Zweite Lesung
Nimm ihn auf, nicht mehr
als Sklaven, sondern als geliebten Bruder
Lesung
aus dem Brief des Apostels Paulus an
Philémon.
Lieber Bruder!
9bIch,
Paulus, ein alter Mann, jetzt auch Gefangener Christi Jesu,
10ich
bitte dich für mein Kind Onésimus, dem ich im Gefängnis zum Vater
geworden bin.
12Ich
schicke ihn zu dir zurück, ihn, das bedeutet mein Innerstes.
13Ich
wollte ihn bei mir behalten, damit er mir an deiner Stelle dient in den
Fesseln des Evangeliums.
14Aber
ohne deine Zustimmung wollte ich nichts tun. Deine gute Tat soll nicht
erzwungen, sondern freiwillig sein.
15Denn
vielleicht wurde er deshalb eine Weile von dir getrennt, damit du ihn
für ewig zurückerhältst,
16nicht
mehr als Sklaven, sondern als weit mehr: als geliebten Bruder. Das ist
er jedenfalls für mich, um wie viel mehr dann für dich, als Mensch und
auch vor dem Herrn.
17Wenn
du also mit mir Gemeinschaft hast, nimm ihn auf wie mich!
Heute, liebe Schwestern und Brüder,
möchte ich einmal nicht – wie es sonst meistens bei der Predigt
geschieht – auf das Evangelium eingehen, sondern auf die zweite Lesung,
die wir gehört haben. – Erinnern Sie sich noch?
„Lesung aus dem Brief des Apostels
Paulus an Philemon“.
Das Besondere an diesem Brief ist seine
Kürze. Er umfasst nur 25 Verse und ist damit der kürzeste aller Briefe
im Neuen Testament.
Gleichzeitig ist es ein sehr persönlicher
Brief. Liebevoll, brüderlich, bittend – geschrieben um das Jahr 55.
Paulus saß im Gefängnis, vermutlich in
Ephesus.
Der Anlass des Briefes ist ein ganz
konkreter.
Dem reichen Kaufmann Philemon aus der
Stadt Kolossä – ca. 60 Km von Ephesus entfernt – war ein Sklave
weggelaufen, Onesimus, was übersetzt heißt „der Nützliche“.
Doch statt Nutzen hatte er nun Ärger und
Schaden. Denn wie man zwischen den Zeilen aus dem Brief herauslesen
kann, war Onesimus nicht nur abgehauen und untergetaucht, sondern hatte
auch Geld oder sonstige Wertsachen mitgehen lassen.
Auf seiner Flucht kam Onesimus nach
Ephesus zu Paulus.
Immer wieder kam es wohl zu Begegnungen
und intensiven Gesprächen zwischen Paulus und Onesimus.
Onesimus wird Paulus wohl von seinem
Schicksal erzählt haben und Paulus diesem von seinem Leben als
Pharisäerschüler, wie er die Christen verfolgt hat, von seinem
Damaskuserlebnis, seiner Taufe durch Hananias und von seinen
Missionsreisen, den Gefahren und Nöten, die er um Christi willen
erduldet hat.
Jedenfalls hat Paulus Onesimus für den
christlichen Glauben gewonnen. Der fortgelaufene Sklave ließ sich taufen
und wurde Christ.
Aus dem Brief geht auch hervor, dass sich
zwischen Paulus und Onesimus eine Art geistliche „Vaterschaft“
bzw. „Sohnschaft“ entwickelt hat. Voll Zärtlichkeit nennt Paulus
nämlich Onesimus „mein Kind“, ja sogar „mein eigenes Herz“.
Und von sich sagt er, dass er Onesimus im Gefängnis zum „Vater“
geworden war.
Nun, liebe Schwestern und Brüder, Sklaven
waren in damaliger Zeit Eigentum des Hausherrn. Ihr Besitzer konnte über
seine Sklaven beliebig verfügen. Er konnte mit ihnen machen, was er
wollte. Abhauen gab es nicht. Fliehen war strengstens verboten. Ein
Sklave, der seinem Besitzer und Chef entflohen war, machte sich
strafbar, bis hin zur Todesstrafe.
Wie man sich denken kann, kommt nun
Paulus wegen des weggelaufenen Sklaven Onesimus ganz schön in die
Zwickmühle.
Einerseits hat er ihn liebgewonnen. Durch
die Taufe ist er sogar sein „Bruder in Christus“ geworden. Außerdem hat
Onesimus seinem Namen alle Ehre gemacht. Er hat sich Paulus als sehr
nützlich erwiesen. Er hat ihm, dem viel Älteren, im Gefängnis manche
wertvollen Dienste geleistet. Paulus könnte ihn also weiterhin gut
gebrauchen. Am liebsten würde er ihn behalten.
Andererseits aber ist Onesimus Sklave und
damit Eigentum seines bisherigen Herrn. Ihn behalten wäre Diebstahl.
Also bleibt nichts anderes übrig als
Onesimus nach Kolossä zurückzuschicken und ihn seinem Besitzer, nämlich
Philemon, zurückzugeben.
Das Gute daran ist: Philemon, dem
Onesimus gehört, ist ebenfalls Christ, und zwar ein recht aktives
Gemeindemitglied.
In seinem Haus versammelten sich in
Kolossä die Christen. Da trafen sie sich, um Gottesdienst zu feiern.
Und jetzt kommt’s, liebe Schwestern und
Brüder! Passen Sie auf!
Wenn Onesimus zu Philemon, seinem Chef
und Besitzer, zurückkehrt, dann ist er nicht mehr nur sein Sklave,
sondern er ist durch die Taufe sein „Bruder in Christus“ geworden
– eine ungeheure Wertsteigerung.
„Im Herrn“, in Jesus Christus, ist
dieser Onesimus nun genauso viel wert wie sein Chef und wie Paulus
selbst. Er, der Sklave war, ist in Christus frei geworden. Die bisherige
Abhängigkeit ist im Kern gesprengt.
Gesellschaftlich besteht die
Sklavenstruktur zwar noch, aber im Kern, von innen her, sind die Grenzen
überwunden und alle gesellschaftlichen Schranken gelten nicht mehr.
Das ist die christliche Revolution, die
in der gleichen Würde aller Getauften ihre Wurzeln und ihre Sprengkraft
hat.
Der Sklave Onesimus kann als Christ
seinem Chef Philemon auf Augenhöhe begegnen und braucht eigentlich keine
Angst mehr vor ihm zu haben. Er darf von ihm erwarten, als Mitchrist
aufgenommen, angenommen und würdevoll behandelt zu werden.
Das ist die Situation, liebe Mitchristen,
in der Paulus den Brief an Philemon schreibt.
Darin bietet er sein ganzes rhetorisches
Können auf, um Philemon die Sachlage zu schildern, die sich durch die
Taufe von Onesimus gravierend verändert hat.
Paulus bittet Philemon, Onesimus nicht
mehr wie einen Sklaven aufzunehmen, sondern wie einen geliebten Bruder,
ja, wie ihn, Paulus, selbst.
Liebe Schwestern und Brüder, getauft
sein, Christ sein hat Folgen.
Im Brief an die Galater schreibt Paulus:
„Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie,
nicht Mann und Frau.“
Die Unterschiede zwischen den Menschen,
die sonst gültig sind, haben in der Gemeinschaft der Glaubenden ihre
Bedeutung verloren, trennende Schranken fallen, Grenzen werden
überwunden.
Alle Getauften haben in Christus die
gleiche Würde vor Gott.
Alle sind Söhne und Töchter Gottes. Alle
sind Schwestern und Brüder im Glauben.
Ich mag den Philemonbrief. Er gibt uns –
wie durch ein Schlüsselloch – Einblick ins Leben der Urgemeinde und
lässt uns gleichzeitig die verändernde Kraft des Evangeliums erfahren.
Zwar rüttelte Paulus nicht am sozialen
Gefüge seiner Zeit. Er war kein Sozialrevolutionär.
Aber im Ernstnehmen des Evangeliums, im
Leben nach dem Wort und Beispiel Jesu vermögen Christen, damals Paulus,
Philemon und Onesimus, aber auch wir heute, Verhärtungen aufzubrechen,
Grenzen zu überwinden und wie Sauerteig zu wirken, der umwandelt und
Veränderung schafft, in uns, zwischen uns und um uns.
Jede falsche Machtausübung aber,
Missbrauch aller Art, jede Unterdrückung, jede Diskriminierung haben mit
dem Evangelium und mit wirklichem Christsein nichts zu tun.
Solidarität, Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit sind keine Erfindung der französischen Revolution. Sie
haben im christlichen Glauben ihren Ursprung. Es sind im Grunde genommen
christliche Werte.
Und wir tun gut daran – so gut wir können
–, sie im Alltag, in der Gemeinde und im Umgang mit anderen zu
praktizieren und zu leben. |