Bernhard von Clairvaux schreibt in einem Brief an Papst Eugen III.
„Wo
soll ich anfangen? Am besten bei Deinen zahlreichen Beschäftigungen,
denn ihretwegen habe ich am meisten Mitleid mit Dir. Ich fürchte, dass
Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr
siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest; dass Du Dich nach und nach
des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz
entledigst. Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit
Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach
an einen Punkt führen, an dem du nicht landen willst. Du fragst an
welchen Punkt? An den Punkt, wo das Herz anfängt, hart zu werden. Frage
nicht weiter, was damit gemeint sei: wenn Du jetzt nicht erschrickst,
ist Dein Herz schon so weit.
Das harte Herz ist allein; es ist sich selbst nicht zuwider, weil es
sich selbst nicht spürt. Was fragst Du mich? Keiner mit hartem Herzen
hat jemals das Heil erlangt, es sei denn, Gott habe sich seiner erbarmt
und ihm, wie der Prophet sagt, sein Herz aus Stein weggenommen und ihm
ein Herz aus Fleisch gegeben. Wenn Du Dein ganzes Leben und Erleben
völlig ins Tätigsein verlegst und keinen Raum mehr für Besinnung
vorsiehst, soll ich Dich da loben?
Darin lobe ich Dich nicht. Ich glaube, niemand wird Dich loben, der das
Wort Salomons kennt: „Wer seine Tätigkeit einschränkt, erlangt Weisheit“
(Sir 38, 25). Und bestimmt ist es der Tätigkeit selbst nicht förderlich,
wenn ihr nicht die Besinnung vorausgeht.
Wenn Du ganz und gar für alle da sein willst, nach dem Beispiel dessen,
der allen alles geworden ist (1. Kor 9, 22), lobe ich Deine
Menschlichkeit – aber nur, wenn sie voll und echt ist. Wie kannst Du
aber voll und echt sein, wenn Du Dich selber verloren hast? Auch Du bist
ein Mensch. Damit Deine Menschlichkeit allumfassend und vollkommen sein
kann, musst Du also nicht nur für alle anderen, sondern auch für Dich
selbst ein aufmerksames Herz haben. Denn, was würde es Dir nützen, wenn
Du – nach dem Wort des Herrn (Mt 16, 26) – alle gewinnen, aber als
einzigen Dich selbst verlieren würdest? Wenn also alle Menschen ein
Recht auf Dich haben, dann sei auch Du selbst ein Mensch, der ein Recht
auf sich selbst hat. Warum solltest einzig Du selbst nicht von Dir alles
haben? Wie lange bist Du noch ein Geist, der auszieht und nie wieder
heimkehrt (Ps 78, 39)? Wie lange noch schenkst Du allen anderen Deine
Aufmerksamkeit, nur nicht Dir selber?
Ja, wer mit sich schlecht umgeht, wem kann der gut sein? Denk also
daran: Gönne Dich Dir selbst. Ich sage nicht: Tu das immer, ich sage
nicht: Tu das oft, aber ich sage: Tu es immer wieder einmal. Sei wie für
alle anderen auch für Dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen
anderen.“
Ein
Mönch coacht einen Papst! Es geht um Zeitmanagement und Selbstfürsorge.
Und das im 12. Jahrhundert, vor nahezu 900 Jahren!
Bernhard von Clairveaux, 1090 geboren, Gründer der Zisterzienser und
einer der bedeutendsten Theologen des Mittelalters schrieb diese Zeilen
an den damaligen Papst Eugen III.
Dieser
war, bevor er Papst wurde, Abt des Klosters Tre Fontane bei Rom, und
davor – wie Bernhard – Zisterziensermönch in Clairveaux. Die beiden
waren also einmal Mitbrüder und haben sich gut gekannt.
„Wo
soll ich anfangen? Am besten bei Deinen zahlreichen Beschäftigungen,
denn ihretwegen habe ich am meisten Mitleid mit dir. Ich fürchte, dass
Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr
siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest “
Ein
Papst im Stress! Geht es uns nicht oft auch so?
Es
gibt Tage, da weiß man nicht mehr, wo einem der Kopf steht.
Es
geht drunter und drüber. So Vieles sitzt einem im Nacken, so viel ist zu
tun, so viel zu erledigen, zu organisieren, zu managen und zu
bewältigen. Man hat so viel um die Ohren, dass man sich wie
„eingekeilt“ fühlt, gefangen in der Tretmühle „zahlreicher
Beschäftigungen“, Aufgaben und Pflichten. Man fühlt sich wie in
einem Hamsterrad.
Tausend Dinge zerren an einem. Jeder will was von dir. Der Haushalt will
gemacht sein, die Kinder wollen versorgt sein. Da sind vielleicht noch
pflegebedürftige Eltern. Die Aufgaben wachsen einem über den Kopf. Die
Erwartungen sind vielfältig. Ein Termin jagt den anderen.
Und
wenn dann im Job auch noch Druck ist, die Arbeit überhand nimmt, und
dazu noch ein schlechtes Betriebsklima herrscht, dann kann es ein, wenn
all das zusammenkommt oder auch nur eine dieser Belastungen zu lange
geht, dass man den Draht zu sich selbst verliert, dass man schlecht
gelaunt, innerlich leer, traurig oder gefühllos wird, unempfindlich,
abstumpft.
Nicht
nur die Stirn, auch das Herz verhärtet sich.
„Keiner mit hartem Herzen“,
sagt Bernhard, „hat jemals das Heil erlangt, es sei denn, Gott habe
sich seiner erbarmt und ihm, wie der Prophet sagt, sein Herz aus Stein
weggenommen und ihm ein Herz aus Fleisch gegeben“ (Ez 36, 26).
Stärker als mit diesem bekannten Wort des Propheten Ezechiel vom
steinernen Herzen, das Gott erst wieder durch ein Herz aus Fleisch
ersetzen muss, konnte Bernhard seine Sorge um das Wohl seines früheren
Mitbruders und jetzigen Papstes nicht ausdrücken.
„Es
ist viel klüger, Du entziehst dich von Zeit zu Zeit Deinen
Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an
einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst.“
Bernhard rät dem Papst, sich allem Müssen und Sollen, den täglichen
Aufgaben und Zwängen hin und wieder zu entziehen, die Arbeit zu
unterbrechen, innezuhalten, Atem zu holen, Pause zu machen, sich eine
Auszeit zu gönnen.
„Wenn Du Dein ganzes Leben und Erleben völlig ins
Tätigsein verlegst und keinen Raum mehr für Besinnung vorsiehst, soll
ich Dich da loben“,
fragt Bernhard und zitiert dann ein Wort Salomos: „Wer seine
Tätigkeit einschränkt, erlangt Weisheit“ (Sir 38, 25).
Wenn
wir merken, dass wir hektisch und gestresst sind, genügt es oft schon,
ein paar bewusste Atemzüge zu nehmen. Allein das kann schon gut tun.
Oder nicht zu oft über den Feierabend hinaus zu schaffen und auch noch
den Sonntag für die Arbeit zu verzwecken. Oder wenn das nicht möglich
ist, sich einen anderen freien Tag in der Woche freihalten oder
wenigstens einen halben Tag.
Wenn
wir das tun, das tägliche Einerlei unterbrechen, kann der Blick wieder
frei werden, frei für die Menschen, die Natur, das Leben um uns herum.
Bernhard von Clairveaux gibt weiterhin zu bedenken:
„Bestimmt ist es der Tätigkeit selbst nicht förderlich, wenn ihr nicht
die Besinnung vorausgeht.“
Auch
das ist hochaktuell: Es braucht eine Balance zwischen Ruhe und
Tätigsein. Wie oft geraten wir aus dem Gleichgewicht, unser Leben
bekommt Schlagseite, wir verlieren die Mitte, weil die Besinnung zu kurz
kommt oder sogar ganz fehlt.
Im
Text weiter unten fragt Bernhard: „Wie lange bist du noch ein Geist,
der auszieht und nie wieder heimkehrt“ (Ps 78, 39).
Die
Auskehr braucht die Einkehr, die Aktion die Meditation.
Sammlung kommt vor Sendung. Der Weg nach außen wird ohne den Weg nach
innen zur Flucht, zu blindem Aktionismus, zu ruheloser Betriebsamkeit.
Tun um des Tun willens, leere Hektik.
Der
Feierabend, der Sonntag, Urlaub, Tage im Kloster, Exerzitien sind Zeit
zum Innehalten, Zeit zur Entspannung, Zeit zur Besinnung, Zeit auch zur
Begegnung mit sich selbst und Zeit zur Begegnung mit Gott.
Wer
nur noch arbeitet und keine Unterbrechung, keine Atemholen, keine
Entspannung mehr kennt, wird krank. Auf Dauer leistungsfähig ist nur,
wer auch gelernt hat, schöpferische Pausen zu machen, sich zu erholen.
Sich
selber Zeit schenken, um zu tun, was gut ist für die Seele, ist dringend
nötig. Andernfalls stellt sich das Gefühl ein, nur noch zu
funktionieren. Wer folglich immer nur gibt, ohne wieder aufzutanken,
dessen „Akkus“ sind irgendwann leer – auf Kosten der eigenen
Lebendigkeit und der eigenen Kreativität.
Gegen Ende seines Briefes rät Bernhard dem Papst,
„nicht nur für alle anderen, sondern auch für sich selbst
ein aufmerksames Herz zu haben… Wie lange noch schenkst Du allen anderen
Deine Aufmerksamkeit, nur nicht Dir selber?“
Bernhard schneidet das Thema „Selbstfürsorge“ an und legt seinem frühren
Mitbruder ans Herz, gut auch auf sich selbst aufzupassen. Es geht um
Achtsamkeit für sich selbst. Es geht darum, was wir gewöhnlich ganz gut
können, nämlich uns liebevoll um andere kümmern, auf uns selbst
anzuwenden, sozusagen, unseren inneren „fürsorglichen“ Scheinwerfer auf
uns selbst zu richten.
Stellen wir uns vor, ein lieber Mensch begegnet uns total erschöpft, am
Ende seiner Kräfte, müde und kaputt. Was würden wir ihm raten? Wie
würden wir uns ihm oder ihr gegenüber verhalten? Was würden wir ihm
sagen oder wünschen?
Genauso sollen und dürfen wir uns selbst begegnen und uns in der
gleichen Weise um uns selbst kümmern.
Doch
geht es uns nicht oft auch so wie Papst Eugen III., dass wir,
„eingekeilt in zahlreiche Beschäftigungen“, allen anderen
Aufmerksamkeit schenken, nur nicht uns selbst, für alle anderen Zeit
haben, nur nicht für uns selbst, es allen recht machen wollen und den
Erwartungen und Ansprüchen entsprechen und uns dabei selbst verlieren,
uns selbst vergessen, auf der Strecke bleiben?
Dabei
können wir auf Dauer nur für andere da sein, wenn wir uns selbst nicht
vernachlässigen, sondern darauf achten, dass es uns gut geht.
„Wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut
sein“,
fragt Bernhard. Und rät dann im letzten Satz:
„Sei wie für alle anderen auch für Dich selbst da, oder jedenfalls sei
es nach allen anderen.“
Aber
wie geht das, immer wieder einmal für sich selbst da zu sein?
Es
gibt ja viele Gründe, sich selbst Zeit und Aufmerksamkeit zu versagen.
Man hält sich für überaus wichtig, unabkömmlich.
Alles
liegen lassen? Einfach mal „blau“ machen? Das geht doch nicht! Das
kannst du doch nicht machen! Im Gegenteil: Du musst dran bleiben,
präsent sein, mithalten, weiterrackern, noch mehr Einsatz, noch
schneller, noch besser, keine Schwäche zeigen, ja nicht schlapp machen,
ich muss, muss, muss… Augen zu und durch.
Vielleicht geht das eine Zeitlang. Wenn dieses „Augen-zu“ jedoch zur
Dauerhaltung wird, wenn ich die Augen mir und meinen eigenen
Bedürfnissen gegenüber nicht mehr aufmache, dann ist diese Haltung nicht
mehr lebensförderlich, sondern lebenseinschränkend und krankmachend.
Wie
wäre es, Termine nicht nur mit anderen, sondern auch mit sich selber
auszumachen? Wie wäre es, ab und zu im Terminkalender ein großes „ICH“
einzutragen? Da bin ich besetzt. Da habe ich schon etwas, einen Termin
mit mir selbst: für einen „unverzweckten“ Spaziergang, für einen Besuch
bei einem lieben Menschen, oder einfach, um in der Sonne sitzen, ein
Buch zu lesen, ins Schwimmbad zu gehen, mir eine wohltuende Massage zu
gönnen, eine Bodylotion, einen leckeren Espresso zu trinken...
Zum Schluss mahnt und beschwört Bernhard den Papst, aber auch uns:
„Denk daran: Gönne dich dir selbst. Ich sage
nicht: Tu das immer, ich sage nicht: Tu das oft, aber ich sage: Tu es
immer wieder einmal.“
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