geistliche Impulse

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Predigt

von P. Pius Kirchgessner, OFMCap

 

Die Witwe und der unbarmherzige Richter

29. Sonntag im Jahreskreis, Lesejahr C; Lk 18, 1 - 8

 

Evangelium

Sollte Gott seinen Auserwählten, die zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen?

+ Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas

In jener Zeit

1sagte Jesus seinen Jüngern durch ein Gleichnis, dass sie allezeit beten und darin nicht nachlassen sollten:

2In einer Stadt lebte ein Richter, der Gott nicht fürchtete und auf keinen Menschen Rücksicht nahm.

3In der gleichen Stadt lebte auch eine Witwe, die immer wieder zu ihm kam und sagte: Verschaff mir Recht gegen meinen Widersacher!

4Und er wollte lange Zeit nicht. Dann aber sagte er sich: Ich fürchte zwar Gott nicht und nehme auch auf keinen Menschen Rücksicht;

5weil mich diese Witwe aber nicht in Ruhe lässt, will ich ihr Recht verschaffen. Sonst kommt sie am Ende noch und schlägt mich ins Gesicht.

6Der Herr aber sprach: Hört, was der ungerechte Richter sagt!

7Sollte Gott seinen Auserwählten, die Tag und Nacht zu ihm schreien, nicht zu ihrem Recht verhelfen, sondern bei ihnen zögern?

8Ich sage euch: Er wird ihnen unverzüglich ihr Recht verschaffen. Wird jedoch der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?

 

 

"Wird der Menschensohn, wenn er kommt, den Glauben auf der Erde finden?"

 

Diese nachdenklich stimmende Frage steht am Ende des heutigen Evangeliums. Darauf läuft alles hinaus. Es gilt den Glauben, der sich auch im nicht nachlassenden Gebet äußert, lebendig zu erhalten. Doch das ist alles andere als leicht!

 

Oder haben Sie je erlebt, dass Sie Gott um etwas gebeten haben – und Sie haben es postwendend erhalten? Das mag zwar vorkommen, aber es ist doch wohl eher die Ausnahme! Normalerweise beten, flehen, schreien Menschen zu Gott, ohne dass der sich in das Geschehen einmischt und die Ursache ihrer Not beseitigt.

 

Die Geschichte des bittenden Gebets ist - zumindest, was die direkte Erhörung der Gebete angeht - eher eine Misserfolgs- denn eine Erfolgsgeschichte. Ist es da nicht näherliegend, aufzugeben als weiter zu bitten? Eine menschlich gesehen nur zu verständlichen Reaktion!

 

Ich möchte ja an Gott glauben. Ich möchte darauf vertrauen, dass er mein Leben begleitet, dass er mich schützt und stützt. Aber wenn der Großteil meiner Anliegen, mit denen ich mich an ihn wende, ins Leere läuft…! Da kann der Glaube, kann das Vertrauen leicht verloren gehen.

 

Wenn der Menschensohn wiederkommt, braucht er sich da zu wundern, wenn er keinen oder nur noch wenig Glauben vorfindet?

 

Das Aushalten des Misserfolgs - ihn weiterhin bitten, auch wenn keine Antwort, geschweige denn eine Erhörung kommt - dazu lädt uns Jesus mit dem Gleichnis des Evangeliums ein. Gott immer wieder ansprechen, auch wenn er schweigt. An ihm festhalten, auch wenn ich ihm gleichgültig zu sein scheine. Täglich neu bitten, auch wenn er mir - allem Anschein nach - die kalte Schulter zeigt, das ist seine Empfehlung für ein gelingendes Leben.

 

Allerdings, nicht selten mache ich die Erfahrung: das, was ich erbitte, ist nicht immer das, was mir gut tut. Manchmal bin ich im Rückblick geradezu dankbar, dass Gott mich nicht erhört hat, dass er mich hat warten lassen, dass er mir vielleicht anderes geschenkt hat, was ich nicht erwartet habe, was aber dem für mein Leben letztendlich gut und heilsam war.

 

In dem autobiographischen Roman von Mary Verghese sagt diese: "Um Füße bat ich und er gab mir Flügel.“ – Mary Verghese ist eine schöne junge Frau. Kurz vor ihrem Examen als Ärztin wird sie bei einem Autounfall schwer verletzt. Ihr schönes Gesicht wird durch eine große Wunde entstellt. Ihr Körper bleibt querschnittsgelähmt. Ihre Füße stehen ihr nicht mehr zur Verfügung - stattdessen der Rollstuhl.

 

Oft bittet sie Gott um "neue Füße". Vergeblich. Aber was er stattdessen nach und nach in ihr aufbaut, ist Hoffnung, Lebensmut, Energie, Vertrauen. Sie bleibt entstellt und an den Rollstuhl gefesselt. Aber sie wird eine berühmte Ärztin. Diejenigen, die ihr begegnen, bekommen durch diese Frau neue Hoffnung und Lebensmut. Am Ende stellt sie staunend und dankbar fest: "Um Füße bat ich - und er gab mir Flügel".

 

Hat Jesus, der uns mit dem Gleichnis des Evangeliums zu unablässigem Gebet einlädt und zusagt, dass Gott uns erhören wird, hat er selbst nicht ähnliches erlebt?

 

Vor ihm tut sich der Kreuzweg und der grausame Tod am Kreuz auf. Er bittet in seiner großen Angst: "Vater, wenn es möglich ist, dann lass diesen Kelch an mir vorübergehen!"

Gott hat ihn nicht erhört. Jesus musste das Kreuz auf sich nehmen, er musste die schmerzliche und schmähliche Kreuzigung ertragen. Auf diesem Kreuzweg aber erlebte er gleichzeitig: "Engel dienten ihm".

 

Gott führte ihn nicht am Leiden vorbei, aber er blieb im Leid an seiner Seite, er ließ ihn nicht allein. Gott machte ihm am Ostermorgen nach dem schweren Todesweg das Geschenk der Auferweckung, das Geschenk eines unzerstörbaren Lebens. Wie wäre unsere Heilsgeschichte verlaufen, hätte Gott die Bitte Jesu erhört, hätte er ihn an all dem Schweren und Leidvollen vorbeigeführt?

 

Wie viele Leidende in unserer Welt wären hoffnungslos, mutlos, gottverlassen in ihrem Leid, weil sie ihren leidenden Bruder Jesus nicht an ihrer Seite finden könnten.

 

Wie gut für uns alle, dass Gott mit seinem Sohn diesen Weg gegangen ist, der auch unserem Leben verheißt: Ich führe dich nicht an Schwerem und Leid vorbei, du wirst klagen und stöhnen. Aber sei gewiss, ich bin an deiner Seite, ich schenke Dir Mut und Kraft, das Schwere zu bestehen. Ich zeige dir in meinem Sohn, dass der beschwerliche Weg durch das irdische Leben in ein Leben mündet, das keinen Tod mehr kennt, in dem "jede Träne weggewischt wird von deinen Augen".

 

Bedenke ich das alles, dann bekommt die Einladung Jesu eine Intensität und Aktualität! Jesus weiß, wie schwer es ist, den Glauben an Gott durchzuhalten, wenn das Leben eher von der Erfahrung der Gottferne geprägt ist.

 

Liebe Schwestern und Brüder!

Die Gemeinde, an die Lukas sein Evangelium richtet, macht bereits im ersten Jahrhundert ähnliche Erfahrungen. Sie hatten sich auf Jesus eingelassen. Sie hatten ihr Leben geändert im Vertrauen: Er kommt bald wieder und macht alles neu und gut. Stattdessen mussten sie erleben, dass er - trotz intensiven Betens und Bittens - nicht wiederkam. Vielmehr erlebten sie Verleumdung, Verfolgung und Ermordung. Die Versuchung war groß, aufzugeben, sich den "Realitäten" zu fügen und weiterzuleben, als hätten sie nie von Jesus gehört.

 

Dieser Versuchung widerspricht das Gleichnis. Es lädt ein zu einer Tugend, die gemeinhin kaum im christlichen Tugendkatalog auftaucht: der Tugend der Hartnäckigkeit, der Zähigkeit. Gib nicht so schnell auf! Bleib dran! Halte fest an dem, was dir wichtig geworden ist, selbst wenn der Augenschein dagegen spricht.

 

Diese Einladung hat bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Wir leben in einer säkularisierten Welt, in der die Gesetze des "Machens", des Erfolgs, des schnellen Glücks regieren. Es sieht so aus, als brauche die Welt Gott nicht. "Wir können das alleine! Wir schaffen das schon!"

 

In dieser Welt an einen Gott glauben und auf einen Gott hoffen, der zumindest auf den schnellen Blick wenig von sich spüren lässt, das ist nicht leicht! Schnell färbt die Gottlosigkeit ab, schnell hat sie dich in ihren Sog genommen, manchmal fast unmerklich.

 

"Wird der Menschensohn, wenn er kommt, noch Glauben finden?“ Wird er noch Beter antreffen, die mit Gott reden, die auf seine Nähe bauen, die auf seine Hilfe vertrauen - selbst, wenn er ganz anders hilft, als sie es erwarten?

 

Es braucht ein Vertraut-Werden mit diesem Gott, um zu entdecken, dass er da ist, dass er am Werk ist - wenn vielleicht auch ganz anders, als wir es erwarten.

 

Es braucht die Zähigkeit einer Mary Verghese, die in ihrer gelähmten Lebenssituation die Kraft findet, zu entdecken, dass ihr Flügel wachsen.

 

Es braucht das ausdauernde Verweilen am Lebensweg Jesu, um an seinem Weg zu erspüren, dass Gott uns nicht am Schweren vorbeiführt, uns aber durch das Schwere begleitet: "...und Engel dienten ihm".

 

Und es braucht das ausdauernde Verweilen bei meinem eigenen Leben. Es ist gut, wenn ich mein Leben nicht nur mit flüchtigem Blick anschaue, sondern verweilend, ausdauernd, mit der Sehnsucht im Herzen, den verborgenen Gott in meiner Lebenswirklichkeit zu entdecken.

 

Einer, der das mit bewundernswerter Glaubenskraft konnte, war der Schauspieler und Dichter Ernst Ginsberg. 1964 starb er, nachdem eine heimtückische Krankheit seinen Leib mehr und mehr gelähmt hatte. Diese Phase seines Lebens hat er in betenden Gedichten festgehalten, die er am Ende nur noch mit Fingerzeichen diktieren konnte. Er verkörpert für mich eine Haltung, die dazu beiträgt, dass der Menschensohn, wenn er kommt, noch Glauben antreffen kann. Mit einem kurzen Gedicht von ihm und mit den letzten Versen eines seiner Gebete beschließe ich diese Predigt:

 

Augenschein

Zur Nacht hat ein Sturm alle Bäume entlaubt

sieh sie an, die knöchernen Besen.

Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt

es wäre je Sommer gewesen.

 

Und ein größerer Narr, wer träumt und sinnt

es könnte je wieder Sommer werden.

Und grad diese gläubige Narrheit, Kind,

ist die sicherste Wahrheit auf Erden. (1)

Ich falte die Hände, die lahmen, im Geist

und bete ins Dunkel, dass es zerreißt. (2)

 

aus: Ernst Ginsberg, Abschied, Zürich 1965, S. 238 (1), 258 (2)

 

Dieser Predigt liegt eine Vorlage von Heribert Arens zugrunde