Es war bei Exerzitien ein Jahr nach
meiner Priesterweihe.
In einem Vortrag zitierte der
Exerzitienleiter die Inschrift an einem alten Brunnen. Von dieser
Inschrift ausgehend, gab er uns in seinen Ausführungen Orientierung und
Weisung für unser Leben und unseren Dienst als Priester.
Die Brunneninschrift lautet:
„Geben, immer nur geben, das ist mein
Leben.“
Mir hat dieser Spruch damals spontan
zugesagt und gefallen.
Er hat mich angesprochen. Denn das wollte ich ja als
junger Kapuziner und neugeweihter Priester: „Geben, immer nur geben“.
Mein Primizspruch – ein Pauluszitat –
lautete ja auch:
„Der Kirche
Diener bin ich durch das Amt, das mir Gott für euch gegeben hat.“
Mich einsetzen,
mich investieren, mich hingeben, solidarisch sein, Gutes tun, zur
Verfügung stehen, mich selbst nicht schonen, dienen, ganz für die
anderen da sein, Seelsorger sein mit Leib und Seele, Gefährte des Leides
und der Hoffnung.
Doch mit der Zeit
merkte ich, „geben, immer nur geben“, das geht nicht, das
überfordert dich. „Geben, immer nur geben“, das geht – je länger
desto mehr – über deine Kräfte. Auf Dauer laugt es aus. Bald bist du
ausgepumpt, ausgebrannt, leer - Burn out.
„Geben immer nur geben“,
das ist einseitig. Das Leben bekommt Schlagseite. Es gerät aus dem
Gleichgewicht. Zum Geben muss etwas anderes dazu kommen oder ihm sogar
zuvorkommen, ihm vorausgehen, nämlich das Empfangen. Ich kann
nicht immer nur geben, ich muss auch schöpfen.
Diesen Sachverhalt finde ich
sehr schön illustriert im Evangelium. Bei Markus 3, 13 - 19
wird die Berufung und Sendung der Apostel geschildert. – Es tut direkt
gut, wahrzunehmen und zu hören, wie da gar nicht das Tun, die Aufgabe,
die Aktion das erste und einzige ist, sondern auch das Verweilen, das
Empfangen, also die Kontemplation, die mystische Dimension.
Zunächst heißt es bei Markus:
„Jesus stieg auf einen Berg.“
Lukas fügt hinzu: „..um zu
beten. Und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet.“ Das hat Jesus
oft getan, vor allem vor großen und wichtigen Entscheidungen. Er sucht
den Raum der Stille, des Gebetes, die Nähe und Intimität des Vaters.
Dann heißt es: „Er rief die
zu sich, die er erwählt hatte.“
Jesus ist es, der ruft und wählt. Und er
ruft die, die er selber will.
Als nächstes wird gesagt: „Und sie kamen zu ihm.“
Die Berufenen und
Erwählten geben Antwort. Sie hören den Ruf und folgen ihm. Sie kommen zu
Jesus. Ihre Aktion, das Zu-ihm-Kommen ist aber nichts anderes als
Antwort, Reaktion auf Gottes Ruf. Das erste ist allerdings der Ruf.
Dann heißt es: „Er setzte Zwölf ein, die er bei sich haben und die er
dann aussenden wollte.“
Entscheidend sind in unserem
Zusammenhang die Worte:
„Die er bei sich haben und die er dann aussenden wollte.“
Das erste ist die Nähe Jesu. „Die er
bei sich haben wollte.“
Wichtig für die Apostel, die Jünger Jesu, wichtig für uns
ist:
Bei ihm sein, mit ihm gehen, auf ihn schauen, auf ihn
hören, von ihm lernen. „Meister, wo wohnst du?“ fragen zwei
Jünger Jesus. Seine Antwort: „Kommt und seht!“ Dann heißt es:
„Sie gingen mit und sahen, wo er wohnte und
bleiben jenen Tag bei ihm.“
Es geht um die Gemeinschaft mit Jesus. Es
geht um die persönliche Beziehung zu ihm. Es geht um Freundschaft mit
Jesus. Es geht darum, in seine Gesinnung hineinzuwachsen, immer mehr
seine Konturen anzunehmen. Das ist der Sinn des Bei-ihm-Seins. „Lernt von mir“, sagt Jesus an einer anderen Stelle,
„denn ich
bin sanftmütig und demütig von Herzen.“ Sein Wort, Sein Geist, seine
Haltung, sein Beispiel soll den Jüngern vor Augen stehen, soll abfärben,
übergreifen, anstecken, umwandeln, umgestalten, prägen und formen. Ihm
ähnlich werden, ihm gleichförmig werden, immer mehr mit ihm eins werden.
„Bilde mein Herz nach deinem Herzen“
heißt eine ganz innige und wesentliche Bitte am Herz-Jesu-Fest.
Von Heinrich Spaemann stammt das Wort:
„Was wir vor Augen haben, das prägt uns,
dabei werden wir verwandelt und wir kommen, wohin wir schauen.“
Vom heiligen Franziskus sagt Thomas von Celano:
„Jesus trug er im Herzen, führte ihn im Munde,
hatte ihn in den Ohren, trug ihn in den Augen, in den Händen, in seinem
ganzen Wesen.“
Lied: „Im Anschauen deines Bildes… da werden wir verwandelt… in dein Bild“
Das ist das erste: Die Nähe
Jesu, die Verbundenheit mit ihm, lernen von ihm, ihn immer besser kennen
lernen, das Leben mit ihm teilen, vertraut werden mit ihm, immer mehr
eins werden mit ihm. Das erste ist also die mystische, die kontemplative
Dimension. Diese Dimension wird sehr schön und deutlich im
Weinstockgleichnis (Joh 15) illustriert.
„Er setzte Zwölf ein, die er bei sich haben und die er
dann aussenden wollte.“ Erst das zweite ist das "Gesendet werden" und
konkret der Auftrag, zu predigen und Dämonen auszutreiben, das heißt
Gottes gute Botschaft zu verkünden, das Reich Gottes anzusagen, zur
Umkehr aufzurufen und die Menschen von Quälgeistern zu befreien, ihnen
heraushelfen aus Nöten, Zwängen, Süchten, Ängsten.
Das ist Sendung der Jünger Jesu. Das ist
– bis heute – das „Kerngeschäft“ und die „Kernkompetenz“
derer, die Jesus gerufen und berufen hat, die er mit seinem Geist
berührt und durch sein Wort und Beispiel inspiriert und motiviert hat.
Sendung und Auftrag sind
wichtig. Sie sind allerdings nicht das Erste. Sendung und Auftrag
schließen sich an das mit Jesus geteilte Leben, an die Gemeinschaft mit
Jesus, an.
Wenn Jesus dann tatsächlich die Seinen
aussendet, wird er zu ihnen sagen: „Umsonst habt ihr empfangen,
umsonst sollt ihr geben!“. Empfangen kommt vor Geben!
Das bedeutet: Das Tun, die
Aktion steht nicht am Anfang. Zu den Menschen gehen, ihr Leben teilen,
helfend, heilend, befreiend für sie da sein ist gut, ist richtig, ist
wichtig. Keine Frage.
Aber es ist zumindest in der Reihenfolge,
wenn nicht sogar in der Rangfolge das zweite und kommt nach dem „Bei-Jesus-Sein“.
„Er setzte zwölf ein, die er bei sich haben und die er
dann aussenden wollte.“
Wir stoßen
hier auf eine Gesetzmäßigkeit:
Meditation kommt
vor Aktion. Empfangen kommt vor Geben, Sammlung vor Sendung, Sein-Dürfen
vor Tun-Müssen. „Sucht zuerst das Reich Gottes“, sagt Jesus in
der Bergpredigt, „alles andere wird euch dazugegeben.“ Nur der
Beschenkte kann ein Schenkender sein und nur der Gesegnete ein
Segnender.
Vor einiger Zeit fragte ich
einmal einen Pfarrer, der bei mir über eine gewisse Wegstrecke in
geistlicher Begleitung war, aus welcher Einstellung er als Priester und
Gemeindeseelsorger zu leben versuche. Ich fragte ihn, ob er so etwa wie
eine geistliche Lebensregel hat. Nach kurzem Überlegen antwortete er:
Sich alles von Gott geben lassen.
Mich hat das beeindruckt. Den Satz habe
ich nicht vergessen.
Sich alles von Gott geben lassen!
Aus dieser Einstellung versuchen zu leben.
Wir sind eingeladen, immer
wieder die Nähe Jesu zu suchen, die Gemeinschaft mit ihm, die liebende
Verbundenheit mit ihm, letztlich die Freundschaft mit ihm. – Wir sind
eingeladen, uns von Gott beschenken zu lassen, uns von seiner Liebe
und seiner Kraft erfüllen und von seinem Licht und seinem Frieden
durchströmen zu lassen.
Was wir hörend, betend,
meditierend aufnehmen, was wir glaubend und vertrauend empfangen, kommt
immer vor dem, was wir selber tun und machen und schaffen und bringen
und leisten.
„Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen, aber
nur Eines ist notwendig.“
(Lk 10, 41)
Bei allem Kräfte verzehrender
Aktionismus, bei aller ruhelosen Betriebsamkeit, bei aller Unrast und
Hektik, bedarf es immer wieder der Zeiten des Innehaltens, der Sammlung.
Wenn wir nur „geben, immer nur geben“, ohne zu schöpfen,
ohne aufzunehmen, gleichen wir bald einem leeren Krug oder einem
wasserlosen Brunnen.
Der Brunnen kann nur geben,
wenn er von einer unterirdischen Quelle bzw. vom Grundwasser gespeist
wird. Unsere Ressourcen finden wir, wie das Wort schon sagt, dort, wo
wir zur Quelle (source) zurückkehren.
Lied: Alle meine Quellen entspringen in dir, in dir, mein guter Gott
Augustinus sagt in seinem Psalmenkommentar:
„Eile zur Quelle. Verlange nach Quellwasser. Bei Gott ist der Quell
des Lebens.
In seiner Klarheit ist nie erlöschendes Licht. Ersehne dieses Licht!
Ersehne diesen Quell!“
„Gieße deine Gnade in unsere Herzen ein!“ beten wir im „Engel des Herrn“. Und am Schluss des
Prologs am Beginn des Johannesevangeliums bekennt der Verfasser: „Aus
seiner Fülle haben wir alle empfangen Gnade über Gnade.“ Und in
einem Lied heißt es: „Herr, füll mich neu, füll
mich neu mit deinem Geiste, mit deiner Liebe, mit deiner Freude.“
Bei allen
Engagements und inmitten all unserer Aktivitäten braucht es immer
wieder die Rückbindung, den Rückbezug zu Gott. Religion, re-ligio
heißt: Rückbindung, Rückbeziehung.
Thomas Merton:
„Aktion ist Liebe, die sich nach außen wendet, an andere Menschen.
Kontemplation ist Liebe, die es nach innen zieht, zu ihrem göttlichen
Ursprung. Aktion ist der Strom, Kontemplation die Quelle. Die Quelle
bleibt wichtiger als der Strom, denn für die Liebe ist es das einzig
Notwendige, unerschöpflich dem Urgrund Christi und Gottes zu entquellen.“ (in: Keiner ist eine Insel)
Es gilt also immer wieder,
die Verbundenheit mit Gott zu suchen und treu zu pflegen. Gern und oft
die Nähe Gottes suchen im Gebet, in der Meditation, im Hören und
Betrachten seines Wortes, in der Stille, im Schweigen. Und auch
im Alltag, sich seiner liebevollen Gegenwart bewusst sein. Leben in der
Gegenwart Gottes.
Franz von Sales: „Wenn dein Herz wandert oder leidet bring es behutsam an
seinen Platz zurück und versetz es sanft in die Gegenwart deines Herrn.
Und wenn du nichts getan hast in deinem ganzen Leben außer dein Herz
zurückzubringen und in die Gegenwart deines Gottes zu versetzen,
obgleich es jedesmal wieder fortlief, nachdem du es zurückgeholt
hattest, dann war dein Leben gut.“
Meister Eckhard sagt: „Die ein gutes Leben beginnen wollen, die sollen es
machen wie einer, der einen Kreis zieht. Hat er den Mittelpunkt des
Kreises richtig angesetzt und steht der fest, so wird die Kreislinie
gut. – Das soll heißen: Der Mensch lerne zuerst, dass sein Herz fest
bleibe in Gott, so wird er auch beständig werden in all seinen Werken.“
Franz von Assisi: „Wo Ruhe
ist und Betrachtung, da ist nicht Aufregung noch unsteter Sinn.“
(Betrachtung = meditatio, Bemühung um Mitte)
Aktiv sein, solidarisch sein,
Gutes tun, Licht sein gehört unbedingt zu unserer Berufung, zu unserem
christlichen Auftrag. Es gehört zu unserer Sendung als Christen in der
Welt.
Aber der Dienst, der Einsatz,
die Aktion müssen zunächst in der Kontemplation ihren Grund finden und
die Solidarität muss mit der Mystik verbunden sein bzw. aus ihr
hervorgehen.
Das, was nach außen geschieht, muss von
innen her, vom Wort und Beispiel Jesu her, von der Gemeinschaft und
Verbundenheit mit ihm her, getragen, inspiriert und motiviert sein.
Sammlung und Sendung, Empfangen und
Geben!
Von dem Wiener Pastoraltheologen Paul Zulehner stammt das
Wort: „Wer in das Geheimnis Gottes
eintaucht, taucht neben dem Menschen wieder auf.“ Wessen Leben in
Gott zur Ruhe und zur Sammlung kommt, der wird offen für die Nöte der
Menschen und die Fragen der Zeit. Wer in Gott eintaucht, in Gott, dessen
Wesen Liebe und Barmherzigkeit ist, der wird sensibel, hellhörig für das
Bedürfen des Menschen neben ihm und dessen, der am Rand steht. Ein
solcher Mensch wird den Segen der Stille ausstrahlen und sich einsetzen,
wo er gebraucht wird, helfen, wo Hilfe nötig ist.
Gott und Welt, Mystik und Alltag,
Liturgie und Diakonie, Gottesdienst und Nächstendienst, Gebet und Arbeit
sind nicht zu trennen. Es sind die beiden Pole, zwischen denen sich das
Leben des Christen abspielt. Horizontale und Vertikale, Zentrifugalkraft
und Zentripedalkraft.
Die innere Einheit von Gottesliebe und
Nächstenliebe ist das Wesensmerkmal christlicher Spiritualität.
Christliche Spiritualität ist immer Anbetung auf der einen Seite und
Engagement und Solidarität auf der anderen Seite.
Roger Schutz: „Kampf und Kontemplation“
Hans Urs von Balthasar geht sogar so weit zu sagen:
„Wer Gottes Antlitz nicht aus der
Kontemplation kennt, wird es in der Aktion nicht wieder erkennen, selbst
dann nicht, wenn es ihm aus dem Antlitz der Erniedrigten und Beleidigten
entgegenleuchtet.“
Nur wer bei sich ist, kann auch ganz beim
anderen sein.
Ich habe ein
Gedicht gefunden, welches das Empfangen und Geben wunderbar zur Sprache
bringt.
Es stammt von
C. F. Meyer
und hat die Überschrift:
Der
römische Brunnen
„Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund.
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut.
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.“
In diesem
Gedicht wird das lebendige Wechselspiel von Empfangen und
Weitergeben am Beispiel des römischen Brunnens sehr schön geschildert.
Wenn die
Schale gespeist und immer neu gefüllt wird, kann sie überströmen und ihr
Wasser an die nächste Brunnenschale weitergeben.
Empfangen
und Geben – das ist mein Leben!
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