geistliche Impulse

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Predigt

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Loslassen

 

 

Ist es Ihnen auch schon einmal so ergangen? Ich stehe vor einer Glastür und drücke und drücke, aber sie geht nicht auf. Da fällt mein Blick auf den Türgriff. „Ziehen“ steht da auf einem Messingschild. Ein leichter Ruck und die Tür schwingt auf. Meine Kraft war die ganze Zeit in die falsche Richtung gegangen.

 

Ich habe daraus etwas gelernt: Manchmal ist es besser loszulassen, statt krampfhaft festzuhalten, kommen zu lassen, statt blind vorwärts zu hetzen. Nicht immer hilft es, die Muskeln noch mehr anzuspannen. Oft führt gerade die Entspannung zum Ziel. Sportler machen deshalb oft eigene Übungen, um locker zu werden und nicht zu verkrampft in einen Wettkampf zu gehen. Oft machen wir uns das Leben schwer, weil wir nicht loslassen können.

 

Loslassen können ist eine Kunst. Eltern und Kinder müssen sie lernen. Am Kindergarten fließen manchmal schon am Morgen die Tränen, wenn das Kind die Mutter oder die Oma nicht loslassen kann und wieder unbedingt nach Hause will. – Väter und Mütter müssen es lernen, ihre Kinder Schritt für Schritt loszulassen: wenn sie in die Schule kommen, wenn sie ins Jugendalter kommen und immer mehr ihr eigenen Wege gehen, wenn sie heiraten, das Elternhaus verlassen und vielleicht weit weg ziehen.

 

Etwas hilft uns dabei, die Kunst des Loslassens zu lernen: die Liebe. Wer liebt kann am ehesten loslassen. Denn „es ist, wie es ist, sagt die Liebe“. (Gedicht von E. Fried)

Wer festhalten will, wer krampfhaft seinen Besitz behauptet, wer krallt und klammert, wer giert und geizt, der ist von der Angst besetzt, nicht von der Liebe.

 

In einer Familie, die eine kostbare Vase besaß, ist folgendes passiert: Beim Spielen geriet der Arm des Kindes in die Vase. Und, wie es zu gehen pflegt, er ging zwar hinein, aber nicht mehr heraus. Alles Zureden und Probieren half nichts. So blieb nur ein Ausweg. Man holte einen Hammer und zerschlug die Vase.

Da stellte sich folgendes heraus: Das Kind hatte auf dem Boden der Vase ein Geldstück entdeckt, in seine Faust eingeschlossen und nicht mehr wieder losgelassen. Es hätte nur die Hand aufmachen, das Geldstück lassen, es hergeben müssen, und die Hand wäre ganz leicht wieder aus der Vase herausgegangen.

Wir möchten soviel festhalten: die glücklichen Stunden, die unvergesslichen Begegnungen, die Frucht unserer Arbeit.

 

Und wir müssen loslassen: an jedem Abend das Licht des Tages, an jedem Morgen die Ruhe der Nacht, bei jedem Aufbruch das vertraute Zuhause, bei jeder Enttäuschung eine Hoffnung, bei jedem Schmerz ein Stück unbeschwertes Leben.

 

Wir müssen Abschied nehmen: von der Kindheit, von den besten Jahren des jungen Erwachsenenalters. Wir kommen in die Lebensmitte und müssen auch davon Abschied nehmen. Bei Orts- u. Wohnungswechsel müssen wir Abschied nehmen von vertrauter Umgebung. Wir erreichen das Pensionsalter und müssen Abschied nehmen vom Beruf, von Kollegen und Kolleginnen. Liebe Menschen sterben und wir müssen Abschied nehmen, loslassen.

 

Im Blick auf Menschen, mit denen wir zusammenleben, kann das Lassen und Loslassen auch Toleranz bedeuten, Geduld, Respekt vor dem Anderssein des anderen. Das fällt normalerweise nicht leicht. Wir sind immer eher bereit, den anderen verändern zu wollen. Wie wissen aber auch, wenig erfolgreich solche Bemühungen sind. Wie schwer fällt es, ein festes, negatives Bild vom anderen loszulassen. Wir hartnäckig und langlebig sind oft unsere Vorurteile. Es kann sehr befreiend sein, alle Änderungsversuche loszulassen und den anderen anzunehmen, ihn so zu nehmen, wie er ist.

 

Loslassen heißt nicht: alles laufen lassen, alles gut finden, resignieren, kapitulieren.

 

Loslassen heißt: nicht verkrampfen; bei aller Anspannung wieder entspannen; bei aller Aufregung wieder zur Ruhe kommen; bei aller Hektik nicht in Panik geraten.

 

Loslassen heißt: weggeben, was ausgedient hat und hinnehmen, was nicht zu ändern ist. Loslassen heißt: auf Gutes vertrauen und Neues auf sich zukommen lassen.

 

Loslassen ist schwer. Alle Angst im Leben geht letztlich zurück auf die Angst vor dem Tod. Weil der Mensch so fest am Leben hängt, verursacht das Loslassen so viel Schmerz.

 

Am Ende unseres Lebens gibt es nur eine einzige Lösung:

Alles loslassen und mich ganz in das Geheimnis Gottes fallen lassen, Gott, der mich liebend auffängt, mich bergend hält, mich grenzenlos liebt. Bei ihm ist Trost, Geborgenheit, Leben in Fülle.