich sei. Auch er wiederholte immer wieder,
ich sollte mich ändern. – Und auch ihm pflichtete ich bei. Aber zuwider
wurde er mir nicht. Das brachte ich nicht fertig. Ich fühlte mich so
machtlos und gefangen.
Dann sagte er mir eines Tages: Ändere dich
nicht! Bleib, wie du bist! Es ist wirklich nicht wichtig, ob du dich
änderst oder nicht. Ich liebe dich so, wie du bist. So ist das nun
einmal.
Diese Worte klangen wie Musik in meinen Ohren:
Ändere dich nicht, ändere dich nicht… Ich liebe dich.
Und
ich entspannte mich. Und ich wurde lebendig.
Und
Wunder über Wunder: Ich änderte mich!
Jetzt
weiß ich, dass ich mich nicht wirklich ändern konnte, bis ich jemand
fand, der mich liebte, ob ich mich nun änderte oder nicht.“
Am
Schluss dieser Geschichte hat A. d. Mello die Frage:
„Liebst du mich auf diese Weise, Gott?“
Ich
sage: Auf jeden Fall! Ganz sicher! So liebt Gott.
Seine
Liebe ist nicht – wie bei uns oft – an Voraussetzungen geknüpft und
hängt nicht von Umständen ab. Gottes Liebe ist bedingungslos.
„WER
BIN ICH?“
Keinen
haben die Maler so oft gemalt wie sich selbst.
Nicht
zu zählen, wie oft die Frage „Wer bin ich?“ in der Literatur
vorkommt: von Sophokles bis Max Frisch.
Und
wenn man die Geschichte der Philosophie durchgeht, dann ist das die
Geschichte des Menschen, der fragt und wissen will, wer er ist: von
Platon bis Ernst Bloch, von Augustinus bis Camus.
In der
Zelle eines Gestapogefängnisses hat der evangelische Theologe Dietrich
Bonhoeffer am 16.07.1944 ein Gedicht mit der Überschrift „Wer bin
ich?“ geschrieben. Der Freiheit beraubt, dauernder Demütigung
ausgesetzt, ohne Rechte und in völliger Ungewissheit über seine Zukunft
war er radikal auf sich selbst zurückgeworfen. Aufzeichnungen belegen,
wie sehr er sich in dieser Zeit mit Selbstzweifeln quälte:
WER
BIN ICH?
Wer
bin ich? Sie sagen mir oft,
ich
träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie
ein Gutsherr aus seinem Schloss.
Wer
bin ich? Sie sagen mir oft,
ich
spräche mit meinen Bewachern
frei
und freundlich und klar,
als
hätte ich zu gebieten.
Wer
bin ich? Sie sagen mir auch,
ich
trüge die Tage des Unglücks
gleichmäßig, lächelnd und stolz,
wie
einer, der Siegen gewohnt ist.
Bin
ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder
bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würge mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde
und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt
und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer
bin ich? Der oder jener?
Bin
ich heute dieser und morgen ein anderer?
Bin
ich beides zugleich? Vor den Menschen ein Heuchler
Und
vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder
gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in
Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer
bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer
ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!
„Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!“
Das
finde ich sehr tröstlich und beruhigend, das schenkt inneren Frieden,
dass Gott mich kennt, dass er um mich weiß und dass ich sein bin. Und
das ist das Unbegreifliche, dass Gott, der mich durch und durch kennt,
mich vorbehaltlos liebt und annimmt.
Von
einem Menschen durch und durch erkannt zu sein, total durchschaut, nicht
wahr, dieser Gedanke hat etwas Erschreckendes. Aber wenn Gott es ist,
der mich anschaut und durchschaut, wenn sein liebevoller Blick auf mir
ruht und mich durchdringt, dann darf ich mich bejaht wissen, dann darf
ich mich als rund um geborgen und angenommen erfahren, denn seine Augen
sind Augen der Güte. Es sind Augen, die voll Zärtlichkeit auf mich
schauen. Sein Blick ist Liebe. Ich kann ihm vertrauen.
Wer
das erfährt, braucht sich auch nicht mehr vor dem eigenen Urteil und dem
Urteil anderer Menschen zu fürchten. Er kann sich selbst annehmen.
„Was der Mensch vor Gott ist, das ist er, und nicht mehr“
(Franz von Assisi).
WER
BIN ICH?
Auf
die Frage „Wer bin ich?“ versuchen auch die Religionen Antwort zu
geben. Auch hier begegnen wir der Aufforderung, uns selbst zu erkennen.
Nach Theresa von Avila gibt es keine Gotteserkenntnis ohne
Selbsterkenntnis. Und für Meister Eckhard ist die Frage „Wer bin
ich?“ die wichtigste im Leben.
Erkenne, wer du bist! Und werde, der/die du bist!
Wenn
wir unseren christlichen Glauben danach fragen, wer wir sind, dann
können wir sagen:
Jesus
lebte aus tiefstem göttlichem Bewusstsein.
Und er
wollte uns daran teilhaben lassen: „Wie ich durch den Vater lebe,
genauso werdet ihr durch mich leben“, sagt er im Johannesevangelium
(6, 77).
Und
ebenfalls dort im hohenpriesterlichen Gebet: „Wie ich im Vater bin
und der Vater in mir ist, so bin ich in euch und ihr in mir“ (Joh
17, 23).
Wir
sind wahrhaft, wie Paulus sagt „Erben Gottes und Miterben Christi“.
„Wir sind berufen“, wie es im Epheserbrief heißt, „von der
ganzen Fülle Gottes erfüllt zu werden“ (3, 19).
Von
unserem christlichen Glauben her können wir sagen:
Ich
bin eine Rebe des göttlichen Weinstocks (vgl. Weinstockgleichnis, Joh
15, 1 - 8).
Ich
bin ein Strom des göttlichen Quellbrunnens (siehe Jesus und die
Samariterin, Joh 4, 14).
Ich
bin ein Glied des göttlichen Leibes (Röm 12, 5).
Ich
bin Erbe Gottes und Miterbe Christi (Röm 8, 17).
Ich
bin Tochter bzw. Sohn Gottes (Gal 4, 6).
Und
mit den christlichen Mystikern erkennen wir:
Ich
bin ein Tropfen des göttlichen Ozeans, eine Welle des göttlichen Meeres
(Theresa von Avila). Ich bin ein Strahl der göttlichen Sonne, eine
Flamme des göttlichen Feuers (Johannes vom Kreuz), ein Funke Gottes
(Meister Eckhart). Ich bin eins mit dem Göttlichen. Im tiefsten Wesen
bin ich eigentlich göttlich (Origines). In dieser mystischen Erkenntnis:
„Ich bin göttlich“, treffen sich alle geistlichen Wege.
Der
Geist Gottes verwandelt unser Leben in das göttliche Leben.
Wie
der Saft des Baumes vom Stamm her die Zweige ständig speist und belebt,
so belebt uns durch Christus, den Stamm, der göttliche Saft des Geistes
und lässt unser Leben zur Entfaltung kommen. Die in uns verborgene
Göttlichkeit wird durch den Geist zum Blühen und Früchtetragen gebracht.
Es
geht hier um eine verinnerlichte Wahrnehmung und eine Erkenntnis, die
sich durch die Praxis der Meditation und Kontemplation immer mehr
entfalten und vertiefen kann.
Die Kirchenväter und Mystiker
bezeichnen diesen Verwandlungsprozess als Vergöttlichung des Menschen,
Theosis.
Darin wird die tiefste Gnadenerfahrung ausgedrückt, worum es eigentlich
im christlichen Glauben geht.
Niemand hat diesen Verwandlungsprozess so deutlich ausgedrückt wie
Augustinus:
„Gott ist Mensch geworden, damit wir Menschen Gott werden“ („Deus
homo factus est, ut homo fieret Deus“; in: „Patrologia Latina“ 38, 1997).
Die Mystiker
bezeichnen diesen Vorgang auch als „Gottesgeburt in der Seele“.
Angelus Silesius drückt es z.B. in einem berühmten und oft zitierten
Vers so aus: „Wär Christus tausendmal in
Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärst noch ewiglich verloren.“
In
einer Weihnachtspräfation heißt es:
„Einen wunderbaren Tausch hast du vollzogen. Dein göttliches Wort wurde
ein sterblicher Mensch, und wir sterbliche Menschen empfangen in
Christus dein göttliches Leben.“
Am Schluss des Johannesprologes heißt es: „Aus
seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade über Gnade.“
Wir
sind begnadete Menschen, von Gottes Geist, von Gottes Liebe, von Gottes
Licht durchflutet und erfüllt, insofern und insoweit wie wir uns dafür
öffnen und dem Geist, dem Licht und der Liebe in uns und unserem Leben
Raum geben.
Meister Eckhart sagt:
„Wäre ich so bereit und fände Gott soweit Raum in mir, wie in unserem
Herrn Jesus Christus, er würde mich ebenso mit seiner Flut erfüllen. –
Denn der Heilige Geist kann sich nicht enthalten, in all das zu fließen,
wo er Raum findet, und soweit, wie er Raum findet.“ |