In einer Morgenandacht im Radio habe ich einmal folgende Begebenheit
gehört, die mich sehr beeindruckt hat:
Tanja,
sechs Jahre alt, wird wenige Tage vor dem Weihnachtsfest in ein
Kinderheim gebracht. Ein Verbleiben in der Familie ist wegen der
zerrütteten häuslichen Verhältnisse nicht mehr möglich. – Am Heiligabend
hat die Gruppenleiterin für die ihr Anvertrauten alles sehr liebevoll
vorbereitet: in der Mitte des Zimmers einen großen Christbaum, für jedes
Kind ein Gedeck und schöne Geschenke: Malbücher und Farbstifte,
Kaufläden und Playmobiles… Die Augen der Kinder strahlen. Nur Tanja
sitzt teilnahmslos da. Die Kinder singen zaghaft ein Weihnachtslied.
Dann wird Tanja aktiv: Sie wirft ihre Puppe auf den Boden, dann folgt
der Teller und die Tasse; auch die Geschenke der anderen Kinder fliegen
durch die Luft. Als Tanja auf den Christbaum losgeht, hält die
Gruppenleiterin sie fest. Während alle Kinder wie erstarrt dastehen,
legt die Gruppenleiterin ihre Arme um Tanja und sagt in ganz ruhigem
Ton: „Tanja, wie traurig bist du! Wie dunkel ist es jetzt in deinem
Herzen! Gell, du kannst dich gar nicht richtig freuen!“
Während die Gruppenleiterin Tanja fest in ihren Armen hält und an sich
drückt, räumen die Kinder wortlos alles wieder auf, holen ihre
Spielsachen und fangen an, sich ganz leise zu unterhalten, zu spielen
und zu lachen.
Tanja aber löst sich nicht mehr aus der schützenden Umarmung ihrer
Gruppenmutter. Kein Wort des Vorwurfs oder der Zurechtweisung oder der
Ermahnung, weder von der Gruppenmutter noch von den Kindern!
Nach gut einer halben Stunde spielt auch Tanja wieder mit ihren
Spielsachen. Und ein anderes Kind setzt sich zu ihr. Tanjas Augen sind
noch ernst, aber sie beginnt sich umzuschauen.
Was hat sich hier ereignet? Die Gruppenleiterin hat Tanjas Not erkannt,
sich zu ihr gesellt und sich verstehend mit ihr solidarisiert. Die
Folge: Tanja fühlt sich verstanden. Sie fühlt sich angenommen. Jetzt
wurde ihr ein wenig von der Liebe zuteil, die sie zu Hause in der
zerrütten Familie nie bekommen hat.
Zurechtweisungen, moralische Appelle oder Bestrafung hätten das Herz des
Kindes nicht nur nicht erreicht, sondern es vollends verschlossen. Hilfe
durch Verständnis, durch bedingungslose Annahme. Hilfe durch
Solidarisierung, Solidarisierung nicht mit der Schuld, wohl aber mit dem
Schuldigen.
Liebe Schwestern und Brüder!
Solidarisierung ist auch der Weg, auf dem Gott den Menschen rettet.
Die Solidarisierung Gottes haben wir an Weihnachten gefeiert. Gott
wird Mensch, einer von uns.
Hildegard von Bingen drückt es so aus: „In der Herabkunft des Wortes
Gottes hat uns alle mütterliche Liebe umarmt.“
Aber auch heute – bei der Taufe Jesu im Jordan – ereignet sich
Solidarisierung, und das gleich mehrfach:
Da heißt es als erstes im Evangelium:
„Zusammen mit dem ganzen Volk.“ Jesus, einer aus dem Volk, Jesus,
einer von vielen, die zu Johannes dem Täufer hinausgehen. Jesus, ganz
bei den Menschen, Jesus, ganz Mensch. Erste Solidarisierung!
Dann heißt es weiter:
„…ließ auch Jesus sich taufen.“
Die Taufe des Johannes war eine Taufe der Umkehr, eine Taufe zur
Vergebung der Sünden. Obwohl ohne Sünde, lässt auch Jesus sich taufen –
wie ein Sünder! Tiefe Teilnahme am Geschick der Menschen. Zweite
Solidarisierung! (Später wird er sich mit den Sündern an denselben Tisch
setzen und sich in einer Reihe mit zwei Verbrechern kreuzigen lassen.)
Die dritte Solidarisierung:
„…während er betete.“
Jesus betet, wie Menschen beten, die der Hilfe bedürfen. Auch hier:
Jesus ganz solidarisch.
Liebe Schwestern und Brüder!
Gott wählt zu unserer Rettung die Solidarisierung. In einem
Weihnachtslied singen wir: „Entäußert sich all seiner Gewalt, wird
niedrig und gering. Nimmt an sich eines Knechts Gestalt – der Schöpfer
aller Ding.“
Und warum? Aus Liebe. „Für uns und um unseres Heiles willen“, so
bekennen wir im Credo. – Und Jesus selbst sagt später von sich
und seiner Sendung: „Ich bin gekommen, um zu suchen, was verloren war
und zu heilen, was verwundet ist.“
Liebe Schwestern und Brüder!
Das Fest der Taufe Jesu verdeutlicht das Weihnachtsgeheimnis: So also
ist Gott! In Jesus legt er vorbehaltlos seine Arme um alle Menschen,
nimmt sie an in ihren Zerbrochenheiten, in ihren Widersprüchen und
Niedergedrücktheiten. Er beschuldigt nicht die Sündenböcke, sondern wird
selbst zum „Sündenbock“, der sich in die Wüste schicken bzw. ans Kreuz
schlagen lässt.
Er ist nicht gekommen, um unsere Sünden aufzurechnen, sondern sie auf
sich zu nehmen.
Liebe Schwestern und Brüder!
Aus dem geöffneten Himmel bei der Taufe Jesu ertönen keine Vorwürfe,
keine Zurechtweisungen und keine moralischen Apelle. Vielmehr tut sich
Hoffnung kund, Hoffnung in aller Hoffnungslosigkeit. Wenn überhaupt ein
Apell, dann der: „Lass dich in Gottes Arme nehmen!“
Wer einen solchen Gott erlebt, wird ein neuer Mensch. Und kann selbst zu
einem Zeichen der Hoffnung für andere werden. Das hat der Zöllner
Zachäus erfahren und Maria von Magdala. Das hat die von den
Gesetzeshütern angeklagte Ehebrecherin erlebt und der reumütige
Verbrecher neben Jesus am Kreuz.
Wo wir sagen: verloren, sagt er: gefunden. Wo wir sagen: verdammt, sagt
er: gerettet. Wo wir nein sagen, sagt er doch ja.
Liebe Mitchristen!
Vor allem selbsterlösenden Tun – und die Versuche diesbezüglich sind
heute weit verbreitet – vor allem Leistungsdenken, das für unsere Zeit
typisch ist und das als Häresie da und dort auch in kirchliches Denken
Einzug gehalten hat, vor all dem steht Gottes Tun, vor all unseren
Verdiensten seine Gnade.
Gläubig ist der, der sich diesem gnädigen Handeln Gottes täglich neu von
Grund auf anvertraut. Aus solchem Gottvertrauen erwachsen Gelassenheit
und Geduld, froher Mut und gläubige Zuversicht.
Ein geistlicher Meister
hat seine Schüler einmal gefragt:
„Worin besteht die rechte Gottesfurcht.“
Und sie antworteten: „Dass man Gott liebt.“ – Der Meister aber
schüttelte den Kopf und sagte: „Nicht darin, dass ihr denkt, wir
lieben Gott, besteht die rechte Gottesfurcht. Wer denkt: Ich liebe Gott,
der steht noch unter Zwang. So sollt ihr sprechen: Ich glaube fest, dass
Gott mich liebt. Das ist die rechte Gottesfurcht.“
Von Basil Hume,
dem früheren Erzbischof von Westminster in London, stammt folgender
Ausspruch: „If you turn to me and ask: Are you in love with God?
(Wenn du mich fragst: Liebst du Gott?) I woudt pause, hesitate and say
(Ich würde innehalten und zögernd antworten): I am not certain. (Ich bin
nicht sicher). But one thing I am certain (Aber eines weiß ich gewiss):
that he is in love with me. (dass er mich liebt).“
Ihre Enkelin Claudia
sei gerade drei Jahre alt geworden, erzählt Frau Müller. Aber über Gott
habe sie mit der Kleinen noch nie gesprochen. „Es ist ja auch nicht
leicht, heutzutage mit Kindern über Gott zu reden. Wir tun uns ja selbst
so schwer, wir Erwachsene untereinander“, meint Frau Müller. – Aber,
so die Großmutter, vor kurzem habe sie es dann doch gewagt. Das sei so
gekommen. Claudia sei zornig gewesen und habe immer wieder geschrien:
„Hau ab, Omi, ich will dich nicht mehr!“ – Darauf habe sie, ruhig,
aber bestimmt, der Kleinen geantwortet: „Hörst du, Claudia, ich mag
dich; ich mag dich immer, ob du nun böse bist oder zornig oder nicht.
Ich hab dich einfach lieb. Immer, auch wenn du schlägst und fauchst…“
– Die Kleine war sprachlos, hielt inne, streckte dann die Arme aus und
drückte die Großmutter fest an sich. – Später, über das Erlebte
nachdenkend, meinte Frau Müller: „Jetzt wurde mir klar: ich habe der
Kleinen etwas über Gott sagen können, ohne direkt von Gott zu sprechen.“
Dann fügte sie hinzu: „Eigentlich möchte ich immer so von Gott
reden.“
Papst Giovanni
verließ an Weihnachten 1958 – erstmals nach Jahrhunderten – als Papst
den Vatikan. Er besuchte das Kinderheim „Gesù Bambino“ und das Gefängnis
„Regina Coeli“.
Zu den Gefängnisinsassen sagte Johannes XXIII. wörtlich:
„Es ist unmöglich, auszudrücken, was in meinem Herzen vorgeht, während
ich zu euch spreche. … Meine Augen blicken in eure. … Ich drücke mein
Herz an eures. …“
– In der Abteilung für Schwerverbrecher fiel ein verurteilter Mörder vor
ihm auf die Knie und bettelte: „Kann auch so einer wie ich Vergebung
finden?“ – Statt einer Antwort hob Johannes den Gefangenen auf und
umarmte ihn.
Wie oft und „wie zart
muss mir gesagt werden, dass ich geliebt bin, bis ich es wirklich
glauben kann“, so fragt Andreas Knapp in einem Gedicht über die
Taufe Jesu.
Manchmal ist es gar nicht so einfach an die Liebe zu glauben. Aber auch
bei unserer Taufe hat sich der Himmel geöffnet und Gott hat gesprochen:
„Du bist mein geliebtes Kind!“
Aus dieser Liebe können wir leben, können sie erwidern und – so gut wir
können – an andere weitergeben.
Amen